Ödön von Horvath

Ödön von Horvath
Ödön von Horváth im Jahr 1919
Unterschrift von Ödön von Horváth

Edmund Josef von Horváth (bekannt als Ödön von Horváth; * 9. Dezember 1901 in Fiume, heute Rijeka; † 1. Juni 1938 in Paris) war ein bedeutender österreichisch-ungarischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Bekannt wurde er unter anderem durch seine Stücke Geschichten aus dem Wiener Wald, Glaube Liebe Hoffnung und Kasimir und Karoline sowie durch seine zeitkritischen Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Jugend in Österreich-Ungarn und Studium in München

Gedenktafel am Haus Martin-Luther-Straße 20a in Berlin-Schöneberg

Edmund (ungarisch „Ödön“) Josef von Horváth wird am 9. Dezember 1901 als erster Sohn des österreichisch-ungarischen Diplomaten Dr. Ödön Josef von Horváth und der Maria Lulu Hermine, geb. Prehnal, in Fiume (heute Rijeka, in Kroatien) geboren. Der Vater stammt aus Slavonien und gehört dem Kleinadel an (das Adelsprädikat ist im Ungarischen durch das ‚H‘ am Ende des Nachnamens gekennzeichnet), die Mutter kommt aus einer ungarisch-deutschen k.u.k. Militärarztfamilie.

1902 zieht die Familie nach Belgrad um, 1908 nach Budapest, wo Ödön von einem Hauslehrer in ungarischer Sprache unterrichtet wird. Als sein Vater 1909 nach München versetzt wird, bleibt Ödön zunächst in Budapest und besucht dort das erzbischöfliche Internat, das „Rákóczianum“. 1913 zieht er zu seinen Eltern und lernt erstmals die deutsche Sprache. Er siedelt dann mit der Familie nach Pressburg, später nach Budapest um und kommt schließlich, als die Eltern wieder nach München ziehen, nach Wien in die Obhut seines Onkels Josef Prehnal. Dort legte er 1919 an einem Privatgymnasium seine Matura ab und schreibt sich noch im selben Jahr an der Universität München ein, wo er bis zum Wintersemester 1921/22 psychologische, literatur-, theater- und kunstwissenschaftliche Seminare besucht.

Etablierung als Bühnenautor

Horváth beginnt 1920 zu schreiben. Ab 1923 lebt er vor allem in Berlin, Salzburg und bei seinen Eltern im oberbayrischen Murnau; er widmet sich immer intensiver der Schriftstellerei, vernichtet jedoch viele Texte aus dieser Zeit. Der junge Dichter bindet sich an keine Partei, sympathisiert aber mit der Linken; er sagt als Zeuge in einem NS-Prozess aus und warnt in seinen Stücken, z.B. in Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929), zunehmend vor den Gefahren des Faschismus. 1929 tritt er aus der katholischen Kirche aus.

Horváths Ruhm als Dichter erlebt im Jahr 1931 einen ersten Höhepunkt, als er auf Anregung Carl Zuckmayers gemeinsam mit Erik Reger mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wird und sein bisher erfolgreichstes Bühnenstück Geschichten aus dem Wiener Wald aufgeführt wird. Als die SA nach Hitlers Machtergreifung 1933 die Villa seiner Eltern in Murnau durchsucht, verlässt Horváth Deutschland und lebt in den folgenden Jahren in Wien und in Henndorf bei Salzburg als eines der wichtigsten Mitglieder des Henndorfer Kreises um Carl Zuckmayer. Um zu überleben, versucht er noch 1934, trotz seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, dem Reichsverband deutscher Schriftsteller beizutreten und wird Mitglied der Union nationaler Schriftsteller.[1]

Verfolgung und Emigration

Weil seine Stücke in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden, verschlechtert sich Horváths finanzielle Situation zusehends. Erst 1937, als sein Roman Jugend ohne Gott in Amsterdam erscheint, kann er wieder einen größeren Erfolg verzeichnen; der Roman wird in mehrere Sprachen übersetzt, aber bereits 1938 in die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommen und im Reichsgebiet eingezogen.

Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 fährt Horváth nach Budapest und Fiume, bereist einige andere Städte und kommt Ende Mai nach Paris. Am 1. Juni trifft er im Café Marignan den Regisseur Robert Siodmak, um mit ihm über die Verfilmung des Romans Jugend ohne Gott zu sprechen. Doch noch am selben Abend wird Horváth während eines Gewitters auf den Champs-Élysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Seine Beerdigung fand am 7. Juni auf dem Pariser Friedhof Saint-Ouen in Anwesenheit vieler Exilautoren statt. Er ruht seit 7. Juni 1988 in einem ehrenhalber gewidmeten Grab auf dem Heiligenstädter Friedhof (Teil A, Gruppe M, Nummer 4) in Wien.

Seine Werke erfuhren in den 60er Jahren eine Renaissance. In der Folgezeit etablierte sich Horváth als der „Klassiker der Moderne“.

Literarische Bedeutung

Sozialpolitische Stoffe bilden den Kristallisationskern von Horváths dramatischem Oeuvre. Anhand von Einzelschicksalen pauperisierter, perspektivloser Kleinbürger sowie von Frauengestalten in drastischer patriarchaler Abhängigkeit zeichnet er Bilder einer entfremdeten und sozial depravierten Gesellschaft. In späten Arbeiten treten religiöse Fragestellungen im Sinne von Verantwortung und Schuld als Kategorie menschlichen Handelns hinzu. Im Prosa-Spätwerk (Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit) setzt Horváth sich mit dem Aufstieg des Faschismus auseinander.

Horváth gilt als Erneuerer des Volksstücks. In seinen dramatischen Arbeiten kritisiert er den artifiziellen „Bildungsjargon“, den er mittels einer künstlichen und kommunikationslosen „Dialogsprache“ zu entlarven trachtet [2]: „Es hat sich nun durch das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet, nämlich durch den Bildungsjargon. Um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu können, muß ich also den Bildungsjargon sprechen lassen. Der Bildungsjargon (und seine Ursachen) fordert aber natürlich zur Kritik heraus -- und so entsteht der Dialog des neuen Volksstücks, und damit der Mensch und damit erst die dramatische Handlung -- eine Synthese aus Ernst und Ironie.“ [3]

„Ich bin eigentlich ganz anders“

Horváths wohl bekanntester Ausspruch ist: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ (aus Zur schönen Aussicht). Diese Sentenz wurde von den deutschen Sängern Udo Lindenberg und Jan Delay zur Grundlage eines Lieds (Ganz Anders) gemacht, das Platz 28 der deutschen Charts erreichte.

Werke

Theaterstücke

  • Das Buch der Tänze, 1920
  • Mord in der Mohrengasse, 1923
  • Zur schönen Aussicht, 1926 (Verfilmungen: A 1970; D 1972, Regie: Hans Hollmann)
  • Die Bergbahn, 1926, ursprünglich Revolte auf Côte 3018
  • Sladek der schwarze Reichswehrmann, 1929, ursprünglich Sladek oder Die schwarze Armee (Verfilmung: D 1976, Regie: Oswald Döpke)
  • Rund um den Kongreß, 1929
  • Die Lehrerin von Regensburg, 1930, Fragment, nach dem authentischen Fall der Regensburger Lehrerin Elly Maldaque
  • Italienische Nacht, 1931 (Verfilmung: D 1966, Regie: Michael Kehlmann)
  • Geschichten aus dem Wiener Wald, 1931 (Verfilmungen: A 1961, Regie: Erich Neuberg; D 1964, Regie: Michael Kehlmann; D/A 1979, Regie: Maximilian Schell; Légendes de la forêt viennoise, F 1993, Regie: André Engel; D 1999, Regie: Martin Kusej)
  • Glaube Liebe Hoffnung, 1932 (Verfilmung: Geloof, hoop en liefde, BEL 1977, Regie: Jean-Pierre De Decker, Dré Poppe; D 1980, Regie: Michael Kehlmann)
  • Kasimir und Karoline, 1932 (Verfilmungen: D 1959, Regie: Michael Kehlmann; Août, F 1992, Regie: Henri Herré)
  • Die Unbekannte aus der Seine, 1933
  • Hin und her, 1934 (Verfilmung: FIN 1948, Regie: Theo Lingen; D 1954, Regie: Erich Geiger)
  • Mit dem Kopf durch die Wand, 1934
  • Don Juan kommt aus dem Krieg, 1936
  • Figaro lässt sich scheiden, 1936
  • Pompeji. Komödie eines Erdbebens, 1937
  • Ein Dorf ohne Männer, 1937 (Verfilmung: A 1969, Regie: Michael Kehlmann)
  • Himmelwärts, 1937
  • Der jüngste Tag, 1937 (Verfilmung: ...und führe uns nicht in Versuchung, D 1957, Regie: Rolf Hansen; A 1960, Regie: Erich Neuberg; D 1961, Regie: Michael Kehlmann; De Jongste dag, BEL 1970, Regie: Dré Poppe; Freigesprochen, A 2007, Regie: Peter Payer)

