Vertriebene

Vertriebene
Vertreibung 1945 aus Schlesien

Der Begriff Vertreibung stellt einen Oberbegriff für staatliche Maßnahmen gegenüber einer ethnischen, religiösen, sozialen oder politischen Gruppe dar, die sie zum Verlassen der Herkunftsregion zwingen.

Inhaltsverzeichnis

Definitionen

  • Vertreibung beinhaltet erzwungenes Verlassen aufgrund von Verfolgung und Diskriminierung, erzwungene Flucht aufgrund von Androhung von Gewalt oder Androhung der Ausweisung.
  • Deportation ist die staatliche Verbringung von Menschen in andere Gebiete, die auf Grund regionaler Gesetze für den Antritt von Strafmaßnahmen, zwangsweiser Unterdrückung von politischen Gegnern oder Isolierung von ethnischen Minderheiten ausgesprochen wurde.
  • Ein Sonderfall ist die staatlich erzwungene Umsiedlung von einem Gebiet in ein anderes zum Zweck der Sesshaftmachung.
  • Ausweisung ist ein Verwaltungsakt, der das Ziel hat, die Anwesenheit des Betroffenen zu beenden und ihm die Wiedereinreise und eine (weitere) Aufenthaltserlaubnis zu verwehren.
  • Abschiebung ist der behördliche Vollzug einer in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellten Ausreisepflicht (Ausweisung).

Flüchtlinge (vgl. Flucht) verlassen ihre Heimat nicht auf behördliche Anordnung, sondern um einer drohenden existenziellen Gefahr zu entgehen. Im Unterschied zu Vertriebenen werden sie nicht unmittelbar zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Falls Flüchtlingen oder Ausgewiesenen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wird, unterscheidet sich ihre Lage nicht mehr von der Lage von Vertriebenen. Deshalb werden sie in diesem Falle ebenfalls als Vertriebene bezeichnet.

In Deutschland dagegen ist der Begriff bis heute im Alltagsverständnis eingeschränkt auf Flucht, Ausweisung und Zwangsumsiedlung von Deutschen aus den im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und hauptsächlich alliierter Übereinkunft größtenteils an Polen gefallenen vormaligen deutschen Ostgebieten, aus einem Teil des heutigen Tschechien (Sudetenland) und aus osteuropäischen Staaten. Bis in die 1980er-Jahre hatte diese Verengung allgemeine Gültigkeit. Seitdem hat auch in Deutschland eine Debatte begonnen, die die Vertreibung von Deutschen seit 1944/45 in den unmittelbaren Kontext mit den Vertreibungen von jüdischen Deutschen und zahlreichen nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen durch Deutsche bis 1944/1945 stellt.

„Vertreibung“ ist weder juristisch noch historisch klar und unmissverständlich definiert, es ist vielmehr ein Terminus der politischen Sprache. Mit der Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts hat sich bei Juristen und Historikern der Begriff der ethnischen Säuberung eingebürgert, der nicht identisch mit „Vertreibung“ ist:

  • Ethnische Säuberung impliziert, dass durch Entfernung einer Bevölkerungsgruppe ein homogenes Siedlungsgebiet einer anderen Bevölkerungsgruppe geschaffen werden soll. Das ist schon gleichermaßen mittels Vertreibung wie mittels Genozid durchgeführt worden.
  • Vertreibung hat in Imperien auch immer wieder dem entgegengesetzten Zweck gedient, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu mischen um dadurch separatistischen Aktivitäten vorzubeugen. Beispiele für Umsiedlungen zum Zweck der stärkeren Vermischung gibt es von Caesar über Karl den Großen bis zu Josef Stalin.

Milde Formen ethnischer Säuberung, das heißt nicht mit physischer Gewalt sondern mit juristischem Druck, können sogar mit Billigung der internationalen Öffentlichkeit stattfinden, um die Auswirkungen einer früheren erzwungenen Mischung zu revidieren. Ein Beispiel ist die Minderheitengesetzgebung der Baltischen Republiken, die vor allem russische Zuwanderer aus der sowjetischen Zeit betrifft.

Vertreibungen werden aus dem Blickwinkel des Vertreiberlandes und anderer, nicht betroffener Länder oft als gerechtfertigt angesehen, weil sie Reaktion auf widerfahrenes Unrecht seien. Möglich werden sie zum Beispiel durch die faktische Machtsituation nach einem verlorenen Krieg. Jedoch ist zu beachten, dass auch dem Vertreiberland zuvor widerfahrenes Unrecht es nicht rechtfertigt, wenn dieses Land seinerseits Unrecht begeht. Vertreibungen werden in den verantwortlichen Ländern häufig legalisiert, davon ist die moralische Berechtigung, die in aller Regel nicht gegeben sein wird, zu unterscheiden.

Vertreibungen bis 1923

  • Vertreibung und Völkermord an indigenen Völkern während der Besiedlung Amerikas und Australiens und danach, teilweise bis in die jüngere Gegenwart. Viele Indianervölker wurden dauerhaft in Reservate deportiert.

Zu den bekanntesten Vertreibungen zählen:

  • Karl der Große:
    • Umsiedlung von Friesen ins Binnenland zu deren besserer Kontrolle
    • Vertreibung der Sachsen aus Ostholstein, als er dieses den bei der Unterwerfung der Sachsen verbündeten slawischen Wagriern überließ.
  • Friedrich I., genannt „Barbarossa“:
    • 1162 Vertreibung der Einwohner Mailands aus ihrer Stadt, die sie lange Jahre nicht betreten und wieder aufbauen durften.
  • Österreich:
    • 16. Jahrhundert: Tötung und Vertreibung tausender Hutterer (Anhänger von Jakob Hutter) sowie weiterer Täufer und Protestanten.
    • 1540 wurden ungefähr achtzig männliche Hutterer, die ihrem Glauben und gemeinschaftlichen Leben abzusagen nicht bereit waren, in ihrer Siedlung bei Steinabrunn in Niederösterreich verhaftet, später gefoltert und getrennt von ihren Familien lebenslänglich als Rudersklaven auf den kaiserlichen Galeeren verurteilt. „Der von Jesuiten erzogene Kaiser Ferdinand II. (1619–1637) erklärt, lieber über eine Wüste als über ein ketzerisches Land herrschen zu wollen.“ Erst Kaiser Joseph II. gewährte durch das Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781 den Vertretern des Augsburger und Helvetischen Bekenntnisses (Lutheranern und Reformierten) sowie den nichtunierten Griechen ohne Rücksicht auf den bisherigen Rechtsstand ein ihrer Religion gemäßes Privatexercitium und gewisse bürgerliche Rechte, die auf beschränkte bürgerliche Gleichberechtigung mit den Katholiken hinausliefen und somit vor Vertreibung schützte. Trotz des 1781 durch den römisch-deutschen Kaiser erlassenen Toleranzpatentes für die Evangelischen wurden beispielsweise 1834 noch 440 Zillertaler aus Tirol ausgewiesen.
  • Schottland: Seit etwa 1780 wurden während der Highland Clearances etwa 500.000 Ureinwohner aus dem schottischen Hochland vertrieben, in manchen Gegenden über 90 % der Bevölkerung. Die vordergründig wirtschaftlich begründete Maßnahme (lukrative extensive Schafzucht) erfüllte auch einen politischen Zweck, da die Highländer an mehreren Aufständen gegen die englische Krone teilgenommen hatten.
  • Afrika: Bereits vor der europäischen Kolonialherrschaft, die überwiegend im 19. Jahrhundert begann, haben sich Völker in Afrika gegenseitig bekriegt, wobei es auch zu Vertreibungen kam; dies setzte sich während und nach der Kolonialzeit fort, so zum Beispiel in Ruanda in den 1990er-Jahren.
  • Folgen des Ersten Weltkriegs:[1]
    • Türkei: Vertreibung und Völkermord an zahlreichen Armenier 1915. Den Armenier wurde Untreue zum Osmanischen Reich vorgeworfen. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden ermordet und vertrieben.
    • Polen: Vertreibung Deutscher aus den gemäß Versailler Vertrag polnisch gewordenen gemischten Siedlungsgebieten. Diese Vertreibung dauerte von 1918/19 bis 1939 und betraf rund 1,5 Millionen Deutsche aus Ostoberschlesien, Westpreußen beziehungsweise dem Polnischen Korridor, der ehemaligen Provinz Posen und weiteren Teilen Polens.
    • Elsaß-Lothringen: Vertreibung von ca. 132.000 Deutschen; die Franzosen führten ein Klassifizierungs-System ein. Nach 1871 zugezogene Deutsche (niedrigste von vier Stufen) wurden grundsätzlich vertrieben. Etwa 200.000 Personen mussten den Rhein überqueren und ins angrenzende Rheinland. Etwa die Hälfte davon konnte in den folgenden Monaten wieder nach Elsaß-Lothringen zurückkehren, nachdem US-Präsident Woodrow Wilson auf die Regierung in Paris Druck ausgeübt hatte.
    • Memelland: Vertreibung von ca. 16.000 Deutschen nach 1923
    • Nordschleswig: Abwanderung und Ausweisungen von ca. 12.000 Deutschen seit 1920
    • Saargebiet: Abwanderung von ca. 37.000 Deutschen
    • Griechenland und Türkei: Vertreibung der gegenseitigen Minderheiten als Folge des Ersten Weltkrieges und des Griechisch-Türkischen Krieges. Beginnend 1920 wurden mehrere Hunderttausend Menschen umgesiedelt und größtenteils vertrieben, davon ungefähr dreimal so viele Griechen wie Türken. Die Vertreibungen wurden von zahlreichen Massakern begleitet. Es handelte sich um den ersten umfangreichen zwischen zwei Staaten abgemachten Bevölkerungsaustausch in der Weltgeschichte. Er war Bestandteil des Vertrags von Lausanne.

