Στοά

Στοά

Als Stoa (griech. Στοά) wird eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte bezeichnet. Tatsächlich geht der Name (griechisch στοὰ ποικίλη – „bemalte Vorhalle“) auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem Marktplatz von Athen, zurück, in der Zenon von Kition um 300 v. Chr. seine Lehrtätigkeit aufnahm. Ein besonderes Merkmal der stoischen Philosophie ist die kosmologische, auf Ganzheitlichkeit der Welterfassung gerichtete Betrachtungsweise, aus der sich ein in allen Naturerscheinungen und natürlichen Zusammenhängen waltendes göttliches Prinzip ergibt. Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe zur Weisheit strebt.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungszusammenhang der stoischen Philosophie

Die parallele Entstehung der beiden großen philosophischen Schulen der Epikureer und der Stoa fiel sicherlich nicht zufällig in eine Zeit, in der der bis dahin die Normen bestimmende, individuelle Orientierung und Halt gewährende, aber auch zur Einordnung verpflichtende Polis-Verband in die Krise geraten war. Gerade Athen, wo nach der platonischen Akademie und dem aristotelischen Peripatos auch diese beiden philosophischen Richtungen entstanden, war nach eineinhalb Jahrhunderten politischer Machtentfaltung und kultureller Blüte als Stadtstaat in einer ungewissen neuen Lage: Seit Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Selbstbehauptungskämpfen gegenüber dem expandierenden Königreich Makedonien engagiert, musste es im Zerfallsstadium des von Alexander dem Großen eroberten Vielvölkerreichs und im Zuge der Diadochenkämpfe sich eine unmittelbare makedonische Vorherrschaft und die Abschaffung der bis dahin noch bestehenden Attischen Demokratie gefallen lassen – eine grundlegende Veränderung des bis dahin nicht ernsthaft angefochtenen politisch-sozialen Koordinatensystems.

Die Situation begünstigte also das Entstehen neuer weltanschaulicher Deutungsmöglichkeiten mit entsprechenden Reflexionen über deren Konsequenzen für die individuelle Lebensausrichtung. Gemeinsam war Epikureern und Stoikern die Frage nach dem richtigen Weg zum eigenen Seelenheil, für das die Polis nicht mehr der geeignete Bezugsrahmen schien. Konträr waren jedoch die jeweiligen Schlussfolgerungen sowohl in politisch-weltanschaulicher Hinsicht als auch – und dazu jeweils passend – in der ethischen Ausrichtung des individuellen Verhaltens. Dem Athener Epikur, der in der Krise der Polis jeglicher politischen Betätigung eine Absage erteilte und ein rational gesteuertes, wohldosiertes Genussleben zum Leitbild für das individuelle Seelenheil und Lebensglück machte, setzte der aus dem zyprischen Kition stammende Zenon ein über die Polis weit hinausgreifendes, kosmopolitisches Bindungsbewusstsein gegenüber, in dem das individuelle Streben aufgehen und die Seele Ruhe finden sollte.

Stoiker im chronologischen Überblick

Periode Name Lebensdaten Bemerkungen
ältere Stoa Zenon von Kition 333–264 v. Chr. Gründer der Stoa
Kleanthes von Assos 331–232/1 v. Chr. 2. Schulhaupt von 262–232/1 v. Chr.
Ariston von Chios 3. Jh. v. Chr.
Chrysippos von Soli 276–204 v. Chr. 3. Schulhaupt ab 232/1 v. Chr.
Zenon von Tarsos 4. Schulhaupt
Diogenes von Babylon 240–150 v. Chr. 5. Schulhaupt
Antipatros von Tarsos  ?–137 v. Chr. 6. Schulhaupt von 140–129 v. Chr.
mittlere Stoa Panaitios von Rhodos 180–ca. 110 v. Chr. 7. Schulhaupt von 129–109 v. Chr.
Poseidonios von Apameia 135–51 v. Chr.
jüngere Stoa Seneca, Lucius Annaeus 1–65 n. Chr.
Gaius Musonius Rufus 30–80 n. Chr.
Epiktetos 50–ca. 138 n. Chr.
Mark Aurel 121–180 n. Chr.