Romane

  • Sechsunddreißig Stunden, 1929
  • Der ewige Spießer, 1930
  • Jugend ohne Gott, 1937 (Verfilmungen: Nur der Freiheit gehört unser Leben, D 1969, Regie: Herbert Knopp; Wie ich ein Neger wurde, D 1971, Regie: Roland Gall; D 1991, Regie: Michael Knof; Jeunesse sans Dieu, F/BEL 1996, Regie: Catherine Corsini)
  • Ein Kind unserer Zeit, 1938 (Verfilmung: Un fils de notre temps, F 2003, Regie: Fabrice Cazeneuve)
  • Adieu Europa, 1938 (unvollendetes Romanfragment)

Sonstige Prosa

  • Sportmärchen, 1924-1926
  • Interview, 1932
  • Gebrauchsanweisung, 1932
  • Stunde der Liebe, 1929
  • Das Bitterwasser-Plakat, 19??, erschienen in Die Geschichtenerzähler. Neues und Unbekanntes von Allende bis Zafón. suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. ISBN 978-3-518-46000-9

Hörbücher

  • 36 Stunden. Die Geschichte vom Fräulein Pollinger. Gelesen von Ulrich Tukur, gekürzte Fassung, Tacheles 17282 2002 (2 Audio CD)
  • Mord in der Mohrengasse. Gelesen von Helmut Qualtinger und Vera Borek, ISBN 3-902123-04-4
  • Qualtinger liest Ödön von Horvath. Aus dem Roman „Der ewige Spießer“. Gelesen von H.Q.(1967). ADD. Preiser Records 1994. ISBN 3-902027-51-7

Literatur

Biographien und Gesamtdarstellungen

  • Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. Sammlung Metzler. Bd 326. Metzler Stuttgart 2000. ISBN 3-476-10326-9
  • Dieter Hildebrandt: Ödön von Horváth. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlts Monographien. Bd 231. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, 2001 (10.Aufl.). ISBN 3-499-50231-3
  • Ute Karlavaris-Bremer (Hrsg.): Geboren in Fiume, Ödön von Horváth 1901-1938. Lebensbilder eines Humanisten. Löker, Wien 2001. ISBN 3-85409-356-X
  • Siegfried Kienzle: Ödön von Horváth. Köpfe des 20. Jahrhunderts. Bd 87. Colloquium, Berlin 1984 (2. Aufl.). ISBN 3-7678-0633-9
  • Traugott Krischke: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Ullstein-Buch. Bd 26525. Ullstein, Berlin 1998. ISBN 3-548-26525-1
  • Piero Oellers: Das Welt- und Menschenbild im Werk Ödön von Horvaths. Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. Bd 1087. Lang, Bern 1987. ISBN 3-261-03894-2
  • Christian Schnitzler: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Marburger germanistische Studien. Bd 11. Lang, Frankfurt am Main 1990. ISBN 3-631-42614-3

Zu Einzelwerken

  • Peter Baumann: Ödön von Horváth "Jugend ohne Gott" - Autor mit Gott? Analyse der Religionsthematik anhand ausgewählter Werke. Lang, Bern 2003. ISBN 3-906770-82-6
  • Johanna Bossinade: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. Bd 364. Bouvier, Bonn 1988. ISBN 3-416-01982-2
  • Herbert Gamper: Horváths komplexe Textur. Dargestellt an frühen Stücken. Ammann, Zürich 1987. ISBN 3-250-10048-X
  • Ansgar Hillach: Ödon von Horváths dramatische Anfänge. Zur inhaltlichen Grundlegung seiner Dramaturgie. Nachwort zu Horváths frühe Stücke Mord in der Mohrengasse und Revolte auf Côte 3018. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S.91-137. ISBN 3-518-01768-3

