Türkentum

Türkentum
Protest gegen den Art. 301 vor einem türkischen Konsulat (vor der Reform vom 30. April 2008)

Die Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates (Türkisch: Türk Milletini, Türkiye Cumhuriyeti Devletini, Devletin kurum ve organlarını aşağılama[1]) ist ein Straftatbestand im türkischen Strafgesetzbuch (Türk Ceza Kanunu, TCK[2]), geregelt in Art. 301, der seit dem 1. Juni 2005 in Kraft ist. Mit der Veröffentlichung des Gesetzes 5759 im Amtsblatt trat die Neufassung des Artikels am 8. Mai 2008 in Kraft.[3]

Inhaltsverzeichnis

Wortlaut und Herkunft

Art. 301 Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates[1]

  1. Die Person, die die türkische Nation, die türkische Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Republik Türkei und die Justizorgane des Staates öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.[1]
  2. Die Person, die die Einrichtungen des Militärs oder der Polizei öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.[1]
  3. Meinungsäußerungen, die der Kritik dienen, sind nicht als Straftat zu werten.[1]
  4. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen dieser Straftat ist von der Ermächtigung des Justizministers abhängig.[1]

Der türkische Ausdruck „aşağılamak“ kann ins Deutsche mit „Verunglimpfung“, „Beleidigung“, „Erniedrigung“ oder „Herabwürdigung“ übersetzt werden.[4]

Der Art. 301 des türkischen StGB geht auf den Art. 159 des alten türkischen Strafgesetzbuches zurück. Das alte türkische Strafrecht wurde 1936 weitgehend vom italienischen „Codice Rocco“ Mussolinis kopiert. Seitdem wurde der Art. 159 siebenmal verändert[5][6]. Insbesondere auch auf Druck der Europäischen Union wurde in den Gesetzesänderungen des dritten und siebten Harmonisierungspakets (vom 3. August 2002) mit der Änderung des Art. 159 (jetziger Absatz 4 von Art. 301) klargestellt, dass nicht eine Meinungsäußerung, sondern nur absichtlich verunglimpfende oder herabsetzende Kritik den Tatbestand der Beleidigung erfüllt.[7] Der Art. 159 letzter Fassung sah für alle Straftatbestände eine dreijährige Haftstrafe vor. Zusätzlich beinhaltete er eine Verfolgungsermächtigung des Justizministers. Bis zur Einführung des Art. 301 im Jahr 2005 konnte die Staatsanwaltschaft ohne Einwilligung des Ministers kein Verfahren eröffnen. Diese Verfolgungsermächtigung wurde 2008 wieder eingeführt. Das Strafmaß wurde gesenkt. Damit sind auch Bewährungsstrafen möglich.

Rechtspraxis

Eine nationalistische „Juristenvereinigung“ (Büyük Hukukcular Birliği) mit dem Vorsitzenden Kemal Kerinçsiz und etwa 700 Mitgliedern[8] hat ab Mai 2005 Strafanzeigen gegen bekannte türkische Akademiker, Journalisten und Intellektuelle erstattet.[9] Der Strafsenat des Kassationshofes definierte am 11. Juli 2006 im Hrant-Dink-Urteil das Türkentum folgendermaßen:

„Türkentum bedeutet die Gesamtheit der nationalen und ideellen Werte, die aus den menschlichen, religiösen und historischen Werten, die die türkische Nation bilden, und aus der nationalen Sprache, den nationalen Gefühlen und Traditionen resultieren.“

Von allen Verfahren nach dem umstrittenen Artikel sind etwa elf Prozent wegen des Delikts der Beleidigung des Türkentums. In den seltensten Fällen kommt es zu einer Verurteilung wegen dieses Straftatbestands. Weitaus mehr Fälle betreffen die Beleidigung der Republik Türkei, der Gerichtsorgane und der Sicherheits- und Polizeikräfte. Zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller gerieten mit dieser Strafvorschrift in Konflikt.[10] Prominente Beispiele aus jüngerer Zeit:

  • Der 2007 ermordete armenische Journalist Hrant Dink, wurde als erster explizit wegen „Beleidigung des Türkentums“ am 8. Oktober 2005 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt für einen Zeitungsartikel vom 13. Februar 2004.[11]
  • Das Verfahren gegen den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wurde am 22. Januar 2006 auf Grund einer fehlenden Verfolgungsermächtigung des türkischen Justizministers eingestellt.
  • Die türkische Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin wurde von der 3. Strafkammer in Istanbul am 14. März 2006 verurteilt für Äußerungen zur türkischen Armee auf einer Podiumsdiskussion in Köln im Jahr 2002.[12]
  • Die Schriftstellerin Elif Şafak wurde im September 2006 vom Vorwurf freigesprochen.
  • Im Mai 2007 wurde der kurdische Politiker Mahmut Alınak wegen Beleidigung des Parlamentes und der Streitkräfte zu 10 Monaten Haft verurteilt.[13]
  • Am 11. Oktober 2007 verurteilte ein Strafgericht in Istanbul Arat Dink, den Bruder des ermordeten Hrant Dink, und Serkis Seropyan zu jeweils einem Jahr Haft wegen Beleidigung des Türkentums.[14][15]
  • Am 20. März 2008 wurde die Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin von einem türkischen Gericht zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.[16]

Laut des türkischsprachigen Nachrichtensenders CNN-Türk wurden innerhalb von 5 Jahren 1481 Prozesse eröffnet, die auf diesem Artikel beruhen.[17] Dem Handelsblatt zufolge steigen die Zahlen der Anklagen, von 835 Anklagen im Jahr 2007 zu bereits 744 im ersten Quartal 2008.[18]

