Vaerting

Vaerting

Maria Johanna Mathilde Vaerting (* 10. Januar 1884 in Messingen; † 6. Mai 1977 in Schönau im Schwarzwald) war eine deutsche Pädagogin und Soziologin; erste Ordinaria für Pädagogik der Universität Jena.

Inhaltsverzeichnis

Biografie und Wirken

Mathilde Vaerting wurde als fünftes von zehn Kindern wohlhabender, katholischer Landwirte in Messingen geboren. Nach einer häuslichen Ausbildung besuchte sie drei Jahre lang eine höhere Mädchenschule in Köln und legte 1903 in Münster die Lehrerinnenprüfung ab. Ab dem 1. April 1903 arbeitete sie als Lehrerin und holte 1907 als Externe in Wetzlar die Reifeprüfung nach.

Von 1907 bis 1911 studierte sie an den Universitäten von Bonn, München, Marburg und Gießen die Fächer Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie. In Münster erfolgte 1910 die Oberlehrerinnenprüfung in Mathematik, Physik und Chemie. Sie wurde am 1. März 1911 in Bonn promoviert. Der Titel ihrer Dissertation bei Professor Adolf Dyroff lautete „Otto Willmanns und Benno Erdmanns Apperceptionsbegriff im Vergleich zu dem von Herbart“. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit vergleicht die Promovendin die verschiedenen Ausprägungen des Apperceptionsbegriffs und prüft seine Eignung für die Erklärung psychischer Prozesse beim Lernen.

Ab 1913 unterrichtete sie als Oberlehrerin in Berlin-Neukölln am Städtischen Oberlyzeum für Mädchen, dem heutigen Albert-Schweitzer-Gymnasium, Mathematik, Physik und Chemie.

Im gleichen Jahr wurde ihre provokative pädagogische Arbeit „Die Vernichtung der Intelligenz durch Gedächtnisarbeit“ veröffentlicht. Darin klagte sie die Schule an, durch Gedächtniszwang die Produktivität und Selbständigkeit der Schüler zu verhindern. Immer wieder stellte sie in ihren Veröffentlichungen die tradierten Lehr- und Lernmethoden in Frage und forderte den Abbau von Herrschaft in schulischen Bezügen und die Gleichberechtigung zwischen den am Lernprozess beteiligten Gruppen.

Einer ihrer weiteren Forschungsschwerpunkte war Lernen und Begabung. Diesbezüglich lehnte sie einen statischen Begabungsbegriff ebenso ab wie die Behauptung geschlechtsspezifischer Begabung. Sie vertrat die Ansicht: Jede Berücksichtigung des Geschlechts bedeutet Verkürzung des Individuums (Vaerting 1921, S. 38). Ferner befasste sich Mathilde Vaerting intensiv mit Fragen zum Geschlechterverhältnis. Sie führte die sichtbaren Unterschiede von Frauen und Männern auf deren geschichtlich bedingte soziale Stellung zurück. Demzufolge definiert die gesellschaftlich vermittelte Geschlechterhierachie das Verhalten von Männern und Frauen und nicht etwa eine angeborene Verschiedenheit der Geschlechter.

Zusätzlich zu Lehrtätigkeit und pädagogischer Forschung bildete sie sich im medizinischen Bereich weiter, indem sie einige Semester Medizin studierte.

Am 1. Oktober 1923 wurde Mathilde Vaerting als nichthabilitierte Akademikerin zum „ordentlichen Professor für Pädagogik“ in Jena ernannt. Nach Margarete von Wrangell war sie in Deutschland die zweite Frau, die einen Lehrstuhl erhielt.

Mathilde Vaertings Berufung durch den sozialdemokratischen thüringischen Volksbildungsminister Max Richard Greil, entgegen der akademischen Freiheit der Universität und gegen den Willen der entsprechenden Fakultäten, hatte zur Folge, dass sie über die gesamte Zeit ihrer Lehrtätigkeit in Jena als „Zwangsprofessorin“ betrachtet wurde, die mit allen Mitteln bekämpft wurde. Einer ihrer schärfsten Widersacher war Ludwig Plate, der 1930 eine Schmähschrift gegen Vaerting mit dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ veröffentlichte.

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und sofort nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 erfolgte in Jena die erste „Säuberung des Lehrkörpers“ durch das nunmehr nationalsozialistisch besetzte Thüringische Volksbildungsministerium. Mathilde Vaerting war eine von 18 politisch und rassisch unliebsamen Professoren, Dozenten und Assistenten, die vom Hochschuldienst ausgeschlossen, zwangspensioniert oder mit anderen Restriktionen belegten wurden.[1]

Folgend zog sich die erste Ordinaria für Pädagogik der Universität Jenas während der NS-Diktatur ins Privatleben zurück. Um zu gewährleisten, dass sie ihre Forschungen nicht fortführen kann und die Verbreitung ihrer Ideen in Deutschland zu unterbinden, erhielt sie von der Regierung zudem Publikationsverbot. Auch durfte sie das Land nicht verlassen, und konnte daher einen Ruf nach Holland beziehungsweise in die USA nicht annehmen. Eine Genehmigung zur Ausübung der Heilkunde wurde ihr ebenfalls nicht erteilt.

Als sich nach 1945 die Pädagogik neu gestaltete, erinnerte man sich nicht an sie. Ihre Bewerbungen an diversen Hochschulen blieben unberücksichtigt. Mathilde Vaerting wandte sich der Staatssoziologie zu und gründete das Institut für Staatssoziologie und war ferner Herausgeberin der Zeitschrift für Staatssoziologie (1953-1971). Ihr Institut und ihre Fachzeitschrift waren seinerzeit die Plattform, von der aus das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zeitgeschehen kritisch kommentiert und analysiert wurden.

In Berlin und Jena wurden Straßen nach ihr benannt.

Publikationen (Auswahl)

  • Otto Williams und Benno Erdmanns Apperceptionsbegriff im Vergleich zu dem von Herbart, Bonn 1911*
  • Die Vernichtung der Intelligenz durch Gedächtnisarbeit, München 1913
  • Neue Wege im mathematischen Unterricht, zugleich eine Anleitung zur Förderung und Auslese mathematischer und technischer Begabungen, Berlin 1921
  • Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Frau. Bd. 1: Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche Eigenart im Frauenstaat. Bd. 2: Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie, Karlsruhe 1921 u. 1923
  • Die Macht der Massen, Berlin 1928
  • Die Macht der Massen in der Erziehung, Berlin 1929
  • Lehrer und Schüler. Ihr gegenseitiges Verhalten als Grundlage der Charaktererziehung, Leipzig 1931


Quellen

  1. Uwe Hoßfeld, Rassenkunde und Rassenhygiene im „Mustergau“, 1930-1945. in Blätter zur Landeskunde – Nr. 41, 2004, Thüringer Landeszentrale für Politische Bildung Erfurt, S. 2f

Literatur (Auswahl)

  • Erziehung zum Mitmenschen. Das Erziehungswerk Mathilde Vaertings, von Hanna Meuter, Berlin 1932
  • Ein Streit um die akademische Gelehrsamkeit: Die Berufung Mathilde Vaertings im politischen Konfliktfeld der Weimarer Republik, on Theresa Wobbe, Berlin 1991
  • Tatort: Biographie Spuren. Zugänge. Orte. Ereignisse, von Imbke Behnken und Theodor Schulze, Leske + Budrich Verlag, Opladen 1997
  • Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1991, von Carsten Klingemann, Michael Neumann und Karl-Siegbert Rehberg, Leske + Budrich Verlag, Juni 1997

Weblinks


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