- Vita reducta
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Scheintod (auch lat. Vita reducta oder Vita minima = das reduzierte bzw. geringe Leben) ist eine veraltete Bezeichnung für einen Zustand, in dem ein Mensch ohne Bewusstsein war und leblos wirkte, so dass unklar war, ob er noch lebte oder tot war. Das beruhte darauf, dass die Mediziner lange Zeit lediglich mit Hilfe von Pulskontrolle, dem Abhören des Herzschlags und der Wahrnehmung der Atmung feststellen konnten, ob ein Mensch noch lebt oder tot ist. Man ging davon aus, dass jeder vor seinem Tod zunächst in einen solchen „Zwischenzustand“ gelange.
Inhaltsverzeichnis
Medizingeschichte
Um festzustellen, ob ein Mensch nur ohne Bewusstsein ist oder tatsächlich der Tod eingetreten ist, standen den Ärzten früher nur einfache Hilfsmittel zur Verfügung, die Johann Georg Krünitz in der Oeconomischen Encyclopädie des 18. Jahrhunderts beschreibt. „Scheintoten“ wurde ein Spiegel vor den Mund gehalten, um zu sehen, ob er durch den Atem beschlägt. Weitere Hilfsmittel waren Kerzen und Federn, die vor die Nase gehalten wurden oder ein Glas mit Wasser, das auf die Brust gestellt wurde, um an Wasserbewegungen zu sehen, ob sie sich leicht hebt und senkt.
„Was die äußerlichen Reizmittel und die chirurgischen Versuche anbetrifft, die Nasenlöcher durch rauhe Federn, Salze, Salmiak, oder die flache Hand und Fußsohlen mit Stichen zu reizen, und Schultern, Arme oder andere Theile zu schröpfen, so haben diese Hülfsmittel bisweilen scheinbare Todte, so wie glühendes Eisen an der Fußsohle, wieder ins Leben gebracht.“
– Oeconomische Encyclopädie [1]
In jedem Zweifelsfall wurden Wiederbelebungsmaßnahmen angewandt.
„Man spritzt Pfeffer- und Salzauflösung in den Mund. Man bläset, Mund auf Mund gelegt, bei zugedrückter Nase, langsam in die Lunge des anscheinenden Todten Luft herein. Man gibt ihm Klystiere von Kochsalz ungefähr 2 bis 3 Loth desselben in warmen Wasser aufgelöset, oder Tabacksauflösung. Hierher gehören auch die Tabacksrauchklystiere, wenn ein Instrument vorhanden ist.“
– aus Krünitz [1]
Als Eintrittspunkt des Todes sieht man heute gewöhnlich den Moment an, in welchem die Atmungs- und Herztätigkeit (Kreislaufstillstand, der potentiell noch reversible klinische Tod) oder die Gehirnaktivität erlischt (Hirntod, der endgültige Individualtod). Um den feststellenden Arzt vor einer strafrechtlich relevanten Fehldiagnose zu bewahren, sollte nach Ansicht von Pathologen[2][3] darauf geachtet werden, dass der Arzt bis zum Eintreten der Totenflecken (erste Anzeichen erkennbar spätestens 30 Minuten nach Eintritt des Todes) oder bis zu einem anderen sicheren Nachweis (zehnminütige EKG-Null-Linie, Hirntodnachweis durch Elektroenzephalografie) mit Maßnahmen zur Wiederbelebung fortfährt. Auf Grund der modernen medizinischen Diagnostik kann der Tod eines Menschen in jedem Fall zweifelsfrei festgestellt werden, der Begriff Scheintod wird für Zustände der Bewusstlosigkeit und des Komas nicht mehr verwendet.
Im 19. Jahrhundert war der Begriff in der Medizin jedoch noch verbreitet. 1808 verfasste Christoph Wilhelm Hufeland eine Abhandlung mit dem Titel Der Scheintod, in der er sich darum bemühte, den Zustand der Bewusstlosigkeit und der Asphyxie anhand verschiedener Merkmale vom Tod abzugrenzen. Am häufigsten trat der Scheintod damals bei Neugeborenen, bei (scheinbar) Ertrunkenen, Erfrorenen, Erhängten oder Erwürgten auf.
