WTCF

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Wing Chun (chin. 詠春 / 咏春 „schöner Frühling“) ist ein (süd-) chinesischer Kampfkunststil (in China mit dem Oberbegriff Wushu, im Westen mit dem Begriff Kung Fu bezeichnet).

Gelehrt wird Wing Chun in Deutschland, Österreich und der Schweiz in zahlreichen kommerziellen und nicht-kommerziellen Schulen, Verbänden und Vereinen. Der Name der Kampfkunst stammt aus dem Kantonesischen, deswegen gibt es keine eindeutige Romanisierung des Begriffes. Aus markenrechtlichen Gründen und um sich von anderen Schulen und Verbänden abzugrenzen (siehe weiter unten), sind zahlreiche Schreibweisen gebräuchlich, so z. B. Wing Tsun (W.T.), Ving Tsun (V.T.), Wing Tzun, Wing Chung, Wing Shun, Wing Tsung, Ving Chung, Wyng Tjun, Ving Chun, aber auch gänzlich andere Namen, wie z. B. Taonamics oder Tao Concepts.

In Pinyin, dem offiziell verwendeten Romanisierungssystem des Hochchinesischen (Mandarin), werden die Schriftzeichen als Yǒng chūn transkribiert.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Entstehung

Zur Entstehungsgeschichte des Wing Chun existieren verschiedene Überlieferungen. Inwieweit diese den Tatsachen entsprechen, kann aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht mehr überprüft werden. Entwickelt wurde es über Hunderte von Jahren und hat angeblich seine Wurzeln im berühmten Shaolin-Kloster. Dabei wird von einem südlichen Shaolin-Kloster berichtet, welches im Gegensatz zum nördlichen Shaolin-Kloster heute nicht mehr besteht.

In der am weitesten verbreiteten Version der Entstehungsgeschichte wird beschrieben, dass die Nonne Ng Mui versuchte, ein Kampfsystem für körperlich Unterlegene zu entwickeln, das mit der kraftvollen Shaolin-Kampfkunst der Mönche konkurrieren konnte. Ihr Wissen gab sie an ein Mädchen weiter, das sich gegen einen lokal ansässigen Kämpfer zur Wehr setzen musste, der sie immer wieder bedrängte. Dieses Mädchen hieß Yim Wing Chun (Yim „Geheimnis“, Wing „preisen“, Chun „Frühling“).

Die andere Version der Entstehungsgeschichte besagt, dass sich einige sehr gute Kämpfer im alten China in einem Kloster in der Halle des „schönen Frühlings“ (Weng Chun Tong) trafen und dort zusammen diesen Stil entwickelten.

Unumstritten ist jedoch die Tatsache, dass sich alle Wing Chun- Stile in irgendeiner Form auf die rote Dschunke, eine Operntruppe, beziehen. So lernten viele historisch nachweisbare Personen, die in der Entwicklung des Wing Chun eine Rolle spielten wie zum Beispiel Leung Jan, von Schauspielern der roten Dschunke.

„Legende von der Shaolin-Nonne und ihrer Schülerin Yim Wing Chun“

Die folgende Erzählung beruht auf mündlicher Überlieferung:

Während der Qing-Dynastie (1662-1722) waren die Shaolinmönche aufgrund ihrer Kampfkunst derart berühmt, dass sich der damalige Kaiser Kangxi Sorgen um seinen Einfluss machte und beschloss, die Mönche zu töten und das (südliche) Shaolinkloster zu vernichten. Dies misslang, da die Mönche starken Widerstand leisteten. Der Beamte Chan Man Wai wollte sich einen Namen verschaffen und schmiedete einen Plan, für den er sich u. a. mit Ma Ning Yee verschwor, welcher das Kloster von innen heraus in Brand setzte. Dabei kamen die meisten Klosterbewohner ums Leben. Die buddhistische Meisterin Ng Mui, der Abt des Klosters Meister Chi Sim mit den meisten Schülern, Meister Pak Mei, Meister Fung To Tak und Meister Miu Hin konnten entkommen. Sie waren die Führer der fünf Shaolin-Stile und wurden die „Fünf Älteren“ genannt.