Kernaspekte der Lehre

Die stoische Philosophie hat während der Jahrhunderte ihrer Überlieferung und Weiterentwicklung mancherlei Wandlung durchlaufen und die Fähigkeit entwickelt, sich neuen Einsichten zu öffnen und bei ihren führenden Köpfen unterschiedliche Akzente und Spielarten zuzulassen. Auch diese Weltoffenheit und Anpassungsfähigkeit hat zu ihrer Langlebigkeit entscheidend beigetragen. Andererseits gibt es konstante Merkmale, die ihr ein unverwechselbares Gepräge geben. Sie finden sich in allen drei Bereichen des stoischen Lehrgebäudes, der Physik, die die materielle Seite des stoischen Weltbilds umfasst, der Logik, die auf Erkenntnis, Erklärung und Beweisführung gerichtet ist, sowie der Ethik, die das Zentrum der stoischen Philosophie bildet.

Physik und Kosmologie

Die einprägsamste Kurzformel für das stoische Weltbild hat – wie in manch anderer Hinsicht noch – Kaiser Mark Aurel als letzter der überlieferten bedeutenden Stoiker hinterlassen (Selbstbetrachtungen VII, 9):

„Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd. Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie derselben Welt. Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz, eine Vernunft, allen vernünftigen Wesen gemein, und eine Wahrheit, so wie es auch eine Vollkommenheit für all diese verwandten, derselben Vernunft teilhaftigen Wesen gibt.“

Aus einem Urfeuer, dem Äther, entsteht in stoischer Sicht alles Seiende. Aller Stoff (Hyle) ist durch göttliche Vernunft (Logos) beseelt. So ist die stoische Lehre gleichermaßen materialistisch wie pantheistisch: Das göttliche Prinzip durchwirkt den Kosmos in allen seinen Bestandteilen und ist (nur) in ihnen anzutreffen.

Die Stoiker sind von der strengen Kausalität allen Geschehens überzeugt. Was immer in der Welt und unter Menschen vorkommt, beruht demnach auf einer lückenlosen Kausalkette. Wo diese nicht nachweisbar ist, versagt unser Erkenntnisvermögen. Auch der Einzelne ist durch das Schicksal (Heimarmene) bestimmt und tut gut daran, sich nicht gegen die Vorsehung (Providentia) zu stellen.

Bertrand Russel urteilt in seinem Werk „Philosophie des Abendlandes“ über die stoische Kausalitätslehre geringschätzig: „Wenn die Welt vollkommen deterministisch ist, dann werden die Naturgesetze bestimmen, ob ich tugendhaft sein werde oder nicht.“ Seine Bilanz des stoischen Kosmos: „Vernichtung der gegenwärtigen Welt durch Feuer und anschließend Wiederholung des gesamten Vorganges. Kann man sich etwas Sinn- und Zweckloseres vorstellen?“[1]

Pierre Hadot dagegen sieht die menschliche Freiheit von den Stoikern nicht aller Räume beraubt. Durch sein Sprachvermögen gelange der Mensch in „ein anderes Universum, welches nicht von derselben Art ist wie das Universum der Kausalität, nämlich das Universum des Sinns und des Wertes.“ Darin habe der Mensch nach stoischer Auffassung die Möglichkeit, die vom Schicksal verursachten Ereignisse selbst als gut oder schlecht zu bewerten und einzuordnen. „Der Wert der Dinge hängt demnach von der moralischen Haltung ab, die wir ihnen gegenüber einnehmen. Philosophie besteht also genau darin, zu wählen, sich die Dinge in einer bestimmten Art und Weise vorzustellen“.[2]

