Ungarn zwischen 1957 und 1989

Ungarn zwischen 1957 und 1989

Die Ära Kádár prägte die Ungarische Volksrepublik (bzw. Ungarische Räterepublik) zwischen dem 7. November 1956 und 23. Oktober 1989.

Symbol der ungarischen Kommunisten

Der Begriff Kádárismus bezeichnet den Regierungsstil, in dem János Kádár das Land unter verschiedenen politischen Titeln von 1956 bis zum Mai 1988 de facto leitete.

Inhaltsverzeichnis

Konsolidierung zwischen 1956 und 1963

Nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands, während dessen Mátyás Rákosi sein Amt niederlegte, wurde Kádár von Moskau als politischer Führer Ungarns eingesetzt. Mit grausamer Vergeltung restaurierte er die Institutionen der Diktatur und gründete die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP). So gelang es ihm auch, die sich neu formierenden stalinistischen Gegner im Zaum zu halten.

Die Politik der Vereinten Nationen und Westeuropas war in der sogenannten „ungarischen Frage“ eindeutig. Es sollte keine Rückkehr zur Politik vor 1956 geben und Rákosi, Ernő Gerő und ihre Genossen sollten in Ungarn keinen Einfluss mehr haben. Die Legitimation Kádárs, und damit des Regimes, war an den UNO-Beitritt gebunden. Allerdings verurteilten die Vereinten Nationen das System in ihrer Stellungnahme und die „ungarische Frage“ stand bis zum Kádár-Kompromiss auf der Tagesordnung.

Wie vor dem Volksaufstand war die Staatsschutzbehörde (ÀVH) ausschlaggebend für den Charakter des Systems. Die alte ÀVO (Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya, „Staatsschutzabteilung der Ungarischen Staatspolizei“) wurde nicht neu organisiert obwohl diese Möglichkeit bestanden hätte. Statt dessen wurden die ehemaligen Mitglieder übernommen. Dies war auch die Vorgehensweise im Fall der Polizei.

Im Interesse des Kompromisses mit der UNO erließ Kádár 1956 eine allgemeine Amnestie für die Verurteilten. Es dauerte aber bis zum 15. März 1963, bis etwa 80% der Gefangenen freigelassen wurden. Im Austausch wurde Ungarn international anerkannt und die Delegation und der Empfang von Botschaftern ermöglicht. Das System gestattete mehr private Freiheiten und Karrieremöglichkeiten, die strengen Barrieren politischer Aktivitäten wurden aber beibehalten. Dennoch wurde die „ungarische Frage“ im Austausch für die erweiterten Freiheiten von der Agenda der Vereinten Nationen gestrichen.

Der späte Kádárismus 1963-1979

Kádár bei einer Rede in der Budapester Oper, 1964

Die Parteiführung nahm bis 1963 einen autoritären Stil an und strebte nicht mehr nach totalitärer Diktatur und vollständiger Überwachung. Kádár verkündete „wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“ („aki nincs ellenünk, az velünk van”). Es war nicht mehr verpflichtend, an das System zu glauben, aber oppositionelle Handlungen, egal ob mit Worten oder in anderer Form, waren weiterhin verboten.

Einige Themen waren in der gelenkten Öffentlichkeit Tabu: die Legitimität und die ideologischen Grundlagen des Systems durften nicht in Frage gestellt werden, beispielsweise die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats oder die sowjetische Besatzung. Auch die innerhalb von Fabriken bestehende Arbeitslosigkeit, die weiter existierende Armut, die Bewertung der harten Linie Kádárs 1956, sowie die Person János Kádár selbst waren indiskutabel.

Die meisten Themen konnten jedoch praktisch in der unter Parteieinfluss stehenden Presse von Teilen der Intellektuellen kontrovers diskutiert werden. Andererseits breitete sich die Überwachung durch den Geheimdienst in der Bevölkerung aus und das Netz von Denunzianten wuchs, erreichte jedoch nie Ausmaße wie in der DDR.

Das späte Regime Kádár war von steigendem Lebensstandard gekennzeichnet, beispielsweise war es unter Vorbehalten erlaubt bis zu dreimal im Jahr in den Westen zu reisen, es wurden Unterstützungen für den Wohnungsbau gezahlt sowie die gesundheitliche Versorgung bessert. Die Quelle des Wachstums war die Produktion, die jedoch immer langsamer wuchs. Im Interesse, die Effektivität zu steigern führte die kommunistische Führung 1968 vorsichtige, aber für die damaligen Verhältnisse als mutig zu bewertende Marktreformen ein. Diese leiteten den sogenannten Gulaschkommunismus ein.

Die gegen den Willen Moskaus stattfindenden Reformen stifteten Hoffnung, die sich aber mit der Niederschlagung des Prager Frühlings verflüchtigte. Die Ergebnisse der wirtschaftlichen Reformen mussten zurückgehalten werden, da Kádár die nicht-sowjetisch Art der Problemlösung und die wachsenden Unruhen im Innern nach den Ereignissen in der Tschechoslowakei nicht weiter verfolgen konnte.

Aber auch so breiteten sich kleinbürgerliche Unternehmen im Kreis der Bevölkerung aus. Als der private Konsum legitimisiert wurde, konnten viele Güter wie Kühlschränke, Fernseher oder ein Auto kaufen, in Urlaub fahren und sonstige, den Komfort verbessernde Artikel beanspruchen, was das System erträglicher machte.