Die Authentizität dieser Überlieferung ist umstritten. Kangxi war eher ein Unterstützer zumindest des nördlichen Shaolinklosters, wie eine über dessen Eingang angebrachte Kalligraphie noch heute belegt.

Nach der Zerstörung des Klosters trennten sich die Überlebenden, um der Mandschu-Regierung leichter zu entkommen. Meister Chi Sim nahm eine Tarnidentität als Koch auf einer „Roten Dschunke“ an. So wurden Transportschiffe einer Operntruppe bezeichnet, die üblicherweise mit roter Farbe gestrichen und bunten Fahnen geschmückt waren. Die Nonne Ng Mui dagegen ließ sich im Weißer-Kranich-Tempel am Tai-Leung-Berg nieder, wo sie sich der Kampfkunst und dem Chan widmen konnte.

Am Marktplatz eines nahen Dorfes lernte Ng Mui ein junges Mädchen namens Yim Wing Chun und deren Vater Yim Lee kennen, welche dort Tofu verkauften. Die beiden waren aus ihrer Heimat in der Provinz Kwantung geflüchtet, da Yim Lee in eine Gerichtssache verwickelt war (man sagt, unschuldig), die ihn das Leben hätte kosten können. Als Schüler des Shaolin-Klosters hatte er einige Kampftechniken erlernt und sorgte in seiner Gegend für Gerechtigkeit. Die resultierenden Schwierigkeiten zwangen ihn, seine Heimat zu verlassen und sich am Tai-Leung-Berg niederzulassen. Der Legende nach hat die Kampfkunst dem Mädchen Yim Wing Chun seinen Namen zu verdanken.

Die heranwachsende Yim Wing Chun zog den im Ort als einen notorischen Schläger bekannten Wong derart an, dass er um ihre Hand anhielt. Doch sie war schon als kleines Kind Leung Bok Chau, einem Salzkaufmann aus Fujian, versprochen worden. Wong schickte einen Boten, setzte Yim Wing Chun eine Frist und drohte, Gewalt anzuwenden, falls sie sich ihm verweigerte. Vater und Tochter lebten von nun an in großer Sorge, da niemand im Dorf Wong, dem Kampfkünstler und Mitglied einer Geheimgesellschaft, gewachsen war.

Ng Mui erkannte als regelmäßige Kundin Yim Lees, dass die beiden von Sorgen gequält wurden. Schließlich erzählte Yim Lee von Wong. Ng Mui beschloss, Yim Wing Chun zu helfen, wollte den Bösewicht aber nicht selbst bestrafen, da sie ihre Tarnidentität nicht aufgeben wollte und ein Kampf zwischen ihr, der Meisterin aus dem Shaolin-Kloster, und einem Dorfschläger unfair und ruhmlos gewesen wäre. Deshalb brachte sie Yim Wing Chun ihre neue Kampfkunst bei. Nach nur drei Jahren Privatunterricht hatte diese das neue Kampfsystem gemeistert. Ng Mui schickte sie nach der Ausbildung im Weißer-Kranich-Tempel zurück zu ihrem Vater. Sofort wurde Yim Wing Chun wieder von Wong bedrängt, doch dieses Mal forderte sie ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war sich seines Sieges sicher, sollte sich aber getäuscht haben, denn Yim Wing Chun schlug ihn zu Boden.

Nachdem Yim Wing Chun den Schläger besiegt hatte, setzte sie ihr Training fort. Als Ng Mui beschloss, weiterzureisen, ermahnte sie Yim Wing Chun, einen würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen. Diese Mahnung wurde auch von den folgenden Generationen befolgt.

Neuere Geschichte

Die meisten heute in Deutschland bekannten Varianten des Wing Chun gehen auf den Kampfkünstler Yip Man (1893–1972) zurück. Er hatte im Laufe seines Lebens in Hong Kong zahlreiche Schüler (u. a. Bruce Lee). Als Yip Man im Alter von 77 Jahren starb, ohne einen Nachfolger zu benennen, begann ein Streit um seine Nachfolge.

Yip Man soll Wing Chun nicht von einem einzigen Meister, sondern von zweien erlernt haben. Der eine Lehrer soll ein Geldwechsler (Chan Wah Shun) gewesen sein, der andere war Leung Bik, Sohn des legendären Leung Jan, eines bekannten Kräuterarztes und Apothekers aus Foshan in der Provinz Guangdong. Diese Geschichte ist allerdings umstritten. Leung Bik ist selbst einigen Schülern von Yip Man nicht bekannt.