Damit stellten sich schon seit den Anfängen der stoischen Philosophie Fragen nach der individuellen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. Chrysippos von Soli, der nach Zenon wegen seiner überragenden dialektischen Fähigkeiten als zweiter Begründer der Stoa galt, hat die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun am Beispiel von Triebregung und Verhaltenskonsequenz dargelegt. Die Vernunftanlage des Menschen gibt ihm die Möglichkeit und stellt ihn vor die Aufgabe, die mit der Triebregung verbundene Vorstellung zu prüfen und darüber zu befinden, ob ihr zu folgen oder ob sie zurückzuweisen ist. Die innere Verfassung des Individuums gibt den Ausschlag:

„Wenn jemand eine Walze auf eine schiefe Ebene wirft, gibt er allerdings den äußeren Anstoß zur Bewegung; aber die eigentliche Ursache, dass die Walze herabrollt, liegt in ihrer Gestalt, also in ihrem eigenen Wesen.“

Logik

„Logos“ hat für Stoiker sowohl die Bedeutung von Sprache als auch von Vernunft. „Logik“ umfasst dann einerseits die formalen Regeln des Denkens und korrekten Argumentierens als auch jene Teile der Sprache, in denen gedankliche Operationen zum Ausdruck gebracht werden. „Etwas wissen heißt für die Stoa, eine Aussage behaupten können, die nachweisbar wahr ist.“[3]

Nach der stoischen Erkenntnislehre wird nur als wahr anerkannt, was nach methodisch korrektem Einsatz des "Kriteriums" (der Ausdruck lässt sich nur näherungsweise als "Organ der Auffassung" übersetzen) unmittelbar einleuchtet. Nur ein selbstbeherrschter Mensch gelangt zu zutreffenden Wahrnehmungen, während ein von Trieben und Gefühlen geleiteter Mensch zur Erfassung der Wahrheit und demgemäßen Handeln unfähig ist.

Da Erkenntnis und deren Vermittlung sich im Medium der Sprache vollziehen, haben die Stoiker gemäß ihrem Ansatz, die Kausalketten möglichst lückenlos aufzuweisen, gründliche Studien zu Grammatik und Logik betrieben, haben die Deklinations- und Tempuslehre entwickelt und als erste eine systematische Sprachlehre geschaffen. Das Kernstück der stoischen Logik war eine stringente Aussagenlogik, die an den megarischen Philosophen Diodoros und Philon anknüpfte und deren Ansätze weiter entwickelte. Der bedeutendste stoische Logiker war Chrysippos von Soli, der im Rahmen seiner umfangreichen grammatikalischen Logik den ersten formal präzisen Aussagenkalkül schuf und damit die spätere stoische Logik prägte.

Gegründet auf die stoische Sprachlehre waren als weitere Kernbereiche der Logik die Dialektik und die Rhetorik zu schulen, erstere als Methode der Wahrheitsfindung bzw. Erkenntnissicherung, die zweite als jene Kunst, das Entdeckte in überzeugend gegliederter und sprachästhetisch ansprechender Form mitzuteilen. Zenon bereits pflegte das Verhältnis von Dialektik und Rhetorik durch Gesten zu veranschaulichen: die geballte Faust für die die Gedanken straff zusammenfassende Dialektik einerseits und die flach gespreizte Hand für die breit dahinlaufende Rede andererseits. Das größere Gewicht besaß im stoischen Bewusstsein die Dialektik.

Ethik

Die Einordnung des Menschen als Teil und Funktionsglied der vom Logos durchwalteten Natur ist aus stoischer Sicht seine vorrangige Bestimmung. Mit Geist und Denkvermögen verfügt er selbst über Instrumente, die ihn am göttlichen Logos teilhaben lassen und ihn zur Weisheit als höchstem Gut und Inbegriff des glücklichen bzw. glückenden Daseins führen können. Voraussetzung dafür ist ein Prozess der Selbsterkenntnis und der Aneignung zielführender Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Haltungen. Als Wegweiser dient dabei die eigene Vernunft; als Motivatoren fungieren der Selbsterhaltungstrieb und das Streben nach Selbstvervollkommnung (Oikeiosis).

