Vergessenheit

Vergessenheit

Das Vergessen ist eine wichtige Funktion des Gedächtnisses. Von Vergessen kann erst gesprochen werden, wenn Informationen, die bereits im Langzeitgedächtnis nachgewiesen werden konnten, zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr abrufbar sind.[1]

Inhaltsverzeichnis

Untersuchungen zum Vergessen

Hermann Ebbinghaus musste 1885 in einem Selbstversuch, bei dem er sinnlose Silben wie "ZOF" oder "WUB" zu lernen versuchte, feststellen, dass er bereits nach ca. 20 Minuten etwa 40% des Gelernten vergessen hatte, nach einer Stunde 45% und nach einem Tag 66%. Aus diesen Versuchen leitete er die Vergessenskurve ab.

Marigold Linton führte ebenfalls einen Selbstversuch durch. Sie führte sechs Jahre lang ein detailliertes Tagebuch, in dem sie wichtige persönliche Ereignisse mit Zusatzinformationen protokollierte. Jeden Monat überprüfte sie ihre Erinnerungen anhand von etwa 150 Aufzeichnungen. Nach einem Jahr waren im Durchschnitt 1% der notierten Einzelheiten vergessen, nach zwei Jahren waren es zusätzlich 5,1%, nach vier Jahren 4,2% und nach 5 Jahren weitere 5,5%. Am Ende konnte sie sich an etwa 31,4% der Ereignisse erinnern. Da Linton sich sehr intensiv mit ihrem Gedächtnis auseinandergesetzt hat, ist davon auszugehen, dass die Gedächtnisleistung unter normalen Alltagsbedingungen schlechter ausfallen sollte.[1]

Es ist von vielen Faktoren abhängig, wie lange etwas im Gedächtnis verbleibt. So werden sinnlose und unzusammenhängende Informationen wie Ebbinghaus' Silben schneller vergessen als zusammenhängende und geordnete. Informationen mit emotionaler Färbung und Selbstbezug verbleiben ebenfalls sehr lange im Gedächtnis.

Nach dem Ribot'schen Gesetz, das von Théodule Ribot 1882 formuliert wurde und das man mit first in, last out umschreiben kann, bleiben früh gelernte Inhalte länger im Gedächtnis erhalten als später hinzugekommene.[2]

Theorien des Vergessens

Die wichtigsten Vergessenstheorien sind die

Spurenverfallstheorie

Im alltäglichen Denken ist die Vorstellung tief verwurzelt, dass Zeit etwas bewirken kann, so auch die Annahme, dass Gedächtnisinhalte, wie Spuren im Sand, mit der Zeit verblassen oder verschwinden.

Doch Zeit kann als solche nichts verursachen. Wie bei den Spuren im Sand, die vom Wind oder Wasser zerstört werden, ist anzunehmen, dass es auch bestimmte Kräfte oder Einflüsse geben muss, die auf das Gedächtnis einwirken.

Bisher sind keine physikalischen oder chemischen Prozesse bekannt, die die Gedächtnisspanne des sensorischen Registers oder des Kurzzeitgedächtnises beeinflussen.

Im Langzeitgedächtnis können solche Prozesse dagegen beschrieben werden.[1] Man geht davon aus, dass die Stärke der synaptischen Verbindungen mit der Stärke eines Engramms (Gedächtnisspur) korrespondiert. Je stärker also die Verbindungen zwischen Nervenzellen sind, desto überdauernder und leichter verfügbar ist eine Gedächtnisinformation. Die Grundlage für solche Veränderungen auf Zellebene bilden die Langzeit-Potenzierung und die Langzeit-Depression.[3]

Interferenztheorie

Bei Gedächtnisexperimenten mit sinnlosen Silben fiel auf, dass die Gedächtnisleistung der Probanden umso mehr abnahm, je mehr Listen sie im Vorfeld gelernt hatten. Offenbar wirkte früheres Lernen beeinträchtigend auf späteres. Eine solche Interferenz (Störung) wird als proaktive Hemmung bezeichnet. Eine rückwärts gerichtete Interferenz heißt dagegen retroaktive Hemmung und beschreibt die Beeinträchtigung der Erinnerung an frühere Informationen durch neuere.