Vertreibungen seit den 1930er-Jahren

1939 durch das nationalsozialistische Deutschland aus ihrer Heimat vertriebene Polen auf der Flucht – mit sehr wenig Gepäck

In Deutschland wird unter „Vertreibung“ häufig vordergründig die Vertreibung von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden.

In dem Zusammenhang ist die nationalsozialistischen Rassen-, Großraum-, Siedlungs- und Bevölkerungspolitik und die Annexions- und Umsiedlungsprojekte im Vorfeld und während des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion einzubeziehen. Zu nennen sind:

  • die Vertreibung des überwiegenden Teils der deutschen Juden durch immer weitergehende Formen der Entrechtung und Verfolgung seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bis zur „Endlösung der Judenfrage“ ab 1941.
  • die Deportationen unter sowjetischer Herrschaft, unter anderem im Baltikum 1940 und die Auflösung der Wolgarepublik der deutschen Minderheit als ein ethnischer Risikoträger und die Aussiedlung ihrer Bewohner nach Kasachstan und in andere Teile der Sowjetunion nach dem deutschen Angriff 1941
  • die deutsche Zwangsbesiedlung von zuvor ganz oder teilweise polnischen Gebieten im Zweiten Weltkrieg („Warthegau“) und die vorangegangene Vertreibung von rund 650.000 Polen 1941 aus ihrer westpreußischen Heimat in das so genannte Generalgouvernement. Eine weitere Vertreibungsaktion betraf 110.000 Polen im Raum der südostpolnischen Stadt Zamość, dt. Zamosch, die Aktion Zamosc. (Beide Zahlen stammen aus offizieller polnischer Quelle von 2004.) In beiden Regionen wurden Deutsche aus Osteuropa angesiedelt. Der Generalplan Ost, dessen Grundlage, war das im Laufe der Jahre 1941 und 1942 vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der SS ausgearbeitete Vorhaben, nach der Vernichtung der europäischen Juden weitere von den Nationalsozialisten als „minderwertig“ bezeichnete Rassen (vor allem slawische Völker) langsam nach Ostrussland und Sibirien zu vertreiben. Voraussetzung war der Sieg gegen die Sowjetunion. Der Internationale Militärgerichtshof („Nürnberger Kriegsverbrechertribunal“) hat diese Vertreibungen im Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS 1948 eindeutig als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet und geahndet. Auch die Neuansiedlungen wurden dort als Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung bestraft (vgl. Vertreibung und Völkerrecht).
  • die durch Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte Umsiedlung der Südtiroler, die so genannte Option. Dabei wurden die Südtiroler gezwungen, zwischen der Aufgabe ihrer Heimat und der Aufgabe ihrer deutschen Sprache und Kultur zu wählen. Wer sein Volkstum behalten wollte, musste Südtirol verlassen. Unter dem Eindruck der intensiven Propaganda der beiden Diktatoren entschieden sich gut 83 Prozent für das Verlassen der Heimat. Nur ein weit kleinerer Teil musste Südtirol dann tatsächlich verlassen, fast alle konnten wieder zurückkehren.
  • die durch Hitler und Stalin 1939 vereinbarte Aussiedlung von Deutschen aus Gebieten unter sowjetischer Herrschaft, insbesondere aus Estland und Lettland, sowie dem Balkan; die meisten von ihnen wurden in polnischen Gebieten (südliches Westpreußen, Posener Land („Warthegau“), vereinzelt auch in anderen Teilen Polens) angesiedelt.
  • die Vertreibungen in Finnland/Karelien. Anfang der 1940er-Jahre wurden die finnischen Karelier gleich zweimal vertrieben. Erstmals nach der Niederlage Finnlands im sowjetisch-finnischen Winterkrieg, dann – nach ihrer Rückkehr 1941 – erneut 1944 mit der Wiedereroberung Kareliens durch die Sowjetunion. Die Vertreibung der Karelier wurde auch nicht symbolisch wiedergutgemacht; Karelien ist bis heute zwischen Russland und Finnland aufgeteilt.
  • die Erzwungene Umsiedlung von Völkern in der Sowjetunion, die als politisch unzuverlässig angesehen wurden, durch Stalins Regierung vor allem in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre. Hierzu gehört die Deportation der Wolgadeutschen, Tschetschenen, Inguschen, Krimtataren, Ingermanländer Finnen, Mescheten, Koreaner (Koryo-saram), Pontos-Griechen, Kurden sowie vieler Esten, Letten, Litauer und Ukrainer. Alle diese Völker wurden innerhalb des sowjetischen Machtbereichs deportiert. Den Krimtataren gelang Ende der 1980er-Jahre die Rehabilitierung, ein großer Teil ist auf die Krim zurückgekehrt. Die polnische Volksgruppe in Litauen, im westlichen Weißrussland und in der Westukraine (in der deutschen Literatur oft ungenau als „Ostpolen“ bezeichnet) wurde teilweise nach Osten (Zentralasien) deportiert, teilweise 1945/46 nach Westen (Polen) vertrieben, teilweise konnte sie auch in ihrer Heimat verbleiben. Die Wolgadeutschen siedelten zum größten Teil von ihren zugewiesenen Wohnorten in Sibirien und Zentralasien seit den 1980er-Jahren als Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler nach Deutschland aus.

Flucht und Vertreibung von Deutschen 1944 bis 1948

Hauptartikel: Heimatvertriebene

Odsun: Vertriebene Sudetendeutsche warten mit Handgepäck auf ihren Abtransport
Flüchtlinge aus dem Osten 1945 in Berlin

Der Flucht und der Vertreibung von Deutschen aus den Ländern östlich von Oder und Lausitzer Neiße ging die Massendeportation und die Ermordung von Juden, Polen und Russen in den im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht eroberten Gebieten voraus. Millionen von Menschen wurden zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich verbracht. Volksdeutsche aus Südtirol und Russlanddeutsche wurden in den eroberten Gebieten im Osten der Reichsgrenze neu angesiedelt und sollten dort neue „deutsche Siedlungsinseln“ bilden.