„Der Scheintod tritt unter den verschiedensten Umständen ein […] 1) S. durch innere Krankheitszustände. Hierher gehören die tiefe Ohnmacht nach großer Ermüdung von langem Marschieren, nach überstandenen schweren Geburten, ferner der S. nach heftigen Krampfanfällen bei Hysterie, Epilepsie und Eklampsie, bei der Starrsucht und Lethargie, manchmal bei der Cholera, bei manchen narkotischen Vergiftungen (Opium, Blausäure, Chloroform). 2) S. durch äußere Störungen: nach hohen Graden von Gehirnerschütterung, nach schweren Verwundungen mit gleichzeitiger Erschütterung oder mit bedeutendem Blutverlust, nach starken Blutungen überhaupt, besonders bei Wöchnerinnen und kleinen Kindern. 3) S. durch spezifische Ursachen. Hierher gehören der S. der Neugeborenen wegen noch nicht eingeleiteter Atmung, der S. durch Ertrinken, Erhängen etc., der S. durch irrespirable Gase, durch fremde Körper im Schlund etc.“
– Meyers Konversationslexikon, 1895
Kulturgeschichte
Das Phänomen des Scheintods spielte bereits in der Antike eine Rolle. Bei den Römern hatten so genannte Pollinctores die Aufgabe, die Toten mehrfach mit warmem Wasser zu waschen, ihnen die Augen zuzudrücken und sie mehrere Male mit ihrem Namen anzurufen. Wenn sie daraufhin kein Lebenszeichen von sich gaben, wurden sie auf den Boden gelegt und mit einem Tuch bedeckt.[4] Berichte von wieder erwachten „Scheintoten“ sind unter anderem durch Valerius Maximus, Plutarch und Demokrit überliefert.[5]
Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung herrschte in Europa Angst lebendig begraben zu werden, im Grab aufzuwachen und einen angsterfüllten Erstickungstod sterben zu müssen. Immer wieder traten Berichte über Leichen auf, die nach der Exhumierung in merkwürdigen Positionen gelegen haben sollen: Oft seien die Augen weit offen oder die Arme gegen das Oberteil des Sarges gedrückt gewesen. Auch wurde von Kratzern an der Innenseite des Sargoberteils erzählt, die die Verstorbenen mit bloßen Fingern in das Holz gekratzt haben sollen. Daher wurden in Testamenten oft Lagerfristen festgelegt oder es wurde verfügt, dass vor einer Bestattung die Pulsader durchschnitten werden sollte. Außerdem gab es spezielle Vorrichtungen, wie mit Gas gefüllte Särge, offene Särge, die mit Erde zugeschüttet wurden um einen schnellen Erstickungstod hervorzurufen, oder auch offene Särge mit Leitern, welche die Möglichkeit bieten sollten, dem Grab zu entsteigen.
In Österreich-Ungarn und bis 1900 in der Schweiz konnte man den Herzstich verfügen: Ein Arzt stößt dem Verstorbenen einen Dolch in das Herz, wo dieser verbleibt. Andere ließen sich kleine Glocken an die Finger hängen oder eine Signalvorrichtung im Sarg befestigen. Ende des 18. Jahrhunderts wurden öffentliche Leichenhäuser errichtet. In Meyers Konversationslexikon wird Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt: „Die Erfahrung hat gelehrt, dass in den besteingerichteten Leichenhallen (München, Weimar) seit vielen Jahren und unter vielen tausend Fällen noch nie der Fall vorgekommen ist, dass ein dort deponierter Körper das geringste Lebenszeichen wieder von sich gegeben hätte.“
Viele Überlieferungen von Scheintodfällen haben anekdotenhafte Züge. Tatsächlich vorgekommen sind Fehldiagnosen mit großer Wahrscheinlichkeit bei Epidemien, wenn innerhalb kurzer Zeit sehr viele Erkrankungen und Todesfälle auftraten. Relativ bekannt wurde die Geschichte vom „lieben Augustin“, einem Wiener Original, das in den Wirtshäusern zur Zeit der Pest aufspielte und eines Tages völlig betrunken zusammen mit Pestopfern in ein Massengrab geworfen wurde. Da es noch nicht gefüllt war, wurde es nicht gleich mit Erde bedeckt und der „liebe Augustin“ konnte ausgenüchtert dem Grab wieder entsteigen.[6]
Angst davor lebendig begraben zu werden, hatten beispielsweise Edgar Allan Poe, Friederike Kempner, Hans Christian Andersen und Alfred Nobel. Dostojewski legte regelmäßig Zettel neben sein Bett: „Sollte ich in lethargischen Schlaf fallen, begrabe man mich nicht vor ... Tagen!“.[7]
In manchen Gegenden wurden Scheintote in Verbindung mit Vampiren gebracht (Arnold Paole).
Siehe auch
Literatur
- Tankred Koch: Lebendig begraben. Geschichte und Geschichten vom Scheintod, Edition Leipzig 1990, ISBN 3-361-00299-0
Weblinks
- Jos. A. Massard: Scheintod, Lebendigbegraben, Auferweckung von Toten in Luxemburg und anderswo. Lëtzebuerger Journal 2008, Nr. 215 (5. Nov.) : 24-25, Nr. 216 (6. Nov.) : 23. Anmerkungen und Quellen
Einzelnachweise
- ↑ a b Artikel Scheintod in der Oeconomischen Encyclopädie von Krünitz
- ↑ WDR-Bericht: Scheintod - Frau starb in der Leichenhalle
- ↑ WDR-Bericht (RealMedia stream): Scheintod - Frau starb in der Leichenhalle
- ↑ Tankred Koch, Lebendig begraben. Geschichte und Geschichten vom Scheintod, 1990, S. 34
- ↑ Tankred Koch, a.a.O., S. 35 ff.
- ↑ Tankred Koch a.a.O., S. 66
- ↑ Jaques Catteau: Dostoevsky and the process of literary creation, Cambridge 2003, S. 103
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