  • 1. Mai 2008: Bericht des Projektes Media Monitoring für die ersten 3 Monate 2008[19] Dem Bericht zufolge gab Justizminister Mehmet Ali Sahin bekannt, dass im Jahre 2006 in 835 Verfahren 1.533 Personen wegen eines Vergehens nach Artikel 301 TSG angeklagt waren. In den ersten drei Monaten des Jahres 2007 seien 744 Verfahren mit 1.189 Angeklagten hinzugekommen.
  • 10. September 2008: Das Justizministerium hat nach der Gesetzesänderung im Mai 2008 in 36 Fällen der Eröffnung eines Verfahrens zugestimmt, in 115 Fällen die Zustimmung verweigert und in 98 Fällen dauerte die Prüfung der Anträge auf Zustimmung noch an.[20]

Gesetzesänderung 2008

Bis zur Gesetzesänderung von 2008 war der Begriff "Türkentum" Bestandteil des Gesetzestextes. Am 7. April 2008 wurde der Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Die Formulierung „Herabwürdigung des Türkentums“ wurde durch „Beleidigung der türkischen Nation“ ersetzt und der Strafrahmen auf höchstens zwei Jahre reduziert. Außerdem sollen Verfahren nach Art. 301 künftig nur noch mit ausdrücklicher Ermächtigung des Justizministers eingeleitet werden. Das türkische Parlament hat am 30. April 2008 der Revision des Gesetzes zugestimmt.[21]

Internationaler Vergleich

Wesentlicher Unterschied zwischen den Straftatbeständen anderer Länder und der Türkei war es, dass im Gegensatz zur heutigen Formulierung „türkische Nation“ der Begriff des „Türkentums“ verwendet wurde. Ein entsprechendes Pendant zu diesem Tatbestandsmerkmal weisen ähnliche Strafgesetze anderer Länder, in denen die Herabwürdigung staatlicher Institutionen mit Strafe bedroht ist, nicht auf. Die vermeintliche Beleidigung des Türkentums bot relativ viel Raum für Anfeindungen und wurde von der türkischen Justiz wiederholt dafür herangezogen, Kritiker aus dem eigenen Land für kritische Anmerkungen über den türkischen Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern zu bestrafen. Der Artikel war damit inhaltlich äußerst vage und offen für Interpretationen: So war beispielsweise ungeklärt, was „Herabwürdigung“ des Türkentums etwa von „Kritik“ an ihm unterscheidet. Aufgrund dessen beschneidet er im internationalen Vergleich die Meinungsfreiheit und wurde u. a. vom Europarat[22], der Europäischen Kommission und auch Amnesty International als ernste Bedrohung der Meinungsfreiheit in der Türkei angesehen.[23][24]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c d e f Große Nationalversammlung der Türkei: Gesetz: 5759 über die Änderung im türkischen Strafgesetzbuch, 30. April 2008, auf türkisch
  2. Türkisches Strafgesetzbuch, türkisch
  3. Siehe einen Artikel auf hukukcu.com
  4. Helmut Oberdiek: Gutachten für VG Magdeburg (7 A 88/06 MD) 9. Mai 2007
  5. The regrettable story of Article 301 TDN, January 25, 2007
  6. vgl. Art. 159 türk. StGB (Fassung 2002) in: Die Ehre im türkischen Strafrecht von Rechtsanwalt Dr. Christian Rumpf, Stuttgart 2003
  7. Demokratisierung à la Turca und die Europäische Union: Eine Inhaltsanalytische Untersuchung der Demokratisierungsdiskurse im türkischen Parlament (1996 – 2003) Prof. Dr. Ahmet Insel und Ahmet Esat Bozyiğit, Galatasaray Universität, Istanbul Dezember 2005
  8. In Turkey, ultra-nationalist lawyer wins supporters as enthusiasm for the EU falls IHT, September 5, 2006
  9. TURKEY: TRIAL FOR “INSULTING TURKISHNESS” STILL HOUNDING CONVERTS Compass Direct News, 17. März 2008
  10. Siehe dazu, Osman Can: Der Schutz der staatlichen Ehre und religiösen Gefühle in der Türkei. In: Otto Depenheuer, İlyas Dogan, Osman Can (Hrsg.): Der Schutz staatlicher Ehre und religiöser Gefühle und die Unabhängigkeit der Justiz. LIT Verlag, Münster 2008, ISBN 978-3-8258-1572-1, S. 33–50.
  11. NZZ Online: Politische Bluttat in der Türkei geklärt, 21. Januar 2007
  12. Urteil vom 14. März 2006
  13. Zu den Hintergründen vgl. Artikel im „derStandard“
  14. FR-Online: Arat Dink in der Türkei verurteilt
  15. Meldung der Hürriyet vom 11. Oktober 2007
  16. Tagesschau: Kritik an türkischer Armee. Sechs Monate Haft für Menschenrechtlerin Keskin, 20. März 2008
  17. Cnnturk.com: 301'den 5 yılda bin 481 dava açıldı, abgerufen am 25. April 2008
  18. Ankara reformiert umstrittenen „Türkentum“-Paragrafen Von Gerd Höhler, HANDELSBLATT, Mittwoch, 9. April 2008
  19. veröffentlicht beim unabhängigen Kommunikationsnetzwerks BIA
  20. Nachricht in Radikal
  21. Ankaras Last mit der Meinungsfreiheit, heute.de, 30. April 2008
  22. derStandard.at:Europarat fordert Reform des „Türkentum“-Paragrafen 26. Januar 2007
  23. faz.net:Elif Şafak hat das Türkentum nicht beleidigt 21. September 2006
  24. taz.de:Ein Sieg für die Meinungsfreiheit 22. September 2006

Weblinks

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