Nur ein lebenslanges Bemühen um Selbstformung, das auch den Herausforderungen von Schicksal und mitmenschlichem Umfeld standhält, schafft Aussicht auf die Seelenruhe des stoischen Weisen. Voraussetzung dafür ist eine ausgeprägte Affektkontrolle, die zur Freiheit von Leidenschaften (Apathie), zu Selbstgenügsamkeit (Autarkie) und Unerschütterlichkeit (Ataraxie) führen soll. Unser heutiger Begriff der „stoischen Ruhe“ geht auf diese Eigenschaften zurück.

Dabei steht „Apathie“ im Sinne der Stoa allerdings gerade nicht für Teilnahmslosigkeit und Passivität. Mark Aurel traf einen Kern des stoischen Ethos, als er sich selbst ermahnte (Selbstbetrachtungen IX, 12; zit.n. Weinkauf) :

„Arbeite! Aber nicht wie ein Unglücklicher oder wie einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das beste für die Gemeinschaft ist.“

Die Gemeinschaft der Stoiker bezog prinzipiell alle Menschen ein, Griechen wie „Barbaren“ (bei natürlich fortbestehenden Staaten und Grenzen), Bürger wie Sklaven (ohne dass die Abschaffung der Sklaverei zum Programm erhoben worden wäre). Dieser kosmopolitische Zug der Stoa war von ihren Gründungspersönlichkeiten bereits angelegt worden, längst bevor sie die politischen Führungskreise des Römischen Reiches erreichte. Dazu passt die Tatsache, dass die prominenten Stoiker zumeist aus den Randbereichen der antiken griechischen Zivilisation stammten.

Kontinuität und Wandel in der Römischen Antike

Das Aufgehen des griechischen Kulturkreises im Römischen Reich, das als Folge der römischen Expansion seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. stark voranschritt, führte zu einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung, das auch die Stoa betraf. In diesem über mehrere Jahrhunderte fortwirkenden Prozess werden zwei Phasen unterschieden, die zum einen auf die republikanische, zum anderen auf die kaiserzeitliche Epoche der römischen Vorherrschaft bezogen sind.

Die mittlere Stoa: Leitbildfunktion in führenden Kreisen der Römischen Republik

Die stoische Lehre wurde zum Leitbild führender Zirkel des expandierenden Römischen Reiches, weil sie im Einklang mit ihrem politischen Handeln stand und einen kosmopolitischen Ansatz hatte. Es fanden sich bedeutende Interpreten der Stoa, die die Strenge und Einseitigkeit (etwa der ursprünglichen Affektlehre) akzeptabler für diejenigen gestalteten, die im öffentlichen Leben standen. Es wurden auch solche als vollwertige Mitbürger gewertet und integriert, die früher als Sklaven nichts galten.

Panaitios

Zum wichtigsten Bindeglied zwischen der Stoa und der Kultur der römischen Herrschaftselite wurde Panaitios, der in Beziehungen zu Scipio Aemilianus stand (die allerdings vorwiegend politischer, nicht philosophischer Natur waren). Er modifizierte die in der alten Lehre angelegte strenge Scheidung von Geist und Leib und die Geringschätzung des letzteren im Menschenbild der Stoa und beschrieb den Organismus als Einheit und Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit. Nicht auf radikale Triebunterdrückung, sondern auf mäßige Entfaltung und Vernunftsteuerung war seine Anthropologie gerichtet.

Auch auf die Individualität der Anlagen und auf Prägungen im Fortgang des Lebens hat Panaitios hingewiesen und so die Voraussetzungen zur Führung eines Lebens im Einklang mit den Erfordernissen von Natur und Schicksal deutlich in Bezug zur jeweiligen Persönlichkeit gesetzt. Von solchen Unterschieden waren schließlich auch Art und Umfang der Pflichten bestimmt, die sich für die Lebensführung ergaben und die dem Patrizier anderes zur Pflicht machten als dem Plebejer. Derartige Differenzierungen kamen dem aristokratischen Selbstbild der republikanischen Führungselite entgegen.