Solche Beeinträchtigungen treten vorwiegend bei Lerninhalten auf, die sich sehr ähneln.[1]

Fehlen geeigneter Abrufreize

Einige Gedächtnisforscher sind der Auffassung, dass aus dem Langzeitgedächtnis nichts verloren geht und Vergessen statt dessen nichts anderes ist als ein Misslingen des Abrufs von Inhalten aus dem Speicher.

Das Erlebnis des Auf-der-Zunge-Liegens von Informationen, die vorübergehend unzugänglich sind, haben Menschen im Durchschnitt einmal in der Woche und mit zunehmendem Alter häufiger. Eine mögliche Erklärung sind Bedingungen während des Erlernens. Grundsätzlich gelingt das Erinnern besser, wenn die Reize, die beim Lernen vorhanden waren, auch beim Abruf vorliegen.[1].

Weitere Theorien

  • Spurenveränderungstheorie: Beim Abspeichern werden bereits Dinge verändert, wir sehen z.B. ein Bild mit übereinander liegenden Strichen und speichern dies als Stern, nicht als exakt das, was wir sehen (einzelne Striche).
  • Motiviertes Vergessen / Gezieltes Vergessen: bewusstes oder unbewusstes Verdrängen
  • Versagen der retrivale-Prozesse: Das Wiederauffinden des Speicherweges versagt. Es liegt uns etwas auf der Zunge, wir kommen aber nicht darauf.
  • Theorie des autonomen Verfalls (Decay Theory)


Peters-Prinzip: Vergessen geschieht selektiv. Ereignisse werden in Abhängigkeit von ihrem emotionalen Gehalt vergessen. Dinge, die uns gleichgültig sind, werden schneller vergessen als solche, die starke Emotionen hervorrufen. Darunter halten wiederum positive Emotionen die Dinge länger im Gedächtnis als gleichstarke negative. Die alten Zeiten waren deshalb die guten Zeiten, weil selektiv die neutralen und negativen Dinge zu Gunsten der positiven vergessen werden.

Plötzlicher Einfall: In verschiedenen Theorien kommt dem Vergessen eine wichtige Funktion bei der Informationsverarbeitung zu. So führt Vergessen in der Regel zu einer Strukturierung der Gedächtnisinhalte, d. h. bedeutsame Dinge werden prägnanter. Vor diesem Hintergrund erklärt Roy Dreistadt den plötzlichen Einfall.

Vergessen aufgrund von Krankheiten oder Trauma

Auch kann das Vergessen durch krankhafte Veränderungen des Gehirns verursacht werden. Häufig spricht man in diesen Fällen von Demenz. Ein bekanntes Beispiel für eine Demenzerkrankung ist die Alzheimersche Krankheit. Der Verlauf ist meistens schleichend und tritt mit zunehmendem Alter auf.

Bei einem plötzlichen Gedächnisverlust durch Schock oder Unfall spricht man von einer Amnesie, so können z. B. mehrere Jahrzehnte des Lebens „verloren gehen“.

Siehe auch

Literatur

  • Hinderk M. Emrich, Gary Smith (Hg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin, Akademie-Verlag 1996 ISBN 3-05-002527-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Mietzel, G. (1998). Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens Hogrefe. S.241ff.
  2. Pritzel, M., Brand, M. und Markowitsch, H.J.: Gehirn und Verhalten. Ein Grundkurs der physiologischen Psychologie. Heidelberg (Spektrum) 2003; S. 413
  3. M. Pritzel, M. Brand, H. J. Markowitsch: Gehirn und Verhalten. Ein Grundkurs der physiologischen Psychologie. Heidelberg, Spektrum 2003, S. 427

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