Wissenschaftsglaube

Wissenschaftsglaube

Szientismus (von lat. scientia = Wissen, Wissenschaft, auch Szientizismus, Scientismus) ist ein von dem französischen Biologen Félix le Dantec ursprünglich affirmativ verwendeter Begriff für die Auffassung, dass sich mit naturwissenschaftlichen Methoden alle sinnvollen Fragen beantworten lassen.[1][2] In der Folge wurde der Neologismus jedoch meist abwertend verwendet. Darüber hinaus bezieht sich Szientismus auf die Forderung nach einer Anwendung der wissenschaftlichen Methoden für Praktiken in nahezu allen gesellschaftlichen Teilbereichen, insbesondere der Politik.[3] Szientismus ist demnach die Auffassung, dass es nichts außerhalb des Gegenstandbereichs der Wissenschaft gäbe, noch einen Bereich menschlicher Aktivität, auf den sich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht erfolgreich anwenden ließen.[4][5] Der Szientismus geht dabei von einem positivistischen Verständnis dieser Methoden aus und wird daher oft mit dem Positivismus oder mit einer extremen Haltung des Positivismus gleichgesetzt.[6][7] Der Philosoph Daniel Dennett hebt hervor, dass der Vorwurf des Szientismus oft auf eine Immunisierung gegen naturwissenschaftliche Kritik hinauslaufe.[8][9] Von anderen Autoren wird Szientismus als eine spezielle Form des Reduktionismus angesehen.[10] Andere Formen des Reduktionismus wären etwa Psychologismus, Soziologismus oder Ökonomismus. Vom Vorwurf der „Wissenschaftsgläubigkeit“ unterscheidet sich der Begriff des Szientismus dadurch, dass er offen lässt, ob sich die monistische Zurückführung aller Fragen auf Probleme der Naturwissenschaft ihrerseits wissenschaftlich begründen lässt oder einen Glaubenssatz darstellt.

Inhaltsverzeichnis

Beispiele

Nach Auffassung des Biologen U. Kutschera baue auf der Arbeit der Naturwissenschaftler „letztendlich unser gesamter verlässlicher, technologisch verwertbarer Wissensschatz“ auf.[11][12] Demgegenüber würde die von ihm als „Verbalwissenschaft“ titulierte Geisteswissenschaft lediglich „Tertiärliteratur“ produzieren. In einer Replik auf Kritiker verweist Kutschera darauf, dass Denken „ein biologischer Vorgang und das Verständnis seiner Produkte deswegen Sache der Biologie“ sei.[13][14]

Eine „künstlerische“ Zugangsweise, die auch von tradierten Erfahrungsbeständen, implizitem Wissen und Einfühlungsvermögen geprägt ist, wird seit den späten 1960er Jahren für die Hebammenkunst geltend gemacht.[15] Dabei wird eine als szientistisch verstandene, exklusive Festlegung auf wissenschaftliche Methoden bestritten.[16]

Weiter wird die Intelligent-Design-Bewegung als Beispiel einer szientistischen Bewegung genannt.[17]

Entstehung

Bereits Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei erschütterten das religiöse Weltbild des Mittelalters. Der Glaube an Gott (und übernatürliche Phänomene im weitesten Sinn) wurde mehr und mehr verdrängt von einem naturwissenschaftlichen Weltbild.

Isaac Newton formulierte eine mechanistische Naturauffassung. John Lockes Vorstellung von Gesellschaft als einem mechanischem System, das wie das Universum den Naturgesetzen der Physik unterworfen sei, verhalf dem Positivismus zum Eingang in die Sozialwissenschaften. Dieser Versuch der Begründung der Sozialwissenschaft als positive Wissenschaft durch Auguste Comte wurde dementsprechend als Physikalismus kritisiert.

Die Herausbildung eines sich rationalistisch verstehenden, aber als Szientismus kritisierten Wissenschaftsbegriffs wurde wesentlich durch den Empirismus Francis Bacons und den Intellektualismus René Descartes’ befördert.[18] Während Bacon „die Natur auf die Folter spannen (wollte), bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“, war in Descartes’ Philosophie die mathematische Struktur der Schlüssel zum Universum und „exakte“ Wissenschaft gleichbedeutend mit Mathematik.

Kritische Positionen

Hegel

Die erste Kritik an diesem Wissenschaftsverständnis setzte im Deutschen Idealismus mit Hegel ein. Hegel wendet sich hier gegen den in der „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant entwickelten Objektivitätsbegriff mit seiner transzendentalen und präsuppositionslogischen Begründung. Hegel sieht darin einen zwar antidogmatischen (nicht-materialistisch und nicht-metaphysischen) Begriff von Objektivität, aber doch einen physikalistischen „mechanischen“ Begriff.[19]