Poseidonios

Die von Panaitios bewirkte Lockerung und Erweiterung der stoischen Weltsicht wurde von Poseidonius aus dem syrischen Apameia fortgesetzt und ausgebaut. Pohlenz sah in ihm den größten wissenschaftlichen Forschungsreisenden des Altertums, dessen Forschertätigkeit neben Philosophie und Geschichte auch alle Bereiche der antiken Naturwissenschaften einschloss, ein Forschungshorizont, wie ihn davor nur Aristoteles entfaltet hat und nach ihm in der Antike niemand mehr.

Poseidonios, der sich in Athen von Panaitios hatte ausbilden lassen, gründete schließlich auf Rhodos seine eigene Philosophieschule, wo auch Marcus Tullius Cicero ihn aufsuchte, um seinen Vorlesungen zu folgen. Und Cicero wiederum war es, der mit seinem Werk De officiis dafür gesorgt hat, dass die Pflichtenlehre des Panaitios überliefert ist.

Die jüngere Stoa: Orientierungsreservoir in der römischen Kaiserzeit

Die Stoiker der römischen Kaiserzeit konzentrierten sich auf konkrete ethische Probleme. Dabei konnten sie sich bereits auf das von der mittleren Stoa entwickelte Naturrechtsfundament und Humanitätsideal stützen. Ansehen und Einfluss der stoischen Lehre bei den römischen Kaisern unterlag aber je nach Herrschernaturell und öffentlicher Stimmung großen Schwankungen. Von Augustus geschätzt und gefördert, geriet sie seit Nero erheblich unter Druck.

Seneca

Lucius Aennaeus Seneca aus wohlhabender Familie spanischer Herkunft hatte bereits als Quästor in der Ämterlaufbahn Fuß gefasst und sich als philosophischer Schriftsteller einen Namen gemacht, als er wegen eines Machtwechsels bei Hofe 41 n. Chr. in Ungnade fiel und für acht Jahre nach Korsika verbannt wurde. Seine Rückberufung erfolgte, weil die inzwischen an die politischen Schalthebel gelangte Agrippina die Jüngere ihn als den besten Erzieher für ihren 12-jährigen Sohn Nero ansah. Seneca verfasste für Nero eine philosophische Denkschrift, deren Kernbotschaft auf die Milde des Herrschers gegenüber Besiegten und Straffälligen gerichtet war, vermochte es aber nicht, ihn für die stoische Pflichtenlehre und Moralvorstellungen einzunehmen.

Von 54-62 verblieb Seneca dennoch im kaiserlichen Machtzentrum und übte dort bedeutenden politischen Einfluss aus. Danach setzte er die Arbeit an seinen philosophischen Schriften fort, durch die er zum wohl meistgelesenen Stoiker überhaupt wurde. Als im Jahre 65 eine gegen Nero gerichtete Verschwörung aufgedeckt wurde, ließ dieser dem gar nicht beteiligten Seneca eine Aufforderung zur Selbsttötung zustellen. In der Gelassenheit des stoischen Weisen vollzog Seneca diesen Schritt, auf den er gedanklich längst vorbereitet war:

„Der letzte Lebenstag, vor dem dir so graut, ist der Geburtstag der Ewigkeit. Wirf alle Last von dir! Wozu das Zögern? Hast du nicht einst auch den Leib verlassen, der dich der Welt verbarg, und das Licht des Tages erblickt? Du zögerst und willst nicht? Auch damals hat dich die Mutter unter schweren Leiden ans Licht gebracht. Du seufzest und weinst? Das tun auch die Neugeborenen.“