Bereits ab Sommer 1941 forderten die polnische und tschechoslowakische Exilregierung in London Grenzkorrekturen nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Dies sollte ausdrücklich die Entfernung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten wie auch aus dem restlichen Staatsgebiet einschließen. Die Motive für diese Forderung waren vielfältig: Außer Macht- und Besitzstreben sollten die geforderten Gebiete eine Entschädigung für die Verluste an Gütern und Menschen während der Besatzungszeit bieten, wie es vor allem die polnische Exilregierung in London forderte, im Hinblick auf die Verbrechen der Nationalsozialisten im Generalgouvernement. Zum anderen zielte insbesondere die Sowjetunion auf eine Verkürzung ihrer Westgrenze, um sie – im Falle einer neuerlichen Angriffs – leichter gegen das nationalsozialistische Deutschland verteidigen zu können. Neben diesem militärstrategischen Argument konnte die Sowjetunion darauf hoffen, mit der Vertreibung und Enteignung von Millionen Deutschen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei dauerhaft als Garantiemacht eines neuen Status quo auftreten zu können. Mit diesem Kalkül hatten das zaristische Russland und später die Sowjetunion bereits im Nordkaukasus Vertreibungen als Mittel der Politik angewandt.

Die geforderte Vertreibung der Deutschen wurde mit ihrem Verhalten während der Besatzung begründet und mit dem Prinzip des ethnisch reinen Nationalstaates. Hinzu kamen, insbesondere in Polen, sozioökonomische Ziele. Weite Gebiete Ostmitteleuropas galten damals als überbevölkert. Die Verdrängung der Deutschen und (im Falle Polens) die Expansion nach Westen und Norden sollte auch dazu dienen, „überschüssige“ Menschen ansiedeln zu können.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 setzte die Sowjetunion die Abtrennung der bereits 1939 bis 1941 sowjetisch besetzten polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion durch, die ihrerseits im Ergebnis des polnisch-sowjetischen Krieges 1920–1921 von Polen annektiert worden waren. Mit dem Polnisch-Sowjetischen Geheimvertrag vom 27. Juli 1944 hatte die sowjetische Regierung anerkannt, dass „die Grenze zwischen Polen und Deutschland auf einer Linie westlich von Swinemünde zur Oder, wobei Stettin auf polnischer Seite bleibt, weiter den Lauf der Oder aufwärts zur Mündung der Neiße und von hier an der Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze festgelegt werden soll“; auch der zweite Grenzvertrag vom 16. August 1945 mit der Regierung der nationalen Einheit enthielt diese Festlegung. Eine verbreitete Annahme lautet, die Übergabe der Ostgebiete des Deutschen Reiches an Polen sei von Anfang an als ein Ausgleich für den Verlust im Osten gedacht gewesen. Doch diese Erklärung wurde erst später Teil der sowjetischen Begründung. Die polnischen Ostgebiete waren – ähnlich beachtlicher Teile der deutschen Ostgebiete, jedoch mit geringerem Anteil des Staatsvolkes – ethnisch heterogen, wobei in den Großstädten wie Lwów (Lemberg) und Wilna (Vilnius) die Polen dominierten, auf dem Land außer in der Gegend um Wilna Weißrussen, Ukrainer oder Litauer. Polen, Weißrussen und Ukrainer stellten die größten Volksgruppen, wobei um Wilna die Polen, zwischen Njemen (Memel) und Pripjet die Weißrussen, südlich des Pripjet die Ukrainer die Mehrheit stellten. [2]

Tatsächlich forderten seit 1939 nicht nur die polnischen Kommunisten erhebliche deutsche Gebiete ohne ihre angestammte Bevölkerung, sondern auch die bürgerlich-polnische Exilregierung in London, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang (es ging um Teile Ostpreußens und Schlesiens). Die Forderung einer Oder-Neiße-Linie gab es allerdings nicht. Im Nachhinein wurde versucht, die Annexionen damit zu rechtfertigen, dass diese Gebiete tatsächlich Jahrhunderte zuvor überwiegend slawisch besiedelt waren und zeitweise unter polnischer Hoheit gestanden hatten, weshalb sie auch als „wiedergewonnene Gebiete“ bezeichnet werden.

Auf der Potsdamer Konferenz 1945 wurden die neuen Staatsgrenzen in Ost- und Mitteleuropa von den Alliierten der Form nach erst vorläufig festgeschrieben, als die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße polnischer und sowjetischer „Verwaltung“ unterstellt wurden. Von einer „endgültigen Übergabe“ – an die Sowjetunion – „vorbehaltlich der endgültigen Bestimmung der territorialen Fragen bei der Friedensregelung“ ist explizit nur für die „(Abschnitt VI.) Stadt Königsberg und das anliegende Gebiet“ die Rede. Laut Protokoll erklärten die Regierungen der USA und Großbritanniens, bei einer kommenden Friedenskonferenz den sowjetischen Anspruch auf das Gebiet um Königsberg (nördliches Ostpreußen) unterstützen zu wollen, während eine derartige Erklärung zugunsten Polens nicht dokumentiert ist.
In Abschnitt IX.b (Polen) wird bestimmt, dass „die früher deutschen Gebiete […], einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken […] gestellt wird und einschließlich des Gebietes der früheren Freien Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen“, wobei „die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll“.
Bereits einige Wochen zuvor hatte die Sowjetunion die Verwaltungshoheit dieser Gebiete an Polen übertragen.
Sie sind in der „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin“ deutlich von den vier Besatzungszonen unterschieden, die in Abschnitt III. als „ganz Deutschland“ bezeichnet werden, das (III.B.14.) „als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten“ sei. III.A.2.: „Soweit dieses praktisch durchführbar ist, muß die Behandlung der deutschen Bevölkerung in ganz Deutschland gleich sein.“ Dazu gehört auch in Abschnitt „XIII. Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile“, dass die „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind“, vorübergehend unterbrochen werden soll und „der alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll“.

Die Knappheit der Formulierungen wurde ab dem Frühjahr 1946 zu der Behauptung genutzt, die Abtrennung sei nicht endgültig gemeint gewesen, da die Regelung von Gebietsfragen, wie der „final delimitation of the western frontier of Poland“ einer Friedensregelung vorbehalten wurde[3]. Versuchen der Sowjetunion, die Potsdamer Beschlüsse insoweit als endgültige Entscheidung zu werten, sind die Vereinigten Staaten entgegengetreten[4], und die bereits laufende Vertreibung nicht durch das Abkommen akzeptiert worden. Die Umsiedlungen sollten in einer „humanen Art“ geschehen; tatsächlich führte die internationale Kontrolle dazu, dass die Zwangsaussiedlung ab Anfang 1946 in wesentlich geordneterer Form vor sich ging als in den Wochen und Monaten vor der Konferenz. Dennoch kam es auch danach noch zu zahlreichen Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und sehr vielen Todesfällen in den Internierungslagern und Gefängnissen.

Bei den Vertreibungsgebieten handelte es sich um:

  • an Polen durch die Alliierten zuerkannte Teile des Deutschen Reiches wie (das südliche) Ostpreußen, Danzig-Westpreußen, Pommern und die Neumark Brandenburg sowie Schlesien;
  • den nördlichen Teil Ostpreußens, von Stalin der russischen Teilrepublik angegliedert;
  • das zwischen Deutschland und Litauen lange umstrittene Memelland;
  • Gebiete, die seit 1919 dem Deutschen Reich abgesprochen wurden, in denen aber nach wie vor viele Deutsche lebten (beispielsweise Westpreußen und das östliche Oberschlesien);
  • weitere deutsche Siedlungsgebiete in den baltischen Staaten (bereits 1939/40 mit der Sowjetunion vertraglich vereinbart);
  • das Sudetenland sowie Südböhmen und Südmähren, also die nördlichen, südlichen und westlichen Randgebiete der Tschechoslowakei;
  • Prag und die deutschen Sprachinseln in Zentral-Böhmen und -Mähren;
  • Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, neben einer weitläufigen Streubesiedlung vor allem die von deutschstämmigen Staatsangehörigen besiedelte „Wolga-Republik“ (Vertreibung 1941 nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion);
  • mehrere Regionen in Südosteuropa, vor allem in Ungarn, Rumänien (Siebenbürgen, Banat), Kroatien (Slawonien), Serbien (Wojwodina) und Slowenien (Maribor (Marburg a.d. Drau), Ljubljana (Laibach), Cilli, Gottschee, siehe auch Jugoslawien).

