- حنفى مذاهب
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Die Hanafiten (arabisch الحنفية) sind eine der vier Rechtsschulen (Madhahib) des sunnitischen Islams. Sie gehen zurück auf Abu Hanifa an-Nu'man ibn Thabit (auch al-Imâm al-A'zam (der größte Imâm) genannt), vor allem aber auf dessen Schüler Abu Yusuf und ash-Shaibani.
Die hanafitische Rechtschule ist seit dem Ende der Zeit der Umayyaden im sunnitischen Islam vorherrschend: Sie ist die am weitesten verbreitete Rechtsschule, der etwa 50 % der Sunniten folgen. Heute bilden sie mit mehr als 350.335.000 Anhängern (etwa 42,9 %) der Muslime insgesamt die größte Gruppe.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte und Verbreitung
Die hanafitische Rechtsschule hatte sich zunächst im Gebiet des Irak - dem Wirkungsbereich Abu Hanifas - verbreitet, dann aber auch im Gebiet des alten Syriens (as-Sham genannt), welches sich weiter als das heutige Syrien erstreckte. Seit der Zeit der Seldschuken wurde die hanafitische Rechtsschule in den syrischen und anatolischen Gebieten staatlich bevorzugt. Da die malikitische Rechtsschule in diesen Gebieten gar nicht und die sonstigen Rechtsschulen nicht stark vertreten waren, gab diese Unterstützung den Hanafiten starken Auftrieb und sorgte für eine weite Verbreitung unter der Bevölkerung.
Im Osmanischen Reich schließlich wurde die hanafitische Rechtsschule zur „Staatsrechtsschule“ erhoben, das heißt zu derjenigen Rechtsschule, auf die alles in Staat und Gesellschaft abgestimmt war. Die hanafitische Rechtsschule ist daher heute in allen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches verbreitet. Die Mehrheit stellt sie unter all jenen Sunniten, die zu den Turkvölkern gehören (einschließlich der Türken selbst), sowie unter den Sunniten des asiatischen Festlandes östlich des Irans, also in Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Indien, China, Usbekistan, Kasachstan, sowie in Südafrika. Die sunnitische Minderheit im Iran ist ebenfalls größtenteils hanafitisch.
Größere hanafitische Minderheiten gibt es in Syrien, dem Libanon, Ägypten, Jordanien, Palästina und unter den arabischen Sunniten im Irak. Auch in den europäischen Gebieten, wo seit der Zeit des Osmanischen Reiches Muslime leben, ist die hanafitische Rechtsschule vorherrschend, das heißt in den Balkangebieten, speziell Bosnien, Sandžak, Albanien, Kosovo, Mazedonien, Rumänien, Serbien, Bulgarien und Griechenland .
Quellen und Methoden der Rechtsfindung
Die wichtigsten Quellen, die von der hanafitischen Rechtsschule anerkannt werden, sind (in absteigender Reihenfolge): Koran, Sunna, Idschma, Qiyas und der Ra'y (Istihsan)
Dabei standen sich Qiyas und Istihsan in der Frühform der Hanafiyya als zwei gegensätzliche Lösungen gegenüber, von denen der Muschtahid diejenige auswählt, die ihm aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung als besser erscheint:
Qiyas ist hierbei der Analogieschluss, der die Lösung für ein Rechtsproblem aus der Behandlung vergleichbarer Probleme in Koran, Sunna oder Idschma herleitet.
Istihsan (wörtlich: etwas für gut erachten) ist hingegen die Ablehnung eines neuen Qiyas. Falls der Mudschtahid bei der Erarbeitung eines möglichen Qiyas feststellt, dass dieser im Endergebnis nicht dem Sinn der Sharia entspricht oder dass der mögliche Qiyas keine Verbesserung der Rechts bedeutet, so ersetzt er den möglichen Qiyas durch einen freien Ra'y.
