Über Seiendes und Wesen

Über Seiendes und Wesen

De ente et essentia ("Über das Seiende und das Wesen") ist eines der Frühwerke des Thomas von Aquin. Es gehört zu den "Opuscula", den kleineren Werken, und ist um 1255 entstanden. Thomas hat es "ad fratres socios", also den Mitbrüdern, gewidmet. Er erläutert darin die Grundbegriffe der aristotelischen Metaphysik. Neben anderen Modifikationen stellt er Zusammenhänge zur christlichen Theologie her. Erklärt werden insbesondere die Begriffe Stoff und Form, Substanz und Akzidenz, sowie Gattung, Art und artbildender Unterschied. Neben Aristoteles diskutiert Thomas auch Boëthius und die arabischen Philosophen Avicebron, Avicenna sowie Averroës.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsangabe

Prolog

Thomas erklärt hier die Motivation seiner Abhandlung. „Seiendes“ und „Wesen“ werden von der Vernunft zuerst erfasst. Weil aber „ein kleiner Irrtum am Anfang am Ende ein großer ist“, müssen diese beiden Begriffe und ihr Verhältnis zu den „logischen Begriffen“ Gattung, Art und Unterschied zuerst geklärt werden.

Kapitel 1

Im ersten Kapitel geht es um den Unterschied zwischen Sein und Wesen. Sein ist dabei der weitere Begriff. „Sein“ kann auf zweifache Weise ausgesagt werden:

  • es ist das, was durch die zehn obersten Gattungen, die Kategorien, eingeteilt wird
  • es ist die „Wahrheit einer Aussage“, das heißt alles, „worüber eine bejahende Aussage gebildet werden kann“.

In der zweiten Wortbedeutung hat auch Blindheit ein Sein, da man sagen kann, dass die Blindheit im Auge „ist“. Die Blindheit hat aber kein Wesen, denn sie ist das Fehlen einer Sache, die natürlicherweise vorhanden sein sollte. Das Wort „Wesen“ (essentia) kann also nur für Seiende in der ersten Bedeutung verwendet werden. Folgende Aspekte von „Wesen“ können unterschieden werden:

  • das, wodurch und worin „Seiendes Sein hat“ (essentia)
  • das, aufgrund dessen ein Seiendes einer bestimmten Art und Gattung angehört: seine Definition oder „Washeit“ (quiditas)
  • das, wodurch ein Seiendes seinsmäßig bestimmt wird: seine Form (forma)
  • das jedem Seienden innewohnende Prinzip des Wirkens: seine Natur (natura)

Kapitel 2

Thomas erörtert hier die Zusammensetzung eines "Zugrundeliegenden" (Hypokeimenon), (z.B. Sokrates) aus Materie (Sokrates' Körper) und Form (Sokrates' Seele). Er vergleicht dies mit der Zusammensetzung des Artbegriffs (z.B. des Begriffs "Mensch") aus Gattung ("Sinnenwesen") und artbildendem Unterschied ("vernunftbegabt"). Die Analogie besteht darin, dass Materie und Gattung das Unbestimmte sind, Form und Unterschied das Bestimmende. Thomas weist jedoch auch auf einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Zusammensetzung hin: Materie und Form sind Teile des Zugrundeliegenden, Gattung und Unterschied dagegen "bezeichnen unbestimmt das Ganze" der Art, sind also keine Teile der Art. Daher kann man sagen "Der Mensch ist vernunftbegabt" oder "Der Mensch ist ein Sinnenwesen", aber nicht "Sokrates ist eine Seele" oder "Sokrates ist (bloß) ein Körper". Analog sagt man "Sokrates ist aus Seele und Körper", aber nicht "Der Mensch ist aus Sinnenwesen und Vernunftbegabung". Thomas behandelt hier auch die Lehre von der "materia signata" als Individuationsprinzip (vgl. auch materia prima).

Kapitel 3

Thomas untersucht in diesem Kapitel verschiedene Betrachtungsweisen des Wesens. Gemäß der absoluten Betrachtung kann man von ihm nur dasjenige aussagen, was ihm als solchem zukommt. So kann man sagen: "Der Mensch (als solcher) ist vernunftbegabt", da alle Menschen vernunftbegabt sind. Die zweite Betrachtungsweise ist die gemäß "dem Sein in den einzelnen Dingen". In diesem Sinne kann man sagen, dass ein (bestimmter) Mensch blond ist, obwohl der Mensch als solcher nicht blond ist. Nach Thomas gibt es noch eine dritte Betrachtungsweise: das "Sein in der Seele". Nur in diesem Sinne kann man sagen, dass der (Begriff) Mensch etwas Allgemeines ist. Thomas' Position im Universalienproblem ist demnach, dass Allgemeinheit eine Leistung des menschlichen Erkenntnisapparates ist. Thomas kritisiert in diesem Kapitel die Lehre des Averroës, nach der alle Menschen Anteil an derselben Seele haben.

Kapitel 4

Das vierte Kapitel behandelt die Substanzen, die nicht aus Form und Materie zusammengesetzt sind, sondern aus bloßer Form bestehen: die menschliche Seele bzw. der menschliche Geist, die Engel und Gott. Auch die Engel bestehen immer noch aus Potentialität und Aktualität, allein Gott ist einfach im Sinne von nicht zusammengesetzt (vgl. Natürliche Theologie und Actus purus). Bei den zusammengesetzten Dingen besteht ein Unterschied zwischen Wesen und Sein: "Jedes Wesen oder jede Washeit kann aber gedacht werden, ohne dass man etwas über sein (ihr) Sein weiß: Ich kann nämlich wissen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, und dennoch nicht wissen, ob er Sein im Reich der Wirklichkeit hat." Im Falle Gottes fallen Wesen und Sein jedoch zusammen (Aseität), dies dient als eine Prämisse in einen "kausalen Gottesbeweis": "Also muss jedes solche Ding, dessen Sein etwas anderes als seine Natur ist, das Sein von einem anderen haben. Und weil alles, was durch ein anderes ist, auf das zurückgeht, was durch sich ist, so wie auf eine erste Ursache, muss es ein Ding geben, das die Ursache des Seins für alle Dinge ist dadurch, dass es selbst nur Sein ist [...] und dies ist die erste Ursache, die Gott ist.".