Hegel stellt diesem entgegen eine erfahrungslogische Reflexion auf das, was es gibt und was es zu erklären gibt. Hegel gibt damit der aristotelischen Ontologie und Naturhistorie eine diese selbst überschreitende, „transzendente“ andere Richtung. Vor jeder genetisch-ableitbaren oder kausalen Erklärung („woher kommt etwas?“) steht die Formbestimmung dessen, was es zu erklären gibt. Dabei gibt es für Hegel soviele Formen, wie es Gleichheiten gibt, die ihrerseits als Nichtunterscheidungen immer auf einen Relevanz- (bzw. Bedeutungs-) und Kommunikationszusammenhang verweisen. So kann der Empirismus entsubjektiviert, und das transzendentalanalytische Programm Kants entformalisiert werden. Durch Hegels Rückgriff auf eine neu platzierte „historia“ der Formen der Natur und Kultur wird der Erfahrungsbezug als die wesentliche Grundlage für Objektivität eingeführt. Daraus entwickelt sich erst die Einsicht in eine methodische Ordnung in einem komplexen Aufbau von Wissenschaft und Sprache. Die darin geschichteten Präsuppositionen lassen sich nicht einfach durch die „Ergebnisse“ der höheren, explikativen und erklärenden Ebenen „widerlegen“. Hegel argumentiert dabei in der „Logik“ von oben nach unten, nicht aufbauend, sondern präsuppositionsanalytisch. Es werden auf diese Weise die Unterstellungen der verschiedenen Wahrheits-, Gegenstands- und Objektivitätsbegriffe ausführlich deutlich gemacht.

Sein Ergebnis ist: Keine transzendentale Deduktion der Kausalität in einer Theorie des Erfahrungsgegenstandes und erst recht keine kausal erklärende Theorie kann die „empraktische“ Objektivität des Lebens, Handelns und Urteilens in Frage stellen. Auf diese Weise kann Hegel Fichtes Einsicht und Forderung in den Vorrang der tradierten Formen des Handelns und Wissens vor jedem Objektivitätsanspruch einer erklärenden Wissenschaft systematisch begründen. Jede physikalische („mechanische“ oder „chemische“) Erklärung wird gesehen als eingebunden in den Zusammenhang des instrumentellen Handelns und des Interesses an bedingten Prognosen.

Es ist dies die pragmatische Seite des Deutschen Idealismus, die auch bei Martin Heidegger in seine Existenzphilosophie zu finden ist. Hegels Philosophie aufgrund ihrer prinzipiellen Beschränkung der Wissens- und Erklärungsansprüche war nicht nur gegen eine szientistische Kosmologie gerichtet, sondern auch für die einzelnen empirischen Wissenschaften, sowie für den Fortschrittsglauben des späteren 19. Jahrhunderts und für das Selbstbewusstsein der wissenschaftlichen Aufklärung des 20. ein Stein des Anstoßes.

Stekeler-Weithofer meint: „Man unterstellt ihr den Herrschaftsanspruch des Platzanweisers und verkennt ihr „spekulatives“ Bemühen um topographische oder logische Übersicht. Es geht in diesem Streit aber weniger um Hegel als um den Begriff kritischer Philosophie. Denn eines kann diese nie sein: Magd einer theologischen oder szientistischen Kosmologie oder Weltanschauung.“ [19]

Friedrich A. von Hayek

Im Zusammenhang seiner Vorstellung, dass der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ eine angemessenere Beschreibung des Marktgeschehens biete als die neoklassischen Gleichgewichtsmodelle der Ökonomie, hat Friedrich August von Hayek von den Naturwissenschaften inspirierte sozialwissenschaftliche Methoden als Szientismus kritisiert. Für Wissenschaften, die sich mit komplexeren biologischen, geistigen und gesellschaftlichen Phänomenen befassen, stößt ein physikalistisches Modell hinsichtlich seiner Erklärungs- und Voraussagemöglichkeiten an inhärente Grenzen.[20][21]

Karl Popper

Nach Karl Popper liegt die Gefährlichkeit des Szientismus in seinem falschen Verständnis der naturwissenschaftlichen Methode.[22] Der Szientismus geht demnach davon aus, dass sich Naturwissenschaft durch den Gebrauch einer induktiven Methode auszeichnet und dass eine solche Methode entsprechend auch in anderen Bereichen angewendet werden muss. Nach Popper gibt es jedoch keine induktive Methode, und sie kann daher auch nicht die Methode der Naturwissenschaften sein. In seinem Kritischen Rationalismus vertritt er den Standpunkt, dass es durchaus richtig ist, von einer Einheitsmethode auszugehen, jedoch in Form eines Falsifikationsprinzips, das auf der aktiven Veränderung des Forschungsgegenstands im Experiment zwecks Lösung von Problemen basiert und nicht, wie in der szientistischen Vorstellung, in Form passiver Beobachtung.