Die starke Betonung von Qiyas und Istihsan in den frühen Jahren der Hanafiten war deshalb so wichtig, weil in der Zeit Abu Hanifas zu viele schwache und gefälschte Hadithe in Umlauf waren, und keine wirkliche Systematik zur Bestimmung der richtigen (sahih) unter ihnen vorhanden war.
Dies führte dazu, dass die Rechtsschule zu Lebzeiten Abu Hanifas mehr Quellen bemüht hat als nach seinem Tod. Nach seinem Tod hatten Abu Hanifas Hauptschüler, die Gelehrten Abu Yusuf und Muhammad asch-Schaybani (die zwei Imame) maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Rechtsschule. Ein weiterer einflussreicher Schüler Abu Hanifas war Zufar ibn Al-Hudhayl.
Anders als Abu Hanifa gingen Abu Yusuf und Muhammad asch-Schaybani stärker auf die Hadith-Grundlage ein. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass es mittlerweile einen Katalog als „echt“ (sahih) anerkannter Hadiths gab. Auf dieser Grundlage überarbeiteten und ersetzten sie viele Entscheidungen Abu Hanifas. Die heutige hanafitische Rechtsschule folgt daher in vielen Fragen der Meinung Abu Yusuf und asch-Schaybani und nicht der ursprünglichen Meinung Abu Hanifas.
So wird heute der Istihsan nicht mehr in der Form, wie Abu Hanifa ihn verwendete, eingesetzt. Auch wird der Ra'y (die freie Meinungsäußerung des Muschtahid, die nicht von direkten Belegen aus Rechtsquellen abhängig ist) heutzutage sehr selten angewandt.
Besonderheit im Glauben
Die hanafitische Glaubens- (Aqida; Itikat) Lehre: arabisch الإيمان لا يزيد و لا ينقص DMG: al īmanu lā yazīdu wa lā yanquṣ (deutsch: „Der Iman kann weder zunehmen noch abnehmen.“) ist eine besondere und einzigartige Lehre der hanafitischen Rechtsschule und stammt von Abu Hanifa. Sie wurde von den Schülern Abu Hanifas und den nachfolgenden hanafitischen Gelehrten immer vertreten und ist daher ein fester Bestandteil der hanafitischen Rechtsschule geworden.
Abu Hanifa war der Meinung, dass der Iman (Glaube) weder abnehmen noch zunehmen kann, sondern nur schwächer oder stärker werden kann und dass der Iman (Glaube) aller Muslime derselbe war und ist. Da alle Glaubensgrundlagen (siehe Aqida) dieselben sind und deren Zahl dieselbe ist, schlussfolgerte Abu Hanifa, dass der Iman nicht abnehmen oder zunehmen kann, da jemand, der nur eine einzige Glaubensgrundlage leugnet, oder etwas zurückweist, was von der Religion (d.h. von Gott) befohlen wird, zu einem Kafir (Ungläubigen) wird. Oder anders: mehr Iman könne man nicht haben, da die Anzahl der Glaubensgrundlagen und der Pflichtgebote (fard) fest sind. Man kann also nicht an mehr glauben, als die Religion vorgibt. Der Imaninhalt sei daher laut Abu Hanifa bei jedem Muslim, Engel, Prophet usw. derselbe und unterscheide sich lediglich in der Stärke des Glaubens und wirke sich auf die Handlungen aus. Wenn jemand also beispielsweise aus Faulheit nicht das salāt verrichte, sei das auf seinen schwächeren Iman (Glauben), aber nicht auf Mangel an Iman zurückzuführen - niemand habe „mehr“ oder „weniger“ (gemeint sind Inhalte) im Iman.[1]
Die Lehre wird von den meisten salafitischen Kreisen mit Skepsis betrachtet.[2]
Abu Hanifa und seine Schüler galten generell im Bereich Takfir (jemanden zu einem Ungläubigen, Kafir, erklären) als sehr behutsam und vorsichtig, unter anderem basierend auf diese Lehre.[3]
Gott existiert ohne „Ort“
Abu Hanifa und dessen Schüler lehnen die Zuweisung eines bestimmten Ortes, an dem Gott existieren soll, ab. Damit widersprechen sie den Wahhabiten und den Ahl-i Hadîth (die sich selber „Salafiten“ nennen), deren Glaubensauffassung besagt, dass Gott an einem bestimmten Ort und in seiner eigenen Schöpfung existiere. Die Meinung der hanafitischen Rechtsschule, dass Gott an keinem bestimmten Ort existiere, wird von den anderen Rechtsschulen mit Ausnahme einer Minderheit unter den Hanbaliten geteilt. Die Frage (arabisch اين الله؟; DMG: aynallᾱh?) deutsch: „Wo ist Gott (Allah)?“ wird mit „Gott existiert ohne Ort“ beantwortet.