Musonius und Epiktet

Neben Seneca waren auch andere führende Stoiker von Neros Säuberungsmaßnahmen im Anschluss an die Verschwörung des Piso betroffen: Musonius, der sich kritisch gegenüber dem Herrschaftsregime Neros geäußert hatte, wurde auf eine kleine Ägäis-Insel verbannt, während ein anderer führender Stoiker in Rom auf die gleiche Weise aus dem Leben schied wie Seneca. An seinem Verbannungsort hatte Musonius großen Zulauf an Menschen, die seine Vorträge hören wollten. Auch der später freigelassene phrygische Sklave Epiktet wurde in jungen Jahren sein Schüler. Domitian, der wie schon Vespasian die kynischen und stoischen Philosophen wegen deren kritischer Haltung samt und sonders ins Exil verbannte, wurde zum Anlass dafür, dass Epiktet außerhalb Roms, in Nikopolis, eine Philosophenschule gründete, wo er wie vor ihm Musonius viele Hörer anzog.

Weder Musonius noch Epiktet haben eigene Schriften hinterlassen, so dass ihr Denken nur aus Mitschriften von Hörern überliefert ist. Speziell Epiktet knüpfte in seiner Lehre an die Rigidität und Strenge der älteren Stoa an. Für den vormaligen Sklaven war das Thema Freiheit von besonderer Bedeutung. Allerdings zielte er gerade nicht auf die rechtsförmliche Abschaffung der Sklaverei, sondern auf jene Freiheit, die jeder Mensch, ob Bürger oder Sklave, aus eigenen Stücken zu erreichen vermag. Dazu müsse er unterscheiden lernen zwischen Dingen, die ganz in seiner Macht stehen, weil sie mit eigener Betätigung oder Unterlassung verbunden sind, z.B. Vorstellungen, Urteil, Begierden und Abneigungen, und Dingen, die nicht der eigenen Kontrolle bzw. Verfügung unterliegen wie Körpergestalt, Gesundheit, Ansehen, Ehre, Besitz und Tod. Der Königsweg zu Freiheit, Seelenruhe und stoischer Weisheit besteht darin, nur die ersteren als Werte anzuerkennen, die anderen dagegen als sittlich gleichgültige Dinge (Adiaphora) anzusehen und sich nicht weiter damit zu befassen. Epiktet, heißt es, bedurfte keiner verschließbaren Tür für seine Bleibe, weil ihre ärmliche Ausstattung zu keinerlei Diebstahl gereizt hätte.

Mark Aurel

Seit Nerva waren die Philosophen in Rom wieder wohlgelitten, und das Adoptivkaisertum bot der Stoa neue Entfaltungsmöglichkeiten. Epiktet besaß die Wertschätzung Kaiser Hadrians, so dass der zur Thronfolge nach Antoninus Pius vorgesehene Mark Aurel infolge dieses Richtungswechsels bei Hofe Gelegenheit hatte, die Vorlesungen des aus Griechenland nach Rom geholten Stoikers Apollonius zu besuchen. Mit seinen Selbstbetrachtungen, die er bei Feldzügen an der Donaugrenze in seinen späten Lebensjahren für den Eigengebrauch festhielt, hinterließ Mark Aurel das letzte bedeutende Zeugnis der stoischen Philosophie. Der Erfahrungsschatz nahezu eines halben Jahrtausends seit den Anfängen der Stoa ist darin verarbeitet.

Die Herrscherfunktion wird als eine Schicksalsfügung angenommen und als positiv gedeutete Verpflichtung zum Dienst am Gemeinwesen und an den Mitmenschen begriffen. Vor einer Überschätzung des eigenen Wirkens und der eigenen Bedeutung bewahrte Mark Aurel sein weit ausgreifender geschichtlicher und kosmologischer Horizont:

„Erwäge beständig, daß alles, wie es jetzt ist, auch ehemals war, und daß es immer so sein wird. Stelle dir alle die gleichartigen Schauspiele und Auftritte, die du aus deiner eigenen Erfahrung oder aus der Geschichte kennst, vor Augen, zum Beispiel den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins, den ganzen Hof Phillips, Alexanders, des Krösus. Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen aufgeführt. (X, 27)“

„Alexander von Mazedonien und sein Maultiertreiber haben nach ihrem Tode dasselbe Schicksal erfahren. Denn entweder wurden sie in dieselben Lebenskeime der Welt aufgenommen oder der eine wie der andere unter die Atome zerstreut. (VI, 24)“

Fortwirken der Stoa jenseits der Antike

Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion im Römischen Reich zwischen den Kaisern Konstantin I. und Theodosius I. verlor die Stoa als weltanschauliche Option in führenden politischen Kreisen entscheidend an Boden. Dabei kam es aber in Fragen von Ethik und Moral zu einem beachtlichen Verschmelzungsprozess, der stoische Elemente in christliche Lebensart überführte.