Prinzip und Technik

Aufgrund der im folgenden erläuterten allgemeinen Charakteristik gilt Wing Chun bisweilen als der Stil der Meister fortgeschrittenen Alters; diese konnten sich auf diese Weise gegen die jungen, rein körperlich überlegenen Meister behaupten.

Prinzipien

Eine besondere Charakteristik von Wing Chun ist das Denken in Prinzipien. Man könnte sie auch als Weisungen oder Orientierungshilfen bezeichnen. Diese Prinzipien sind bewusst in der reflexiven Befehlsform formuliert, so dass klar definiert ist, was zu tun ist. Ein entscheidender Vorteil ist die Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit der Prinzipien. Beachtet ein Schüler die Prinzipien, so verhält er sich auch in vollkommen unbekannten Situationen korrekt bzw. macht im Normalfall zumindest keine gravierenden Fehler.

Die hier aufgeführten Prinzipien stellen eine kleine, beispielhafte Auswahl dar, wie sie in unterschiedlichen Wing-Chun-Stilen vorkommen können. Die Prinzipien variieren von Stil zu Stil mitunter sehr stark. Beispielsweise im Wing Tsun und dessen Derivaten lehrt man folgende Prinzipien:

Die Kraftprinzipien:

  1. Befreie dich von deiner eigenen Kraft.
  2. Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
  3. Nutze die Kraft des Gegners.
  4. Füge deine eigene Kraft hinzu.

Die Kampfprinzipien:

  1. Ist der Weg frei, stoß vor.
  2. Bekommst du Kontakt, bleib kleben.
  3. Ist der Gegner zu stark, weiche aus.
  4. Weicht der Gegner zurück, folge.

Dies sind nur einige Beispiele von sogenannten Kuen Kuits.

Techniken

Im Wing Chun wurden alle Techniken auf ihre Wirkung hin maximiert. Die Bewegungen sind meist kurz und gerade (also entlang einer Geraden). In der Regel wird keine starre Muskelkraft, sondern die Elastizität des eigenen Bewegungsapparates ausgenutzt. Dies geschieht durch eine Kombination aus Gewichtsverlagerung (Schritttechniken) und spontaner schneller Streckbewegung (Peitschenkraft) mit einem relativ kleinen Anteil eigener Muskelkraft.

Ein typisches Element einiger Wing-Chun-Stile ist der Kettenfauststoß. Man sagt, ein geübter Wing-Chun-Kämpfer könne davon etwa acht bis zehn Schläge pro Sekunde ausführen. Darüber hinaus entfalten alle Techniken erst in der Kombination miteinander ihre volle Wirkung, wobei es letztlich unerheblich ist, ob Fauststöße oder Handflächenschläge zum Einsatz kommen. Die Kraft des Gegners wird durch Schritttechniken, wie Wendungen, neutralisiert und gegen ihn verwendet (Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr): Der Angriff ist die Verteidigung. Ein Schlag des Gegners wird so beispielsweise durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.

Der Stil ist weiterhin durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im allgemeinen nur niedrige Ziele bis etwa zur Höhe der Hüfte angegriffen werden. Ziele dieser Tritte sind insbesondere Kniegelenk, Oberschenkelansatz und Unterleib des Gegners.

Waffen

Wing Chun war ursprünglich eine Kampfkunst ohne Waffen. Im späten 17. Jahrhundert erweiterten Wong Wah Bo (Schüler von Leung Bok Chow, dem Ehemann der Stilgründerin Yim Wing Chun) und Leung Yee Tai (Schüler des auf der roten Dschunke untergetauchten Shaolin- Mönchs Chi Sim) den Kung-Fu-Stil um zwei Waffenformen:

  • Langstock (Luk Dim Boon Kwun)
  • Kurzschwerter (Baat Jam Do / Dao)

Die Übungen und Formen wurden den Idealen des Wing Chun angepasst. So wurde der Aspekt der Zentrallinie in die Langstock-Form eingebracht.