Das „wie?“ der Existenz Gottes entzieht sich laut den Hanafiten dem Verstand der Menschen. Daher kann von einem Menschen das „wie?“ der Existenz Gottes nicht begriffen werden.[4]
Speziell die hanafitische Rechtsschule begründet ihre Meinung, dass ein „Ort“ eine Eigenschaft der Schöpfung sei und nichts an und in der Schöpfung ihm (Gott) gleichkommen kann und er daher auch nicht in seiner eigenen Schöpfung existiert.[5]
Als einer der Belege für die Meinung gilt folgender Vers aus dem Koran (Sura:42 Vers:11):
„[Er ist] der Schöpfer von Himmel und Erde. Er [Gott] hat euch [Menschen] und [auch] die Herdentiere zu Paaren gemacht und dadurch bewirkt, daß ihr euch [auf der Erde] verbreitet. Es gibt nichts, was ihm [Gott] gleichkommen würde. Er [Gott] ist der, der [alles] hört und sieht.“
– Übersetzung Rudi Paret
Anerkennung als Religionsgemeinschaft in Österreich
Die Hanafiten waren in Österreich aufgrund des Gesetzes vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanafitischem Ritus als Religionsgesellschaft (RGBl. Nr. 159/1912) gesetzlich anerkannt. Damit wurde der hanafitische Islam in Österreich auf eine Stufe mit den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden gestellt. Das Gesetz trat am 10. August 1912 in Kraft. Das Islamgesetz bekräftigt und verstärkt die seit 1874 bestehende staatliche Anerkennung des Islams als Religion durch Österreich. In Europa war Österreich damals führend, was die Beziehung zum Islam betraf.
Kaiser Franz Joseph zog mit dem Islamgesetz die Konsequenz aus seiner Expansionspolitik: 1878 hatte sich die Habsburger-Monarchie Bosnien-Herzegowina faktisch einverleibt (formelle Annexion erst 1908) – und dadurch eine große Zahl von Muslimen zu Bürgern der Monarchie gemacht.
Kaiser Franz Joseph stimmte auch dem Bau einer Moschee in Wien zu und spendete 250.000 Goldkronen. Wiens Bürgermeister Karl Lueger stellte dafür ein Grundstück am Laaer Berg bereit. Nur der Erste Weltkrieg verhinderte den Bau der Moschee. Nach dem Zerfall der Donaumonarchie verblieben nur wenige Muslime in Österreich (weniger als 1.000).
Das Islamgesetz gilt in Österreich auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Mit Wirkung vom 24. März 1988 wurde im Islamgesetz die Wortfolge „nach hanafitischem Ritus“ in Artikel 1 und in den Paragraphen 5 und 6 als verfassungswidrig aufgehoben und die Geltung des Gesetzes somit auf alle Muslime erweitert. Das Gesetz heißt seitdem im Langtitel „Gesetz vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams als Religionsgesellschaft“ (vgl. BGBl. Nr. 164/1988).