Kapitel 5

Kapitel fünf ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung der vorangegangenen drei Kapitel. Thomas verdeutlicht noch einmal, dass in Bezug auf das Wesen drei verschiedene Fälle zu unterscheiden sind: Der erste Fall ist der Gottes, wo das Wesen mit dem Sein identisch ist. Der zweite Fall ist der der Engel, wo Wesen und Sein zwar voneinander verschieden sind, das Wesen aber frei von Materie ist. Der dritte Fall, bei dem das Wesen an Materie gebunden ist, liegt bei den Menschen und gewöhnlichen Dingen vor.

Kapitel 6

Das letzte Kapitel ist den Akzidenzien (Eigenschaften) gewidmet. Thomas erörtert eine Gemeinsamkeit zwischen den Akzidenzien und der Form: beide haben sie ein unselbstständiges Sein, sind, um zu existieren, jeweils auf etwas anderes angewiesen: die Form auf die Materie und die Eigenschaft auf ihren "Träger", d. h. auf ein Ding, dem die Eigenschaft zukommt. Z. B. wenn Sokrates die Eigenschaft zukommt, einen Bart zu haben, dann kann diese Eigenschaft nicht ohne Sokrates existieren. Dennoch besteht hier wieder ein wesentlicher Unterschied, denn ebenso wie die Form nicht allein existieren kann, kann auch ihr 'Komplement', die Materie, nicht allein existieren. Im Falle von Träger und Eigenschaft ist die Abhängigkeit insofern eine andere, dass der Träger sehr wohl ohne die Eigenschaft existieren kann. Sokrates wird weiter existieren, auch wenn er sich den Bart abnimmt.

Daneben macht Thomas einen Unterschied zwischen Eigenschaften, die "von wesentlichen Prinzipien" herrühren, wie die Wärme des Feuers, und solchen, die bloß in einer "Geneigtheit" bestehen, wie die Durchsichtigkeit der Luft. Während das Feuer immer warm ist, muss zur Realisierung der Durchsichtigkeit noch etwas außerhalb der Luft hinzukommen, nämlich Licht (z.B. von der Sonne). Thomas nimmt mit dieser Unterscheidung in gewissem Maße die moderne Lehre von den Dispositionen vorweg.

Literatur

Kommentare (bis 1914)

  • Armandus de Bellovisu (†1333); Gedr. 1472
  • Heinrich von Gorrichem/Gorkum († 1431)
  • Gerhardus de Monte (†1480)
  • Johannes Versorius (†1480)
  • Petrus Crockart/von Brüssel (†1514); Gedr. 1509 u. 1514
  • Thomas (Kardinal) von Cajetan/de Vio (†1534); Geschr. 1491
  • Raphael Ripa (†1611); Gedr. 1598 u. 1626
  • Hieronymus Contarini; Gedr. 1616
  • Giuseppe (Kardinal) Pecci (†1890); Erschienen in Zeitschrift 1882
  • Emile Brunetau; Gedr. 1914

Kritische Ausgaben

  • L. Baur, in: Opuscula et textus historiam ecclesiae eiusque vitam atque doctrinam illustrantia. Series scholastica et mystica edita curantibus M. Grabmann et Fr. Pelster. Aschendorff, 1926
  • Leonina-Edition: Sancti Thomae de Aquino Opera omnia, Tomus XLIII. Roma, 1976 (siehe auch Online-Version: http://visualiseur.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9495t)

Deutsche Übersetzungen

  • Thomas von Aquin, Vom Sein und von der Wesenheit. Übersetzung, Einleitung, und Anmerkungen. Ed.: F. Meister. Freiburg im Breisgau, 1935. X, 75 ff.
  • Thomas von Aquin, De ente et essentia. Das Seiende und das Wesen. Ed.: F. L. Beeretz; K. Allgaier. Stuttgart, 1987
  • Thomas von Aquin, Über Seiendes und Wesenheit (De ente et essentia). Lateinisch-Deutsch. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar. Ed.: H. Seidl. Felix Meiner, Hamburg, 1988. LXII, 134 ff.
  • Thomas von Aquin, Über das Sein und das Wesen. Deutsch-lateinische Ausgabe. Übersetzt und Erläutert. Ed.: R. Allers. Hegner, Wien, 1936; Olten, Köln, 1953; Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980 u. 1991. 166 ff.
  • Thomas von Aquin, De ente et essentia. Über das Seiende und das Wesen. Lateinisch-Deutsch. Ed.: W. Kluxen; P. Hoffmann. Freiburg im Breisgau - Basel - Wien, 2007. 111 ff.

Sekundärliteratur

  • Martin Grabmann: Die Schrift „De ente et essentia“ und die Seinsmetaphysik des heiligen Thomas von Aquin, in: Mittelalterliches Geistesleben, Bd.1, München, 1975. S. 314 - 331.
  • Horst Seidl: Analytische Gliederung; Hauptaspekte; Interpretationsprobleme;, in: Thomas von Aquin - Über Seiendes und Wesenheit, Hamburg, 1988. S. X - LVII.]

Weblinks (Texte, Kommentare, Sonstiges)

Siehe auch

Analogia entis, Ontologie, Transzendentalien, Akt-Potenz


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