Etwa 14 Millionen Deutsche und deutschstämmige Angehörige verschiedener Staaten zwischen 1944/45 und 1950 waren von Flucht und Vertreibung betroffen.[5] Demnach wurden mehrere hunderttausend Menschen in Lagern inhaftiert oder mussten – teilweise jahrelang – Zwangsarbeit leisten. Man ging unter dem Einfluss der Vertriebenenverbände und nicht zuletzt, um Rückgabeansprüche besser begründen zu können, lange von rund 2,1 Millionen Todesfällen aus. Dabei wurden alle unaufgeklärten Fälle als Todesfälle und alle Todesfälle als vertreibungsbedingt gedeutet. Da die Grundlage die rechnerische Differenz zwischen den statistischen Angaben von 1939 und Angaben von 1948 bildete, enthielt diese Differenz auch die in den Vernichtungslagern getöteten ostdeutschen Juden.[6] Realistische Schätzungen sprechen heute von bis zu 600.000 Todesopfern.[7] Eine große Zahl von Frauen aller Altersgruppen wurde vergewaltigt, es gab etwa 240.000 Todesopfer in Folge von Vergewaltigungen. [8] Das gesamte private Eigentum der Ost- und Sudetendeutschen wurde entschädigungslos konfisziert, auch das öffentliche und kirchliche deutsche Eigentum in diesen Gebieten wurde enteignet. Zu den 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen kamen vor allem ab Ende der 1950er-Jahre über vier Millionen deutsche oder deutschstämmige Aussiedler.

Etwa 12 Millionen Ost- und Sudetendeutsche wurden bis 1950 in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich aufgenommen. Sowohl im Westen als auch im Osten verlangte dies von allen Beteiligten in den 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahren eine große Integrationsleistung. Durch die Bevölkerungsverschiebungen im großen Maßstab verdoppelten einige Länder, zum Beispiel Mecklenburg ihre Einwohnerzahl, vormals konfessionell homogene Regionen mit starken eigenen Traditionen, zum Beispiel Oberbayern und die Lüneburger Heide, besaßen nun große Bevölkerungsgruppen mit einem anderen Lebensstil und fremder konfessioneller Prägung. Zuweilen kam es zu ganzen Stadt- und Ortsneugründungen wie Espelkamp, Waldkraiburg, Traunreut, Geretsried oder Kaufbeuren-Neugablonz.

In den von Deutschen verlassenen Gebieten des Nachkriegs-Polens wurden unter anderem ebenfalls umgesiedelte Polen aus dem ehemaligen, im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920–1921) annektierten Ostpolen (der seit 1945 wieder litauischen Region Vilnius, dem westlichen Drittel des heutigen Weißrussland und der westlichen Ukraine (Wolhynien und Galizien) angesiedelt. Viele dieser nun vertriebenen ca. 1,2 Millionen Polen hatten sich dort ihrerseits erst im Ergebnis des Kriegs und nach der Vertreibung eingesessener Bewohner niedergelassen. Die Zuzügler in die nun an Polen gefallenen Gebiete konnten allerdings die Verluste an polnischer Bevölkerung nicht ausgleichen, die die nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik dort bewirkt hatte.

Den größten Teil der Neusiedler in den Oder-Neiße-Gebieten bildeten Polen aus den traditionell polnischen Gebieten („Zentralpolen“). Hinzu kamen rund 400.000 Ukrainer und eine etwas kleinere Zahl Weißrussen. Die Ursache dafür ist, dass auch westlich der heutigen polnischen Ostgrenze von jeher eine bedeutende weißrussische und ukrainische Minderheit lebte und lebt, insbesondere in den Regionen Białystok (Weißrussen) und Przemysl (Ukrainer). Diese Gruppen galten der polnischen Regierung nach 1945 als potenziell unzuverlässig beziehungsweise als mögliche Argumente für neue sowjetische Forderungen an Polen. Deswegen wurde ein Teil von ihnen in Richtung Osten vertrieben (also aus dem heute polnischen Gebiet in die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörenden Gebiete östlich des Flusses Bug), ein anderer Teil jedoch nach Westen, vor allem nach Niederschlesien und Hinterpommern. Diese innerpolnische Vertreibung dauerte von Ende April bis Ende Juli 1947, die verantwortlichen Politiker und Militärs nannten sie „Aktion Weichsel“.

Zu den polnischen, ukrainischen und weißrussischen Neusiedlern kamen einige Zehntausend aus Ostpolen stammende polnische Zwangsarbeiter in Deutschland, die nach 1944/45 durch die Westverschiebung ihres Heimatlandes heimatlos geworden waren und nun in für sie fremden Regionen sesshaft werden mussten.

Heute wohnen in diesen etwas dünner besiedelten Gebieten nach dem Völkermord an der jüdischen Bevölkerung und der Vertreibung der meisten Polen, die dort oft die Oberschicht stellten, fast ausschließlich Weißrussen, Litauer, Ukrainer und Russen. Eine größere polnische Minderheit lebt bis heute in der Umgebung von Wilna.

In der an die Russische Sowjetrepublik gefallenen Oblast Kaliningrad (bis 1945 das nördliche Ostpreußen mit Königsberg) wurden ebenfalls umgesiedelte Russen, Weißrussen und Ukrainer angesiedelt. Auch einige ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter strandeten auf dem Weg aus Deutschland nach Russland im ehemaligen Nordostpreußen.

Im Sudetenland wurden vor allem Tschechen aus dem Landesinneren sowie Roma und Sinti angesiedelt. Hinzu kamen als „Repatrianten“ bezeichnete Tschechen, die aus Familien stammten, die früher nach Frankreich, die USA oder in andere Länder ausgewandert waren.

Gebiet Flüchtlinge und Vertriebene Tote und Vermisste in der Heimat Verbliebene
Ostgebiete des Deutschen Reiches 6.944 1.225 1.101
Tschechoslowakei 2.921 267 250
andere Länder 1.865 619 1.294
Insgesamt 11.730 2.111 2.645

Flucht und Vertreibung der Deutschen, Zahlen in Tausend.[9]
(Andere Länder, geordnet nach Gesamtzahl der deutschen Bevölkerung bei Kriegsende: Polen (Posen, Westpreußen), Rumänien (Siebenbürgen), Ungarn, Jugoslawien (Banat), Baltische Staaten und Memellland.)