Historische Dokumente hierzu sind nicht überliefert. Wong Wah Bo wird in vielen anderen Entstehungslegenden anderer Stile (z.B. Hung Kuen) erwähnt. Seine Existenz ist weder belegt noch widerlegt. Er spielt in nahezu allen Wing Chun- Legenden eine Schlüsselrolle.

Berücksichtigung anderer Kampfsysteme

Bei einem Wing-Chun-Kämpfer ist es nicht von Bedeutung, welchen Stil der Aggressor hat. Ein Straßenkämpfer, welcher keinen bekannten Kampfstil hat, bzw. seinen eigenen freien Kampfstil entwickelt hat, ist von den potentiellen Aggressoren am gefährlichsten einzustufen. Daher lernt der Kämpfer im Wing Chun, sich so vor dem Angreifer zu positionieren, dass alle möglichen Angriffsvarianten des Gegners im Vorfeld schon gestört werden: Man versucht, möglichst früh mit dem Aggressor Kontakt aufzunehmen. Im Chi-Sao-Training lernen die Schüler, die Kraft des Angreifers zu „erfühlen“ und dementsprechend zu reagieren, um möglichst wenig darauf angewiesen zu sein, Angriffe optisch zu erkennen. Dabei befolgt er die Regeln der vier Kampf- und Kraftprinzipien (siehe oben).

Unterricht und Training

Der Unterricht im Wing Chun ist von Partnerübungen dominiert, bei dem die Trainingspartner bestimmte Bewegungsmuster eines Kampfes wiederholen, oder er findet an einem hölzernen Trainingsgerät, dem Muk Yan Jong statt. Je nach Erfahrung der Übenden variiert dabei Geschwindigkeit, Intensität wie auch Komplexität der Übungen bis hin zum Freikampf/Sparring. Ziel dieser Übungen ist es, den Lernenden durch langsame und sich oft wiederholende Bewegungsabläufe bestimmte Bewegungsmuster einzuschleifen, die im Ernstfall unbewusst abgerufen werden können. Einen Schwerpunkt legt das Wing Chun auf das sog. Chi Sao, ein Gefühlstraining, welches ermöglicht, auf bestimmte Berührungen und Impulse eines Trainingspartners oder Gegners sehr schnell und reflexartig zu reagieren. Obwohl die Grundlagen des Wing Chun schnell erlernbar sind, erfordert gerade dieses Gefühlstraining jahrelange Übung, damit es sinnvoll in einem Kampf zum Einsatz kommen kann. Somit ist die schnelle Erlernbarkeit des gesamten Systems nur bedingt korrekt.

Formen

Die ersten Grundlagen des Wing Chun werden in den Formen erlernt und geübt. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die jeder Schüler alleine durchführt. Die Formen in den chinesischen Kampfkünsten entsprechen ungefähr dem, was in den japanischen Kampfkünsten als Kata bekannt ist. Die verschiedenen Formen des Wing Chun bauen aufeinander auf.

Die Formen sind:

  1. Siu Nim Tao / Siu Lim Tao („eine Kleine Idee Form“): Es werden die grundlegendsten Armtechniken isoliert für sich oder in einfachen Kombinationen geübt. Beintechniken kommen hier in Form des stabilen Standes vor. Ein wichtiger Aspekt dieser Form ist die Haltung und das Verhältnis von Spannung und Entspannung.
  2. Chum Kiu / Cham Kiu („Suchende Arme“ / „eine Brücke bauen“): Basistechniken mit ersten Fußtechniken. Hier werden verschiedene Techniken in Kombinationen geübt, insbesondere das Zusammenspiel von beiden Armen, Beintechniken und Schritttechniken.
  3. Bju Tse / Biu Tze („Stoßende Finger“): Bisweilen als Notfall-Form bezeichnet, in der Techniken erlernt werden, um aus ungünstigen Kampfpositionen in aussichtsreiche zurückzugelangen.
  4. Mok Jan Chong / Mok Jan Jong („Holzpuppe“): Dient als Ersatz für einen Trainingspartner und zum intensitätsorientierten Training. Bewegungen werden hier einstudiert und Fehler beseitigt.
  5. Luk Dim Bun Guan / Luk Dim Ban Kwun („Langstock“): Sinn ist hier unter anderem, die Hüfte zu stabilisieren und Fauststöße hart zu machen.
  6. Pa Cham Dao / Bart Cham Dao („Doppelkurzschwerter“, „Doppelmesser“ oder „Schmetterlingsmesser“)