Fußnoten
- ↑ Abu Hanifa, zitiert in „Menaqib-i Imami-Azam k.II, S. 141.“ Ibn Bezzazi: Der Glaube von den Bewohnern der Himmel und der Erde ist eins. Von damals bis heute, seit dem Ursprung des Glaubens, der Glaube aller Propheten ist derselbe. Denn wir haben alle an den gleichen Gott geglaubt und ihn bestätigt. Die Pflichten aber sind verschieden, ebenfalls ist der Kufr gleich, denn die Kafir haben viele Eigenschaften. Wir haben alle an das geglaubt, woran auch die Propheten geglaubt haben. Jedoch war deren Glaube überlegen, und in jeder ihrer Handlungen waren ihre guten Handlungen den unseren überlegen. Denn wie sie in ihrer Gefolgschaft bevorzugt waren, so waren sie auch in ihren Angelegenheiten uns gegenüber bevorzugt. Unser Herr hat uns in diesem Fall kein Unrecht getan, denn Gott hat unser Recht nicht vermindert und nicht herabgesetzt. Möglicherweise hat Gott ihnen als Einladung und Bewirtung überaus mehr gegeben, denn sie waren die Führer für die Menschheit. Sie waren die vertrauenswürdigen Gesandten Allahs. Niemand kann gleich ihrem Rang sein. Denn die Menschen haben die Tugend aufgrund von ihnen [den Propheten] erreicht. Jene, die in das Paradies eintreten werden, werden durch ihre Bittgebete und Einladungen eintreten.
- ↑ Muhammad Nasiruddin al-Albani zitiert in „Nadhm Al-Fawa`id fi Silsilati Al-Albani min Al-Fawa`id“: Und die Wahrheit ist, dass dieser Hadith selbst, obwohl er einer Erklärung bedarf, ein Beweis gegen die Hanafiten ist, diejenigen, die nicht aufhören, hartnäckig darauf zu bestehen, sich uns mit ihrer Aussage, dass der Iman weder zu- noch abnimmt, zu widersetzen. Glauben ist ihrer Ansicht nach nur eine einzige Stufe [eine einzige Einheit]. Und folglich können sie sich einen mangelhaften Iman nicht vorstellen. Dies ist der Grund warum al-Kawthari [ein hanafitischer Gelehrter] diesen Hadith zurückwies.
- ↑ Abu Hanifa in „Fiqul-Akbar“: Wir erklären keinen [Muslim] wegen einer Sünde für ungläubig und sprechen keinem den Glauben ab. Wir fordern zum Guten auf und halten vom Schlechten ab. Wisse, dass das, was dir zustößt, dich nicht verfehlen könnte, und was dich verfehlt, dir nicht zustoßen könnte! Wir sagen uns von keinem der Gefährten des Propheten los, noch wenden wir uns zu einem [von ihnen] mit Ausschluss eines anderen.
- ↑ Abu Hanifa in „Fiqul-Absat“: Gott existiert seit der Ewigkeit, und es gab keinen Ort. Er existierte, bevor er die Schöpfung erschuf. Er existierte, und es gab keinen Ort, keine Schöpfung oder andere Dinge; und er ist der Schöpfer von allem.
- ↑ |Abu Hanifa in „Fiqul-Akbar“: Und weder darf ein Gleichnis zwischen ihm und einem Teil seiner Schöpfung gesetzt werden, noch ähnelt er seiner Schöpfung. Er hatte schon immer seine Namen und Eigenschaften, und er wird sie auch immer haben.
Literatur
- Muhammad Abu Zahra Abu Hanifa, Diyanet Publikation 1999, ISBN 975-19-1869-3
- Nicola Melis, Trattato sulla guerra. Il Kitāb al-ğihād di Molla Hüsrev, Aipsa, Cagliari 2002, 13-9788887636406.
Siehe auch
- Fiqh (islamische Rechtswissenschaft)
- Dar ul-Ulum Deoband
- Abu-Hanifa-Moschee
Weblinks
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