Gebiet Flüchtlinge und Vertriebene Anteil an der Gesamtbevölkerung
Sowjetische Besatzungszone 4.379 24,3 %
Amerikanische Besatzungszone 2.957 17,7 %
Britische Besatzungszone 3.320 14,5 %
Französische Besatzungszone 60 1,0 %

Aufnahme in den Besatzungszonen Deutschlands, Stand Dezember 1947, Zahlen in Tausend.[10]

Motive der Vertreibung von Deutschen 1944 bis 1948

Die Vertreibungen von Deutschen aus dem Osten hatte mehrere Ursachen:

  1. Die nationalsozialistische Expansions-, Raub- und Ausrottungspolitik Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges hat die bereits belasteten, aber immer noch tragfähigen Beziehungen zwischen Deutschen und anderen Volksgruppen in Mittel- und Osteuropa, massiv zerrüttet, wenn nicht von Grund auf zerstört. Die als „Untermenschen“ angesehenen und behandelten Völker wurden durch diese Politik in eine Position getrieben, in der nur noch der bewaffnete, aber vom damaligen Kriegsrecht nicht gedeckte Partisanenkampf gegen die deutschen Aggressoren als Mittel der Selbstverteidigung blieb. Mit der sich abzeichnenden militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland bekamen die mit Ausrottung bedrohten Völker die Gelegenheit, sich für die ihnen zugefügten Verbrechen zu rächen. Der Besitz der Vertriebenen wurde dabei enteignet, konfisziert oder geplündert, so dass auch diese ökonomische Seite der Vertreibung, der Raubzug und die Bereicherungsabsicht, zu den eigentlichen Vertreibungsmotiven gezählt werden muss. Dies gilt entsprechend für sehr viele andere Vertreibungsphänomene (→ Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS).
  2. Für einige der ost- und mitteleuropäischen (kommunistischen) Regierungen war die Vertreibung der Deutschen unter den Bedingungen der Blockkonfrontation (Kalter Krieg) und angesichts der Befürchtung eines „Rollbacks“ eine Gelegenheit, die gerade errungene Macht zu festigen.
  3. Mit der Vertreibung der Deutschen schufen einige kommunistische Nachkriegsregierungen außerdem – in Anknüpfung an ältere, keineswegs nur kommunistische Vorstellungen von ethnischer Homogenität – national weitgehend homogene Staatswesen. Das Ziel war, sich möglichst vieler Konflikte der Vorkriegszeit, die auf dem multinationalen Charakter dieser Staaten als Vielvölkerstaaten beruhten, zu entledigen.
  4. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden die jeweiligen Bevölkerungsteile in diesen Staaten häufig zur Destabilisierung des jeweils anderen Gebiets instrumentalisiert und ließen sich instrumentalisieren (wie etwa die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins). In der Logik der Zeit wollte man künftige Gefährdungen durch national unzuverlässige Minderheiten als „fünfte Kolonnen“ ausschließen.
  5. Die Vertreibung von Deutschen aus den heutigen polnischen Westgebieten steht im Zusammenhang mit der Abwanderung von Polen aus den an die Sowjetunion zurückgefallenen, im Polnisch-Sowjetischen Krieg von Polen annektierten Gebieten im Osten (43 Prozent des altpolnischen Staatsgebiets) sowie mit den mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik einhergehenden ethnischen Säuberungen im Osten des Deutschen Reichs. Alle diese Gebiete haben eine lange Geschichte als ethnisch heterogene Sprach- und Siedlungsregionen.

Bewältigung der Vertreibung der Deutschen

Die Aufnahme von rund 12 Millionen Vertriebenen stellte alle Beteiligten in den vier Besatzungszonen in den Jahren 1945 bis 1949 in Deutschland vor enorme Probleme. Zunächst ging es darum, das Überleben der Vertriebenen angesichts des schweren Mangels an Nahrung, Wohnraum und Kleidung zu sichern. Dies ist weitgehend gelungen, obwohl es in den Jahren bis ca. 1950 eine deutlich erhöhte Sterblichkeit infolge Unterernährung und Infektionskrankheiten gab. Überschlägige Rechnungen gehen von einer zusätzlichen Sterblichkeitrate von 3 bis 3,5 Prozent im Laufe von fünf Jahren aus, sie betraf vor allem ältere, Kleinkinder und gesundheitlich vorbelastete Menschen.

Ab dem Jahre 1949 durften sich die Vertriebenen in der Bundesrepublik organisieren, in der DDR blieb dies bis 1989 strikt verboten, 1950 erfolgte der Zusammenschluss im Bund der Vertriebenen (BdV). In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren bildeten die Vertriebenen eine vergleichsweise einflussreiche Interessengruppe. Die wirtschaftliche und soziale Integration dieser Gruppe, die fast ein Viertel der Bevölkerung in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ausmachte, gelang nicht zuletzt mit Hilfe des Lastenausgleichs bald besser als erwartet. Kehrseite der gelungenen Integration war eine deutliche und bis heute zunehmende Assimilation und damit ein zunehmender Verlust an kultureller Vielfalt der Bundesrepublik Deutschland.

Politisch waren in der Zeit von 1950 bis 1961 viele Flüchtlinge und Vertriebene organisiert in der Partei Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Der BHE erreichte 1953 bei den Bundestagswahlen 5,9 Prozent der Zweitstimmen. Er war im zweiten Kabinett Adenauers bis 1957 mit zwei Ministern vertreten.

Ab Mitte der 1960er-Jahre nahm der politische Einfluss der Vertriebenenverbände deutlich ab, es gelang ihnen nicht, die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze im Jahre 1970 zu verhindern. In den 1990er-Jahren spielte fast nur noch die von Bayern und der CSU unterstützte Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) eine Rolle als politische Kraft in Deutschland.

Deutsche Definition nach dem Bundesvertriebenengesetz

Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) definiert den Begriff Vertriebener im § 1 wie folgt:

„Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat. Bei mehrfachem Wohnsitz muss derjenige Wohnsitz verlorengegangen sein, der für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen bestimmend war. Als bestimmender Wohnsitz im Sinne des Satzes 2 ist insbesondere der Wohnsitz anzusehen, an welchem die Familienangehörigen gewohnt haben.

  • Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger
    • 1. nach dem 30. Januar 1933 die in Absatz 1 genannten Gebiete verlassen und seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches genommen hat, weil aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen gegen ihn verübt worden sind oder ihm drohten,
    • 2. auf Grund der während des Zweiten Weltkrieges geschlossenen zwischenstaatlichen Verträge aus außerdeutschen Gebieten oder während des gleichen Zeitraumes auf Grund von Maßnahmen deutscher Dienststellen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten umgesiedelt worden ist (Umsiedler),
    • 3. nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt, es sei denn, dass er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler),
    • 4. ohne einen Wohnsitz gehabt zu haben, sein Gewerbe oder seinen Beruf ständig in den in Absatz 1 genannten Gebieten ausgeübt hat und diese Tätigkeit infolge Vertreibung aufgeben musste,
    • 5. seinen Wohnsitz in den in Absatz 1 genannten Gebieten gemäß § 10 des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch Eheschließung verloren, aber seinen ständigen Aufenthalt dort beibehalten hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste,
    • 6. in den in Absatz 1 genannten Gebieten als Kind einer unter Nummer 5 fallenden Ehefrau gemäß § 11 des Bürgerlichen Gesetzbuchs keinen Wohnsitz, aber einen ständigen Aufenthalt hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste.
  • Als Vertriebener gilt auch, wer, ohne selbst deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger zu sein, als Ehegatte eines Vertriebenen seinen Wohnsitz oder in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 5 als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen den ständigen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten verloren hat.
  • Wer infolge von Kriegseinwirkungen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten genommen hat, ist nur dann Vertriebener, wenn es aus den Umständen hervorgeht, dass er sich auch nach dem Kriege in diesen Gebieten ständig niederlassen wollte oder wenn er diese Gebiete nach dem 31. Dezember 1989 verlassen hat.“

Das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) definiert den Begriff Heimatvertriebener im § 2 wie folgt:

„Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist (Vertreibungsgebiet), und dieses Gebiet vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat; die Gesamtheit der in § 1 Abs. 1 genannten Gebiete, die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, zu Estland, zu Lettland oder zu Litauen gehört haben, gilt als einheitliches Vertreibungsgebiet.

  • Als Heimatvertriebener gilt auch ein vertriebener Ehegatte oder Abkömmling, der die Vertreibungsgebiete vor dem 1. Januar 1993 verlassen hat, wenn der andere Ehegatte oder bei Abkömmlingen ein Elternteil am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet (Absatz 1) gehabt hat.“

Andere Vertreibungen zwischen 1944 und 1948

Ungefähr zeitgleich mit der Vertreibung von Deutschen aus Teilen Osteuropas, besonders aus den östlichen Gebieten des Reiches, fanden in Ostmitteleuropa weitere Vertreibungen beziehungsweise ethnische Säuberungen statt, etwa zwischen Polen und der sowjetischen Ukraine, von in der Slowakei lebenden Ungarn und andere.