Der Ablauf der Formen ist seit Jahrhunderten überliefert. Yip Man und seine Schüler erarbeiteten eine systematische Lehrmethode der Formen. In der Entwicklungsgeschichte des Wing Chun haben viele Lehrer immer wieder Weiterentwicklungen und Änderungen im Detail und im gesamten Ablauf eingeführt. In den verschiedenen Stilvarianten des Wing Chun existieren deshalb recht unterschiedliche Varianten der Formen. Diese Unterschiede spiegeln natürlich auch unterschiedliches Verständnis und Interpretation der Techniken und Prinzipien wider.

Auch heute noch werden zuweilen Änderungen in der Ausführung eingeführt, was mit der Lebendigkeit der Kampfkunst erklärbar ist. Hierzu gibt es Meinungsverschiedenheiten bei den Anhängern verschiedener Stilrichtungen. Fast jede Schule variiert zumindest die Siu Nim Tao minimal. Insider können an Details der Ausführung erkennen, bei wem der Schüler gelernt hat.

Chi Sao

Ein essentieller Bestandteil des Wing Chun ist das Chi Sao („Klebende Hände“). Chi Sao trainiert in erster Linie die taktilen Reflexe und außerdem Standfestigkeit und Balance, den richtigen Abstand zum Gegner in der Nahdistanz. Erstgenannte sensibilisieren das Gespür für Lücken in der gegnerischen Abwehr, wodurch auch das aktive Provozieren von Fehlern beim Gegner ermöglicht wird. Chi Sao ist keine eigenständige Technik für den freien Kampf, sondern ein Trainingshilfsmittel. Die Besonderheit am Chi Sao ist, dass der Schüler von den langsameren visuellen Reflexen weg zur taktilen Wahrnehmung hin erzogen wird. Es wird hier davon ausgegangen, dass es in der Nahdistanz, die oft auch als „Trappingdistanz“ bezeichnet wird, nicht mehr rechtzeitig möglich ist, gegnerische Aktionen visuell zu erkennen und abzuwehren. Daher wird mit dieser Trainingsmethodik der Kontakt zum Gegner ausgenutzt, um dessen Aktionen über den schnelleren Sinn der Taktilität erkennen zu können.

Beim Chi Sao stehen sich zwei Trainingspartner in einer festgelegten Ausgangsstellung gegenüber und nehmen mit den Armen Kontakt zueinander auf. In der Regel wird dann mit festgelegten Anfangsbewegungen (z. B. „rollende Arme“) begonnen, worauf dann zu freier Anwendung verschiedener Techniken übergegangen wird. Chi Sao kann entweder als feste Folge von Techniken mit verschiedenen Übergängen trainiert werden, die dann frei variiert werden können, oder es wird das sogenannte Go Sao trainiert, welches eine Art Sparring auf Chi-Sao-Distanz darstellt. Hierbei gibt es keinerlei Regeln zu Abläufen, es ist ein freier Kampf in der Nahdistanz.

Das Chi Sao wird innerhalb der einzelnen Wing-Chun-Stile unterschiedlich interpretiert. Wing Tsun legt viel Wert auf das „Kleben der Arme“, während Ving Tsun den Kontakt leichter löst, um Schläge anzubringen.

Verbandswesen

Familiäre Struktur in Hong Kong

Im alten China wurde das Wing Chun in einem „familiären“ Charakter jeweils von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Der Lehrer, der die persönliche Verantwortung für die gesamte Ausbildung der Schüler hatte, wurde als „Vater-Lehrer“ (Sifu) angesehen. Der Unterricht fand gegen Bezahlung oft im Wohnhaus des Lehrers statt, eine persönliche Bindung zwischen Lehrer und Schüler, mit bestimmten gegenseitigen Verpflichtungen, war die Regel. In Hongkong wurden die ersten öffentlichen Schulen gegründet. Seitdem nahm der Unterricht im Wing Chun stärker einen kommerziellen und „modernen“ Charakter an.