Das Land geriet aber immer mehr in wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen. Bis einschließlich 1973 war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe nicht in der Lage, ausreichende Hilfeleistungen zu geben. Obwohl es in Widerspruch zum System stand, begann die Parteiführung ab 1973 regelmäßig westliche, vor allem japanische Kredite aufzunehmen, um den wirtschaftlichen Mangel auszugleichen. Diese Zwiespältigkeit wurde bis zum Zerfall des Kádár-Regimes aufrechterhalten. Westliche Journalisten beschrieben die Atmosphäre dieser Jahre mit dem Ausdruck „die fröhlichste Baracke“ (a legvidámabb barakk).

Der Niedergang des Kádár-Systems 1979-1989

Im Statuenpark nahe Budapest befindet sich eine Sammlung von Statuen aus der Zeit der Ungarischen Volksrepublik

Die Brisanz der wirtschaftlichen Probleme, die Verschuldung und die steigende Abhängigkeit von westlichen Importen erhöhte das Unsicherheitsgefühl der kommunistischen Führung. Eine wichtige Lehre aus dem Volksaufstand von 1956 war es, den Lebensstandard nicht zu senken, auch wenn die wirtschaftliche Basis für diesen Standard nicht vorhanden war.

Im Jahr 1982 war der Staat nahe am Bankrott. Einen Ausweg boten Kredite des Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, was bedeutete, dass Ungarn in die beiden größten kapitalistischen Organisationen eintreten musste. Dementsprechend wurde das Land 1982 Mitglied des IMF und ein Jahr später der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.

Die Regierung blieb weiter der Partei untergeordnet und das Parlament blieb bis zu den ersten freien Wahlen in derselben Formation. Nach 1979 erschien aber die erste oppositionelle Gruppe, und auch innerhalb der Partei begannen erste Reformen. Langsam breitete sich die demokratische Opposition aus. Ihre großen beiden Flügel waren die ländlich orientierten und die städtisch-liberalen Gruppen, was eine traditionelle Konfliktiline in der ungarischen Parteienlandschaft widerspiegelt. Im Jahr 1981 wurde mit dem Beszélő eine oppositionelle Zeitschrift gegründet. Es folgten die Zeitschriften Hírmondó im Jahr 1984, Magyar Demokrata (1986) und Hitel (1989). Ab 1985 ebnete die Politik des neuen sowjetischen Parteisekretärs Gorbatschow den Weg für einen friedlichen Systemwechsel.
Die ungarische Regierung und die Weltbank schlossen am 1. Juli 1988 den ISAL-Vertrag (Ipari szerkezetátalakítási kölcsön, „Darlehen für industrielle Umstrukturierung“), in dessen Rahmen unter anderem gesellschaftspolitische Gesetze akzeptiert wurden. So wurde es möglich, staatliche Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln, natürliche Personen konnten Aktien kaufen und hatten Stimmrechte. Auch die Gründung von Kleinunternehmen wie einer GmbH (Kft.) war möglich. Die Einkommenssteuer wurde umstrukturiert, Subventionen für die Eisenindustrie und Kohlebergwerke sowie Preisunterstützungen für Produzenten und Verbraucher gesenkt.

Im Jahr 1987 wurde in Lakitelek die erste oppositionelle Partei, das Ungarisches Demokratisches Forum (MDF) gegründet. Die Partei wurde vom Regime nicht verfolgt, da so die Verhandlungen am Runden Tisch mit einem legalen Gesprächspartner abgehalten werden konnten. 1988 wurden sogenannte „Fachwohnheime“ (Szakkollégium) gegründet, in denen Studenten politisch aktiv waren. Bekannte Kollegien sind das István Bibó Szakkollégium der ELTE und das László Rajk Szakkollégium an der Corvinus-Universität. Einige ihrer Mitglieder kandidierten für die sogenannten „Intellektuellen der Fachkollegien“ (szakkollégiumi értelmiség), darunter Viktor Orbán, Gábor Fodor, László Urbán und auch einige Dozenten wie István Stumpf. Die meisten sind bis heute im politischen Leben vertreten.

Am 23. Oktober 1989 rief Mátyás Szűrös die Republik Ungarn aus, womit die frühere Staatsform endgültig endete. Dieses Ereignis erlebte Kádár nicht mehr mit. Er starb am 6. Juli 1989.

Das Grab Kádárs

Quellen

  • Tibor Valuch: Hétköznapi élet Kádár János korában. Corvina kiadó, 2006, ISBN 9631354105, ISSN 17874076. 
  • Tibor Valuch: Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében. Osiris kiadó, 2005, ISBN 9633898137, ISSN 1218-9855. 
  • Tibor Valuch: A lódentõl a miniszoknyáig. A XX. század második felének magyarországi öltözködéstörténete. Corvina kiadó zusammen mit '56-os alapítvány („Stiftung 56-er“), 2005, ISBN 963135363X. 
  • Tibor Valuch: Múlt századi hétköznapok. Tanulmányok a Kádár-rendszer kialakulásának idõszakáról. 1956-os Intézet Közalapítvány, 2005, ISBN 9632105087. 
  • Schmidt-Schweizer, Andreas: Der Kádárismus – das „lange Nachspiel“ des ungarischen Volksaufstandes. In: Kipke, Rüdiger (Hrsg.): Ungarn 1956. Zur Geschichte einer gescheiterten Volkserhebung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-531-15290-5, S. 161–187. 

Weblinks

Der Artikel Ära Kádár basiert ursprünglich auf einer Übersetzung von Magyarország 1957–1989 között aus der ungarischen Wikipedia, Version vom 3. Februar 2008, 13:50. Eine Liste der Autoren ist hier verfügbar. Der Inhalt steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation.

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