  • Griechische Truppen vertrieben im Jahre 1944 einen Großteil der Çamen (Albaner) kollektiv nach Albanien, wobei es nach albanischen Darstellungen zu vielen Opfern unter der Bevölkerung kam.
  • Die Umsiedlung bzw. Vertreibung von etwa 1,2 Millionen Polen in den Jahren 1944 bis 1946 aus den der Sowjetunion angeschlossenen polnischen Ostprovinzen der Jahre 1919/20 bis 1939 nach Polen und in die nach dem Krieg de facto Polen angeschlossenen deutschen Ostgebiete.
  • Umsiedlung einiger tausend Ukrainer aus Südostpolen in die Ukrainische Sowjetrepublik (→ Akcja Wisła).
  • Istrien: Im Jahre 1945 wurden Zehntausende Italiener aus Istrien vertrieben und enteignet. Über die Zahl der Betroffenen existieren sehr verschiedene Angaben von ca. 30.000 bis 350.000. Womöglich bezieht sich die geringere Zahl auf die in Istrien beheimateten Italiener, die größere Zahl auf die Gesamtzahl der Italiener, die Istrien und die dalmatische Küste 1945 verlassen mussten, aber erst wenige Jahre zuvor dorthin gesiedelt waren. Im März 2004 erklärte sich Kroatien zu einer Entschädigung bereit, nachdem zuvor bereits Slowenien einer Entschädigung zugestimmt hatte. Die italienische Regierung hat dies zur Voraussetzung der EU-Assoziierung Sloweniens gemacht, obwohl mit dem Vertrag von Osimo im Jahre 1975 bereits eine gewisse Entschädigung geleistet worden war.
  • Slowakei: Im Süden der Slowakei lebten bis 1945 rund 720.000 ethnische Ungarn (Magyaren). Sie wurden 1945 wie die Sudeten- und Karpatendeutschen durch die Beneš-Dekrete enteignet. Etwa 30.000 Ungarn haben unmittelbar nach dem Krieg die Tschechoslowakei verlassen. Im Rahmen des Bevölkerungsaustausches sind 73.000 Slowaken aus Ungarn in die Tschechoslowakei und etwa 70.000 bis 90.000 Ungarn aus slowakischen Gebieten teilweise in Dörfer gezogen, wo früher Donauschwaben gelebt hatten. Die Umsiedlung der Slowaken ist auf freiwilliger Basis gelaufen, die Ungarn wurden größtenteils unfreiwillig umgesiedelt. Die Ungarn in der Slowakei haben von 1945 bis Anfang der fünfziger Jahre in rechtlosen Rahmen gelebt, einige Tausend bis Zehntausend sind unfreiwillig in Gebiete umgesiedelt worden, die im Sudetenland von Deutschen verlassen werden mussten. Heute leben um die 500.000 Ungarn in der Slowakei. Die Beneš-Dekrete sind in den ungarisch-slowakischen Beziehungen nach wie vor umstritten.
  • Indien: Bei Erreichen der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947/48 und der Etablierung von Pakistan und der Indischen Union wurden Millionen Hindus und Muslime aus den mehrheitlich von Angehörigen der anderen Religionsgemeinschaft besiedelten Gebieten vertrieben. Dieser brutale „Bevölkerungsaustausch“ betraf zwischen 14 und 15 Millionen Menschen. Etwas über sieben Millionen Muslime wurden von Indien nach Pakistan vertrieben, eine etwa gleich große Zahl Hindus aus Pakistan nach Indien.

Vertreibungen seit etwa 1948

  • Seit dem UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 (UN-Resolution Nr. 181) wurden im folgenden Israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 und dem Sechstagekrieg von 1967 etwa 1.100.000 Palästinenser aus ihren Wohnorten, das heißt aus Palästina vertrieben, davon 1948 über 750.000 und 1967 nochmals etwa 350.000 Vertriebene und Flüchtlinge.[11] Mehr als 850.000 Juden wurden in den arabischen Staaten aus ihrer Heimat vertrieben. Fast alle von ihnen wanderten nach Israel aus (etwa 500.000), manche auch nach Frankreich oder in die USA. Die Mehrheit der Palästinenser ging nach Jordanien, heute lebt ein Großteil in aller Welt verstreut. Das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat können beide Völker aufgrund der lebensbedrohenden völkerrechtswidrigen Vertreibungen nicht geltend machen, zu ihrem ehemaligen Eigentum haben sie keinen Zugang mehr und keinen finanziellen Ausgleich erhalten. [12][13][14][15][16]
  • Zypern: Nach der türkischen Intervention in Nordzypern ab dem 20. Juli 1974 wurden mehrere Tausend griechische Zyprioten in den Südteil der Insel vertrieben.
  • Weitere Vertreibungen geschahen in Afrika.

Vertreibung und Völkerrecht

Vertreibungen sind völkerrechtswidrig. Sie verstoßen unter anderem gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907, gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen das Eigentumsrecht. Alle historisch belegten Vertreibungen waren mit Blutvergießen und Enteigungen verbunden. Doch selbst eine Vertreibung ohne Enteignung würde das Eigentumsrecht der Vertriebenen verletzen, weil dieses Recht das Recht der Nutzung einschließt. Ein Vertriebener kann aber seine Immobilien nicht mehr nutzen.

Dem Regensburger Völkerrechtler Otto Kimminich gelang in den 1950er-Jahren der Nachweis, dass das seit jeher geltende Völkerrecht das Recht auf die Heimat einschließt, auch wenn dieses Recht lange nicht explizit niedergeschrieben (positiviert) wurde. Vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Völker setzt das Recht auf die Heimat voraus, denn es bezieht sich regelmäßig auf diejenigen Gebiete, in denen eine bestimmte Nation oder Volksgruppe unangefochten und rechtmäßig die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Letzteres setzt aber das Recht auf die Heimat voraus.

Soweit Vertreibungen eine hinreichend klar definierte Gruppe betreffen und mit der Absicht durchgeführt werden, diese Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, erfüllen sie außerdem den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UN-Konvention von 1948.

Vertreibungsverluste

Vertreibungsverluste gliedern sich in drei Kategorien:

  1. Verluste an Leib und Leben (vgl. Gesamterhebung),
  2. Materielle Verluste und wirtschaftliche Schäden,
  3. Ideelle und kulturelle Verluste.

Diese drei Verlustkategorien betreffen regelmäßig drei Gruppen:

  1. Die vertriebene Bevölkerung,
  2. Die aufnehmende Bevölkerung und
  3. Die neu angesiedelte Bevölkerung (von deren politischer Vertretung regelmäßig die Vertreibung ausging).

Die Verluste der vertriebenen Bevölkerung liegen auf der Hand. Aber auch die aufnehmende Bevölkerung hat zumindest kurzfristig oft unter Vertreibungen zu leiden. So wurde die Hungersnot der Nachkriegszeit in Deutschland (Hungerwinter 1946/47) durch die erzwungene Aufnahme von Millionen Vertriebenen auch für die einheimische Bevölkerung massiv verschärft.

Aber auch für die neue Bevölkerung stellt die Vertreibung oft keinen echten Gewinn dar, da diese häufig selbst eher unfreiwillig in dieses Gebiet gekommen sind, entweder durch wirtschaftlichen Zwang oder durch Vertreibung aus anderen Gebieten. Außerdem besteht in der Neubevölkerung oft die Furcht, dass sich die vertriebene Bevölkerung das Land wiederholt, so dass wenig Neigung zu langfristiger Standortsicherung besteht.