Verbandsstruktur in Europa

Heutzutage ist in Europa und insbesondere in Deutschland eine starke Kommerzialisierung des Wing Chun erkennbar. Zahlreichen Sportvereinen mit ihrer gemeinnützigen Struktur und ihrer breitensportlichen Ausrichtung stehen viele kommerziell orientierte Wing-Chun-Verbände gegenüber.

Anders als bei vielen Sportarten gibt es derzeit nicht einen Wing-Chun-Dachverband, sondern zahlreiche konkurrierende Verbände und Schulen. Die meisten Verbände treten dabei nicht in der Rechtsform der gemeinnützigen Vereine auf, die sich freiwillig zu einem Verband zusammengeschlossen haben, sondern als kommerzielle Organisationen, in denen assoziierte Schulen eingegliedert sind, welche vom Verbandsgründer autorisiert und zertifiziert werden. Manche der Verbände sind in einem Franchise-System organisiert.

In einigen Verbänden werden in Anlehnung an das früher übliche Familiensystem Gehorsam und Verpflichtungen gegenüber dem Lehrer (Sifu) und dessen Lehrern (Si-Gung, Si-Jo) betont, obwohl diese an der Ausbildung ihrer Schüler selten noch direkt beteiligt sind.

In vielen Verbänden werden neben der Kampfkunst Wing Chun auch noch weitere Inhalte vermittelt. Häufig gehört dazu die philippinische Kampfkunst Eskrima oder eigene Neuentwicklungen und Kombinationen mit anderen Kampfkünsten. Bisweilen haben die Verbände auch philosophische, medizinische und esoterische Sparten.

Der Konflikt um die Schreibweise

Da es für die kantonesische Sprache bislang keine einheitlichen, überall anerkannten Transkriptionsregeln zur Übertragung in die lateinische Schrift gibt, existieren zahlreiche Schreibweisen für die Kampfkunst Wing Chun, die sich aber in der Regel phonetisch sehr ähnlich sind. Dieses Problem wurde vor allem in jüngster Zeit noch dadurch verstärkt, dass Wing Chun durch zunehmende Popularität immer intensiver kommerziell verwertet wurde und einige Schreibweisen in manchen Ländern als Warenzeichen angemeldet wurden.

Die Schreibweise Ving Tsun wird international häufig als übergreifende Bezeichnung aller auf Großmeister Yip Man zurückgehenden Stile benutzt. In Europa hat sich allerdings Wing Chun als übergreifende Bezeichnung weitgehend durchgesetzt. In Deutschland werden heutzutage zahlreiche Namensvarianten verwendet, wie sie auch am Anfang des Artikels zu finden sind.

Im direkten Umfeld Yip Mans wurden die folgenden Schreibweisen geprägt:

  • Ving Tsun (VT) wurde von Yip Man selbst verwendet. Hintergrund für diese Namenswahl war vermutlich das „V“ von Victory (engl. „Sieg“). Wong Shun Leung und Moy Yat übernahmen diese Schreibweise.
  • Wing Chun wird von Yip Mans Söhnen Yip Ching und Yip Chun und den direkten Schülern Lo Man Kam und Lok Yiu verwendet. In Europa wird Wing Chun meist als übergreifende Bezeichnung benutzt.
  • Wing Tsun (WT) steht für den Stil von Leung Ting.

Graduierungen

In Südchina wie auch in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong wurde Wing Chun traditionell ohne ein Graduierungssystem gelehrt. Der Unterricht erfolgte ohne feste Lehrpläne. Sogenannte Lehrergrade wurden erst in Hongkong eingeführt, Schülergrade in Europa. In dieser Zeit wurden auch feste Lehrpläne eingeführt. Über Sinn und Zweck der Graduierungen bestehen unterschiedliche Ansichten, sie existieren nicht in allen Verbänden und Vereinen.

Literatur

  • Robert Chu; Rene Ritchie; & Wu, Y.: Complete Wing Chun: The Definitive Guide to Wing Chun's History and Traditions. Boston: Tuttle Publishing 1998, ISBN 0-8048-3141-6
  • Leung Ting: Wing Tsun Kuen. Hong Kong: Leung's Publications 1978, ISBN 962-7284-01-7

Weblinks


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