Hermeneutik und Diskursethik

Während Poppers Kritik sich gegen ein bestimmtes, positivistisches Verständnis naturwissenschaftlicher Methoden wandte, wurde ihm im sozialwissenschaftlichen Methodenstreit von Vertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule seinerseits der Vorwurf des „Positivismus“ gemacht. Dieser Methodenstreit geht letztlich auf den Unterschied zwischen Methodenmonismus, d. h. einer Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften und einem Methodendualismus zurück. Dabei wird die Orientierung an den Naturwissenschaften auf der Basis eines hermeneutischen Wissenschaftsverständnisses und unter Rückgriff auf Wilhelm Diltheys Unterschied zwischen erklärenden und verstehenden Ansätzen in der Wissenschaft kritisiert.[23] Auch Jürgen Habermas Kritik am Szientizismus in „Erkenntnis und Interesse“ ist unter anderem von dieser Tradition beeinflusst. Darüber hinaus greift Habermas jedoch auch das vom Phänomenologen Edmund Husserl in die Philosophie eingeführte Konzept der Lebenswelt auf, das auch bei Husserl Grundlage für eine Kritik der positiven Wissenschaften war.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Félix le Dantec in La Grande Revue (1911): Je crois à l'avenir de la Science: je crois que la Science et la Science seule résoudra toutes les questions qui ont un sens; je crois qu'elle pénétrera jusqu'aux arcanes de notre vie sentimentale et qu'elle m'expliquera même l'origine et la structure du mysticisme héréditaire anti-scientifique qui cohabite chez moi avec le scientisme le plus absolu. Mais je suis convaincu aussi que les hommes se posent bien des questions qui ne signifient rien. Ces questions, la Science montrera leur absurdité en n'y répondant pas, ce qui prouvera qu'elles ne comportent pas de réponse. [1].
  2. Vgl. auch Françoise Balibar: "Le scientisme, Lacan, Freud et Le Dantec", Alliage 52 (2002) [2].
  3. Dirk Jörke: Demokratie als Erfahrung: John Dewey und die politische Philosophie der Gegenwart, VS Verlag, 2003. S. 84.
  4. Mikael Stenmark: "What is Scientism?", Religious Studies, Bd. 33, Nr. 1 (März 1997), S. 15 ff.
  5. Vgl. auch die Definition von Jürgen Habermas, nach der Szientizismus ein Verständnis von Wissenschaft impliziert, das andere, ebenso legitime Möglichkeiten der Wissensgenerierung ausschließt, Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, 1968, S. 13
  6. Robert Bannister: „Behaviorism, Scientism and the Rise of The "Expert"“
    Haack, Susan, (2003). Defending Science Within Reason: Between Scientism and Cynicism. Amherst, NY: Prometheus Books
  7. Rey, Abel. „Review of La Philosophie Moderne“, The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 6.2 (1909): 51-53.
    cf. Abraham Maslow: „There are criticisms of orthodox, 19th Century scientism and I intend to continue with this enterprise.“ Toward a Psychology of Being, Preface to 1st edition
  8. Auf Kritik an seinem Buch Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon antwortete er: „wenn jemand eine wissenschaftliche Theorie vertritt, die [religiösen Kritikern] überhaupt nicht schmeckt, dann beantworten sie das schnell mit dem Vorwurf des 'Szientismus'.“
  9. Byrnes, Sholto. „'When it comes to facts, and explanations of facts, science is the only game in town'New Statesman 10 Apr. 2006.
  10. John Heil: "Levels of Reality", Ratio, Bd. 16, Nr. 3, September 2003 , S. 205.
  11. Ulrich Kutschera: „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie“, Laborjournal 15 (2008), S. 32 f. [3]
  12. Vgl. auch Handelsblatt vom 4.9.2008: Wo Körper und Geist sich treffen, [4]
  13. Ulrich Kutschera: Das Reale und Verbale in den Wissenschaften [5]
  14. Vgl. auch Alexander Kissler: "Deutschlands wichtigste Vordenker", Cicero 2008, Nr. 10, S. 120 ff., 124.
  15. Vgl. Marion Stadlober-Degwerth: (Un)Heimliche Niederkunften : Geburtshilfe zwischen Hebammenkunst und medizinischer Wissenschaft, Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2008.
  16. Lorraine Olszewski: "Is Scientism Destroying Nursing?", The American Journal of Nursing, Bd. 67, Nr. 5 (Mai 1967), S. 1052.
  17. siehe Einleitung von Daniel J. Kevles zu N.C. Comfort (editor): The Panda's Black Box. The Johns Hopkins University Press (2007) ISBN 0-8018-8599-X
  18. Vgl. zu Bacon: Friedrich A. Hayek: "Francis Bacon: Progenitor of Scientism", in: National Review, July 16, 1960, 23 ff.
  19. a b Stekeler-Weithofer, Pirmin: "Hegels Analytische Philosophie", Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1992, ISBN 3-506-78750-0
  20. Viktor Vanberg: Mathematikmanie und Krise der Ökonomik, [6]
  21. F. A. Hayek: „Szientismus und das Studium der Gesellschaft“, in: Mißbrauch und Verfall der Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck 2004 [1952], S. 3 ff.
  22. Karl Popper: Die Einheit der Methode. Das Elend des Historizismus (Mohr Siebeck, 2003), 7. Auflage, ISBN 3-16-148025-2.
  23. Vgl. z.B. Karl-Otto Apel: "Communication and the Foundations of the Humanities", Acta Sociologica, Bd. 15, Nr. 1, Problems in the Philosophy of Social Science (1972), S. 7 ff, 10.

Literatur

  • Tom Sorell: Scientism. Routledge 1991

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