Die Debatte über den Vertreibungsbegriff seit 1950

Briefmarke (1955): Zehn Jahre Vertreibung 1945
Briefmarke (1965): Zwanzig Jahre Vertreibung

Im deutschen Sprachraum bezeichnet der Begriff in einem verengten Verständnis meist Ausweisung und Flucht deutschsprachiger Bevölkerung aus Grenzräumen mit nichteinheitlicher Bevölkerungsgeschichte oder isolierten mehrheitlich deutschen Sprachgebieten in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Polen, dem heutigen Tschechien und anderen Staaten Osteuropas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der Begriff Vertreibung beziehungsweise Vertriebene setzte sich erst Ende der 1940er-Jahre durch und wurde nur in der Bundesrepublik zur offiziellen, auch gesetzlich fixierten Bezeichnung dieses Vorgangs (Heimatvertriebener) beziehungsweise der von ihm Betroffenen. Bis dahin wurden zwangsumgesiedelte Deutsche begrifflich nicht von der Gesamtheit der Flüchtlinge (siehe Displaced Persons) unterschieden, zuweilen auch – wie im späten nationalsozialistischen Sprachgebrauch – als „Evakuierte“ bezeichnet.

Verwendung und genaue Bedeutung des Begriffs Vertreibung sind in Deutschland etwa seit den späten 1980er-Jahren strittig, da die Abgrenzbarkeit zwischen (gewaltsamer) Vertreibung und (gewaltloser) Emigration zunehmend in Frage gestellt wurde. Von einigen Politikern und Publizisten wurde die These aufgestellt, der Begriff der Vertreibung bezeichne lediglich ein Form von Zwangsmigration und komme in der internationalen Forschung überwiegend als deutsches Lehnwort (im Englischen expulsion bzw. expellees) vor, während außerhalb Deutschlands sonst eher von Deportierten oder Flüchtlingen (refugees) gesprochen wird. Hinzu komme die Konfrontation des Kalten Krieges, denn in jenen Nationen, die Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944/1945 veranlasst hatten, wähle man eher verharmlosende Begriffe, etwa das tschechische Wort odsun (= Abschub) und den Begriff Transfer (= Überführung). Auch innerhalb Deutschlands sei der Begriff der Vertreibung und der Vertriebenen nicht immer selbstverständlich gewesen. Tatsächlich herrschte anfangs der Flucht- und Flüchtlingsbegriff vor, zudem wurde in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR offiziell gezielt von „Umsiedlern“ bzw. „ehemaligen Umsiedlern“ und „Neubürgern“ gesprochen. 1950 waren dies dort etwa 4,3 Millionen Menschen.

Eine eigenständige Benennung dieser Gruppe als „Vertriebene“ sei, so der Einwand, weniger durch evidente Tatsachen gerechtfertigt gewesen, sondern sie sei eher der Logik juristischer und politischer Zweckmäßigkeit geschuldet: Zum einen besaßen sie – aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit (bei den Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten und aus dem Sudetenland) beziehungsweise als Volksdeutsche – einen anderen Rechtsstatus als nichtdeutsche Deportierte und Flüchtlinge. Zum anderen bot die Wahl dieses Begriffes mehrere politisch und sozial erwünschte Möglichkeiten: Er schuf eine Distanz zwischen deutschen Deportierten und den von den Deutschen Deportierten – Juden, Polen, Tschechen, Russen usw. Damit ermöglichte er in der Bundesrepublik einen Opferdiskurs, der eine tief greifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschwerte.

Einige führende Vertreter der deutschen Vertriebenen, namentlich der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka, und der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Wenzel Jaksch, (Hupka bis nach 1970, Jaksch bis zu seinem Tode) waren Sozialdemokraten. Die SPD vertrat die Interessen der deutschen Vertriebenen bis etwa zum Jahre 1964 gleichermaßen wie die CDU und CSU. Insbesondere vertrat die SPD jahrelang die Überzeugung, nicht nur die Vertreibung selbst sei ein Verbrechen gewesen, sondern die etwaige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neuer deutsch-polnischer Grenze wäre als ein politisches Unrecht zu bewerten. In diesem Zusammenhang steht auch der später oft zitierte Aufruf Willy Brandts, Herbert Wehners und Erich Ollenhauers zum Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahre 1963: „Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder geflüchteten Landleute Schindluder getrieben werden!“ Diese Politik der SPD änderte sich allerdings ab etwa 1965, als die neue Ostpolitik entwickelt wurde. In seiner Regierungserklärung von 1969 gab Willy Brandt offen die Bereitschaft zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze zu erkennen.

In den 1950er-Jahren ließ sich durch die begriffliche Unterscheidung zwischen „normalen“ Deportierten und deutschen Vertriebenen die Forderung nach Revision der Oder-Neiße-Linie leichter aufrechterhalten. Die Forderung nach dieser Revision diente nicht zuletzt der Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Nachkriegspolitik. Es sollte verhindert werden, dass die Vertriebenen sich in noch stärkem Ausmaß Parteien zuwandten, in denen sich damals ehemalige Nationalsozialisten sammelten wie in der SRP, der DP, und dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.

Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen bis (mindestens) 1987 eine andere Rechtsauffassung vertreten: Danach wurden die Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße weder durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945, noch durch den Warschauer Vertrag von 1970 völkerrechtswirksam von Deutschland getrennt. Von diesem staats- und völkerrechtlichen Standpunkt aus, der allerdings in der Bundesrepublik Deutschland bereits ab etwa Mitte der 1970er-Jahre zunehmend in Frage gestellt wurde, ging es in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht um deutsche Gebietsforderungen an Polen, sondern um umstrittene polnische Gebietsforderungen aus der Vergangenheit an Deutschland.

In der DDR dagegen wurden die Zwangsumgesiedelten als Umsiedler bezeichnet, ein gruppenspezifischer Sonderstatus im Sozialrecht wurde namentlich bei der Verteilung enteigneter Flächen bei der Bodenreform von 1946 und im „Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 8. September 1950 fixiert, blieb jedoch im Unterschied zum langfristig angelegten Vertriebenenrecht der Bundesrepublik nur bis in die frühen fünfziger Jahren relevant. Außerdem anerkannte die DDR bereits 1950 im Görlitzer Abkommen die Oder-Neiße-Linie als „Friedensgrenze“ zwischen der DDR und Polen. Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der KPD legten gegen diesen Akt Rechtsverwahrung ein und bezeichneten ihn als „null und nichtig“.

Die zeitgeschichtliche Forschung differenziert zwischen aufeinander folgenden Ereignissen der Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Heute stellen einige Historiker das damit bezeichnete Phänomen unter den Oberbegriff Zwangsmigration. Dieser Sprachgebrauch lehnt sich an die Formulierung des damaligen Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker an, der in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 die Vertreibung der Deutschen als „erzwungene Wanderschaft“ bezeichnet hatte.

Ein völliges Fallenlassen des Vertreibungsbegriffs ist aber – angesichts seiner Verankerung im öffentlichen (nicht nur deutschen) Bewusstsein – auch aus Sicht der politischen Linken – praktisch nicht möglich. Wünschenswerter erscheint die Einordnung des Vertreibungsbegriffs in den Gesamtzusammenhang von Zwangsumsiedlungen im 20. Jahrhundert, so wie er in jüngster Zeit verstärkt vorgenommen wird. Lange Debatten um Begriffe haben die Wirkung, politisch heikle Fragen wie die nach der Zahl der Morde und Vergewaltigungen bei diesem Geschehen an den Rand der Diskussion zu drängen.

Darüber hinaus erscheint der politischen Linken der Versuch fruchtbar, Vertreibung und jede Form von Zwangsmigration im Rahmen des allgemeinen Migrationsgeschehens zu betrachten. Denn angeblich könne eine klare Trennung zwischen Zwangsumsiedlung, Flucht und „freiwilliger“ Migration häufig nicht vorgenommen werden.