Weitere Einzelaspekte

  • Janusz Golec: Alltag und Glück im Werk Ödön von Horváths. Uniw. Marii Curie-Sklodowskiej. Wydawn, Lublin 2002. ISBN 83-227-2018-1
  • Peter Gros: Plebejer, Sklaven und Caesaren. Die Antike im Werk Ödön von Horváths. Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. Bd 1550. Lang, Bern 1996. ISBN 3-906755-65-7
  • Ingrid Haag: Ödön von Horváth, Fassaden-Dramaturgie. Beschreibung einer theatralischen Form. Literarhistorische Untersuchungen. Bd 26. Lang, Frankfurt am Main 1995. ISBN 3-631-48390-2
  • Martin Hell: Kitsch als Element der Dramaturgie Ödön von Horváths. Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur. Bd 617. Lang, Bern 1983. ISBN 3-261-03252-9
  • Klaus Kastberger, Nicole Streitler (Hrsg.): Vampir und Engel. Zur Genese und Bedeutung der Fräulein-Figur im Werk Ödön von Horváths. Praesens, Wien 2006. ISBN 978-3-7069-0357-8
  • Traugott Krischke: Horváth auf der Bühne. 1926-1938. Dokumentation. Verl. der Österr. Staatsdr. Wien 1991. ISBN 3-7046-0172-1
  • Wolfgang Lechner: Mechanismen der Literaturrezeption in Österreich am Beispiel Ödön von Horváths. Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Bd 46. Heinz, Stuttgart 1978. ISBN 3-88099-047-6
  • Winfried Nolting: Der totale Jargon. Die dramatischen Beispiele Ödön von Horváths. Literatur und Presse. Bd 2. Fink, München 1976. ISBN 3-7705-1314-2
  • Angelika Steets: Die Prosawerke Ödön von Horvaths. Versuch einer Bedeutungsanalyse. Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Bd 11. Heinz, Stuttgart 1975. ISBN 3-88099-010-7

Vergleichende Untersuchungen

  • Angelika Führich: Aufbrüche des Weiblichen im Drama der Weimarer Republik. Brecht - Fleißer - Horváth - Gmeyner. Germanistische Abteilung. Bd 109. Winter, Heidelberg 1992. ISBN 3-533-04494-7
  • Henk J. Koning (2002): Nestroy und Horváth: eine ungleiche Brüderschaft? In: Orbis Linguarum Vol. 21/2002 [3] (eingesehen [26. Januar 2006])
  • Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienrezeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Epistemata, Literaturwissenschaft. Bd 182. Königshausen u. Neumann, Würzburg 1996. ISBN 3-8260-1182-1
  • Hans-Peter Rüsing: Die nationalistischen Geheimbünde in der Literatur der Weimarer Republik. Joseph Roth, Vicki Baum, Ödön von Horváth, Peter Martin Lampel. Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur. Bd 33. Lang, Frankfurt am Main 2003. ISBN 3-631-51072-1
  • Annette Schmollinger: "Intra muros et extra". Deutsche Literatur im Exil und in der inneren Emigration. Ein exemplarischer Vergleich. Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. F. 3, Bd 161. Winter, Heidelberg 1999. ISBN 3-8253-0954-1
  • Elisabeth Tworek-Müller: Kleinbürgertum und Literatur. Zum Bild des Kleinbürgers im bayerischen Roman der Weimarer Republik. tuduv-Studien. Reihe Sozialwissenschaften. Bd 37. tuduv, München 1985. ISBN 3-88073-179-9

Weblinks

Quellen

  1. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, S. 268.
  2. Henk J. Koning: Nestroy und Horváth: eine ungleiche Brüderschaft? In: Orbis Linguarum Vol. 21/2002 [1] (eingesehen [26. Januar 2006])
  3. Ödön von Horváth: Gebrauchsanweisung (1932), [2]

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