In der Spätrenaissance entwickelte sich ein Neostoizismus, als dessen berühmtester Vertreter Justus Lipsius zu nennen ist. Dieser Neostoizismus prägte z.B. auch Michel de Montaigne (bevor sich dieser dem Skeptizismus zuwandte), später René Descartes und Philipp Melanchthon; wegen des großen Einflusses dieser Denker reichen Spuren der Stoa, immer wieder durch direkte Anknüpfungen an die antiken Quellen erneuert, von da an durch die gesamte Philosophiegeschichte. So ist etwa die Ethik Baruch Spinozas und die Moralphilosophie Immanuel Kants deutlich von der Stoa geprägt.

Ebenfalls stoisch inspiriert war der aufgeklärte Absolutismus des preußischen Königs Friedrichs II. Mit der Formel: Ich bin der erste Diener meines Staates, knüpfte er demonstrativ an das Vorbild Mark Aurels an.

Beispielhaft dafür, wie vielfältig die Nachwirkungen der Stoa auch in die Gegenwart hineinreichen, ist die von Albert Ellis in den USA entwickelte Rational Emotive Therapie, die in Anlehnung an das stoische Konzept der Affektsteuerung und an die Lehren Epiktets in der Psychotherapie zur Anwendung kommt. Neuerdings zeigen sich auch im politisch-philosophischen Diskurs, der die gegenwärtige Ausbildung der Weltgesellschaft reflektiert, Tendenzen, die eine zeitgemäße Erschließung der stoischen Ethik favorisieren (Weinkauf, S. 38):

„Für die Zukunft kann aus guten Gründen eine wachsende Beachtung stoischen Gedankenguts angenommen werden: Die Vorstellung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen, der ausgeprägte Kosmopolitismus der Stoa, die Warnung vor der Weltverfallenheit, vor allem die Sicht von der Welt als einem Gesamtorganismus - solche Gedanken könnten in den nächsten Jahren zunehmend wichtiger werden und möglicherweise zum Gespräch mit der Stoa anregen.“

Quellenlage

Von den Vertretern der älteren Stoa (also Zenon von Kition, Kleanthes und Chrysippos mit ihren Schülern) sind - mit Ausnahme von Kleanthes' Hymnus auf Zeus - keine vollständigen Werke erhalten. Die Überlieferung beruht großenteils auf Doxographien späterer Autoren, also Paraphrasen und Zusammenfassungen philosophischer Lehren, darunter:

Diese Schriften waren zu ihrer Zeit populäre Literatur mit einer Mischung aus Anekdote, Biographie und Darstellung der Lehrmeinungen, es sind aber außer von in Zitaten überlieferten Fragmenten (s.u. Ausgaben) die einzigen erhaltenen Quellen. Dies bedingt nach Forschner „daß wir über die stoische Logik und Physik nur Umrisshaftes wissen, und daß die eminente Wirkung der Stoa auf Spätantike, Mittelalter und Neuzeit nicht vom ‚harten’ und argumentativ ausdifferenzierten wissenschaftlichen Kern des stoischen Systems, sondern von der praktischen Philosophie, und zwar von deren popularphilosophischer Ausprägung bestimmt ist.“[4]

Auch Gegner der Stoa haben zu den überlieferten Fragmenten beigesteuert, indem sie Stoiker zitiert haben. Zu diesen der Stoa kritisch gegenüberstehenden Autoren gehören Alexander von Aphrodisias, Plutarch, Galen, Sextus Empiricus, Plotin, Eusebius, Nemesius von Emesa und Simplikios und zahlreiche patristische Autoren.