Zum anderen zeigen neuere Untersuchungen zur Integration der Vertriebenen angeblich, dass der Umgang mit und das Verhalten von Vertriebenen mehr Parallelen als Unterschiede zu anderen Migrantengruppen aufweist. Konkrete Unterschiede, wie etwa die von den deutschen Vertriebenen bis zum heutigen Tage erhobenen Forderungen nach Aufklärung des Schicksals von mehreren Hunderttausend spurlos Vermissten, Rückkehrrecht, Heimatrecht, Eigentumsrückgabe und Anerkennung ihres Schicksals als eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne der Statuten des Internationalen Gerichtshofs von Nürnberg, dürfen nach dieser Sichtweise nicht über die großen Parallelen zwischen deutschen „Zwangsmigranten“ und ausländischen Zuwanderern in Deutschland hinwegtäuschen. Dennoch – so diese Sichtweise – werde man das Spezifikum der Zwangsmigration auch weiterhin zu berücksichtigen haben.

Die Vertreibungen der 1990er-Jahre in Bosnien, Kroatien und im Kosovo haben diese deutsche Diskussion wieder in den Hintergrund rücken lassen. Die Überzeugung, dass Vertreibung und Migration zwei grundlegend unterschiedliche Dinge sind, gewann wieder die Oberhand. Verbunden damit war die Rückkehr zum eingangs definierten Vertreibungsbegriff. So erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seinem Grußwort an den Tag der Heimat in Stuttgart vom 5. September 1999: „Jeder Akt der Vertreibung, so unterschiedlich die historischen Hintergründe auch sein mögen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Peter Glotz zitierte 2001 Roman Herzog: „Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen vorausgegangen sind.“ [17]

Eine andere Sicht wird wohl überwiegend in der polnischen Politik vertreten. In einem jüngeren Interview äußerte sich der mit der Wiederwahl gescheiterte und Donald Tusk unterlegene derzeitige Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski dahingehend, dass „Deutschland zu hundert Prozent Schuld am eigenen Vertriebenenschicksal trage“.[18]

Quellen und Anmerkungen

  1. Zahlenangaben zum Teil aus Bevölkerungs-Ploetz: Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Band 4: Bevölkerung und Raum in Neuerer und Neuester Zeit. Ploetz, Würzburg 1965
  2. Die größten drei Sprachgruppen (Polen, Ukrainer und Weißrussen) stellten zusammen zwischen 80–85 % der Population, der Rest setze sich zusammen aus Juden (ca. 9 %), Lemken, Bojken, Huzulen, Poleschuken, Russen (unter 1 %), Litauer, Tschechen, Deutsche (bis 2 %) u.a. Nach polnischer Volkszählunng 1931 und Mały rocznik statystyczny 1941 (Kleines Statistikjahrbuch 1941), London 1941.
  3. Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, IX.b
  4. vgl. z. B. die Ausführungen des amerikanischen Außenministers George C. Marshall auf der Moskauer Außenministerkonferenz 1947; Documents on American Foreign Relations, vol. IX, January 1–December 31, 1947 [1949], S. 49
  5. A. M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen, Berlin 1988, 8. Aufl. Es handelt sich um die erweiterte Übersetzung der 1. Auflage von 1977. Bernd Faulenbach, Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51-52/2002) [1]
  6. Zur Kritik der Altangaben im Überblick: Ingo Haar, Hochgerechnetes Unglück, Die Zahl der deutschen Opfer nach dem Zweiten Weltkrieg wird übertrieben, in: Süddeutsche Zeitung, 14.11.2006.
  7. Deutsches Historisches Museum: Massenflucht 1944/45
  8. H. Sander / B. Johr, Befreier und Befreite, Fischer 2005, Frankfurt, ISBN 3596163056.
  9. Gerd R. Ueberschaer, Rolf-Dieter Müller, 1945. Das Ende des Krieges. Darmstadt 2005, S. 128, ISBN 3-89678-266-5.
  10. Johannes-Dieter Steinert: Die große Flucht und die Jahre danach, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau. Herausgegeben im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. München 1995. ISBN 3-492-12056-3, S. 561
  11. palaestina.org
  12. Zur Lage der Juden in einzelnen arabischen Staaten nach der Verkündung der UN-Resolution Nr. 181, am 29. November 1947
  13. „Die erste ‚Massenalijah‘ hatte Israel unmittelbar nach der Staatsgründung bzw. im Gefolge des ersten Nahost-Krieges“
  14. 850.000 jüdische Flüchtlinge
  15. Gerechtigkeit für die jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Staaten 850.000 jüdische Flüchtlinge
  16. The forgotten jewish refugees mehr als 850.000 jüdische Flüchtlinge
  17. Rede von Peter Glotz 2001
  18. Polen-Rundschau.de: „Kaczynski gegen Kompromiss in Sachen Vertreibung“ vom 8. Januar 2008.

Literatur

  • Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, überarb., aktualisierte Neuausg., Frankfurt (Main) 1995.
  • Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte 1954–1961, in der Bearbeitung von Theodor Schieder, dokumentiert von Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels, München 2004.
  • Bernd Faulenbach: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2002, B 51–52, S. 44–54.
  • Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus und die Historisierung des „Dritten Reiches“ als Forschungsproblem [zu Rothfels, Schieder u. a. im NS], in: H-Soz-u-Kult – Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften
  • Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hrsg.): German Scholars and Ethnic Cleansing, 1920–1945, New York, Oxford 2005.
  • Isabel Heinemann, Patrick Wagner (Hrsg.): Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.
  • Andreas Kossert : Kalte Heimat – Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler, München. 432 Seiten, ISBN 978-3-88680-861-8.
  • Krisztina Kaltenecker: Das Dilemma der massenhaften oder vollständigen Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ungarn. Die Entstehungsgeschichte der Regierungsverordnung Nr. 12.330 / 1945 MP. In: Heike Müns (Hg.): Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde. Marburg. Band 44 (2001), S. 35–97. ISBN 3-7708-1213-1
  • Krisztina Kaltenecker: Solidarität und legalisierte Willkür. Die Darstellung der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn in der Bonner Dokumentation. In: Márta Fata (Hg.): Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, S. 168–191. ISBN 3-515-08428-2
  • Markus Krzoska: Brückenlandschaft oder Ende der Welt? Das Egerland als Grenzgebiet im langen 19. Jahrhundert. In: Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. v. Christoph Duhamelle, Andreas Kossert und Bernhard Struck. Frankfurt am Main 2007, S. 247–270.
  • Markus Krzoska: Frieden durch Trennung oder Beherrschung? Deutsche und Tschechen in Böhmen zwischen 1897 und 1920. In: Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremdbilder und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich 1900 bis heute, hrsg. v. Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Kazimierz Wóycicki. Wiesbaden 2007, S. 85–96.
  • Heinz Nawratil: Schwarzbuch der Vertreibung 1945–48, Verlag Universitas, ISBN 3-8004-1387-6.
  • Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hg.) [zu Schieder u. a. im NS]: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999.
  • Vertreibung und Vertreibungsverbrechen. 1945–1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974, Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte/Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, Bonn 1989.
  • M. Wille (Hrsg.): 50 Jahre Flucht und Vertreibung, Helmut Block Verlag, Magdeburg 1997.
  • Alfred-Maurice de Zayas: Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Verlag W. Kohlhammer, ISBN 3-17009-297-9.
  • Alfred-Maurice de Zayas: Die Nemesis von Potsdam. Herbig Verlag, München 2005, ISBN 3-7766-2454-X.
  • Alfred de Zayas: 50 Thesen zur Vertreibung. Inspiration Un Limited, London/München 2008, ISBN 978-3-9812110-0-9.
  • Andreas Thüsing, Wolfgang Tischner (Hrsg.): ›Umsiedler‹ in Sachsen. Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen 1945–1952. Eine Quellensammlung. Ed. Kirchhof & Franke, Leipzig–Berlin 2005, ISBN 3-933816-27-0.
  • Michael Parak, Carsten Schreiber: „Flüchtlingsprofessoren“. Karrieren geflohener und vertriebener Hochschullehrer in der SBZ/DDR. Ed. Kirchhof & Franke, Leipzig–Berlin 2008, ISBN 978-3-933816-40-5.

Filme

  • Wege übers Land, DDR-Fernsehen, 1968

Siehe auch

Weblinks


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