Kenntnisse über die Inhalte der mittleren Stoa sind vor allem den Schriften von Cicero zu verdanken. Cicero war zwar kein Vertreter der Stoa, hat aber in seinen Schriften vielfach auf stoische Werke zurückgegriffen. So lässt sich die Pflichtenlehre des Panaitios aus De officiis rekonstruieren.

Vollständige Werke sind erst von den Stoikern des kaiserzeitlichen Rom erhalten (insbesondere von Seneca, Epiktet und Mark Aurel).

Ausgaben

  • Hans von Arnim (Hrsg.): ''Stoicorum Veterum Fragmenta. 4 Bde. Teubner, Leipzig 1903-1905. Nachdruck Saur, München 2004, ISBN 3-598-74255-X, ISBN 3-598-74257-6, ISBN 3-598-74258-4.
  • Karlheinz Hülser (Hrsg.): Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. 4 Bde. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986-1987, ISBN 3-7728-1034-9.
  • Arthur A. Long, David N. Sedley (Hrsg.): Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01574-2 (enthält nur deutsche Übersetzungen wichtiger Fragmente der Stoa).
  • Arthur A. Long, David N. Sedley (Hrsg.): The Hellenistic Philosophers. Vol. 2: Greek and Latin Texts with Notes and Bibliography. Cambridge University Press 1987, Cambridge ISBN 0-521-25562-7, ISBN 0-521-27557-1 (enthält die Texte in der Originalsprache; Nummerierung wie in der deutschen Übersetzung, daher parallel benutzbar).
  • Wolfgang Weinkauf: Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte. Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018123-2.

Literatur

  • Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-12633-5.
  • Erhard Hobert: Stoische Philosophie. Tradition und Aktualität. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Diesterweg, Frankfurt a. M. 1992, ISBN 3-425-05557-7.
  • Jan Łukasiewicz: Zur Geschichte der Aussagenlogik. In: Erkenntnis 5 (1935) 111–131.
  • Benson Mates: Stoic Logic. University of California Press, Berkeley 1953. (University of California Publications in Philosophy; 26.) ISBN 0-608-11119-8 (in englischer Sprache)
  • Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 2 Bde. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, ISBN 3-525-25711-2, ISBN 3-525-25712-0 (zuerst 1948/1949 erschienen; unentbehrliches Standardwerk, aber z.T. rassistisch eingefärbt: Vorwort von 1943)
  • Max Pohlenz: "Stoa und Stoiker". Bd. 1: "Die Gründer. Panaitios. Poseidonios". (Bibliothek der Alten Welt) Artemis, Zürich 1950.
  • J.-P. Gourinat: La dialectique des stoïciens. Paris 2000.
  • Jean-Joel Duhot: Épictète et la sagesse stoïcienne. Paris 1996, 2003.
  • Barbara Neymeyr / Jochen Schmidt / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne, 2 Bde., Berlin / New York 2008 (die massgebliche Darstellung zu den Nachwirkungen der Stoa).
  • Andreas Urs Sommer: Zur militärischen Metaphorik im Stoizismus Bern 2002 (ISBN 3-906969-01-0).
  • Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin / New York 1978.
  • Dieter Kraft, Stoa und Gnosis - Anpassung und Verweigerung. Typologische Aspekte zweier antiker Ideologien. In: Topos 15 (2000) , 11-32.

Anmerkungen

  1. Bertrand Russel, Philosophie des Abendlandes. Wien – Zürich, 6. Aufl. 1992, S. 274.
  2. Pierre Hadot, Mark Aurel. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, Band II, Stuttgart 1996, S. 203.
  3. Maximilian Forschner, Die Ältere Stoa. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, Band II, Stuttgart 1996, S. 29.
  4. Maximilian Forschner, Die Ältere Stoa. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, Band II, Stuttgart 1996, S. 26.

Weblinks


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