- Bertillonage
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Die Bertillonage ist die Bezeichnung für ein von Alphonse Bertillon entwickeltes anthropometrisches System zur Identifizierung von Personen anhand von Körpermaßen. Es handelt sich hierbei um ein frühes biometrisches Erkennungsverfahren.
Das System wurde nur in einigen Ländern eingesetzt und aufgrund seiner Fehleranfälligkeit weltweit nach wenigen Jahrzehnten durch die Daktyloskopie als Identifizierungssystem abgelöst.
Inhaltsverzeichnis
Kontext
In Frankreich wurde 1832 per Gesetz die physische Markierung von Kriminellen durch Brandmarkung endgültig verboten.[1] Damit standen die Gerichte vor dem Problem, Wiederholungstäter zu identifizieren. Eindeutig identifizieren wollte man aber auch "Landstreicher" und Gewohnheitsverbrecher, die häufig Wohnort und Namen wechselten. Zur Zeit Bertillons erhofft man sich von der Möglichkeit, Personen eindeutig zu identifizieren, insbesondere auch Unterstützung im Kampf gegen anarchistische Gewalttäter. Das Interesse an der Bertillonage ging aber weit darüber hinaus. So heißt es im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Bertillons Handbuch: "Wir dürfen nicht ausser Acht lassen, dass das System auch zur Lösung anderer Fragen, als der blossen Wiedererkennung von Uebelthätern geeignet ist, denn die Feststellung der körperlichen Persönlichkeit, der unleugbaren Identität eines Erwachsenen entspricht in unserem moderen Kulturleben den mannigfaltigsten Bedürfnissen."[2]
Grundlagen
Das in den Jahren 1879 bis 1880 von Bertillon entwickelte System wurde zu seinen Ehren später Bertillonage genannt. Bertillon war seit 1882 Chef des Identifizierungsinstitutes an der Polizeipräfektur in Paris.[3] Die Bertillonage besteht aus vier Elementen:
- der standardisierten fotografischen Erfassung einer Personen
- dem "Porträt parlé" (Gedächtnisbild)
- der standardisierten Vermessung der Personen
- einer "signaletischen Registratur"
Fotografische Erfassung
Um die Vergleichbarkeit und standardisierte Auswertung der Aufnahmen sicherzustellen, konstruierte Bertillon eine spezielle Apparatur.
Der Inhaftierte wurde auf einen drehbaren Sessel gesetzt und mit einem von Bertillon konstruierten Apparat aufgenommen, „der es erlaubt, hintereinander auf dieselbe Platte und ohne daß der Patient seine Stellung auf dem Stuhle zu wechseln braucht, die Enface- und Profilphotographie zu machen“.[4]
In detaillierten Anweisungen wurde festgelegt, auf welche Gesichtspartie scharf gestellt wird, wie die Beleuchtung einzurichten ist usw. Die Profilaufnahme hatte immer von rechts zu erfolgen, damit Polizeibeamte bei der Suche nach Kriminellen wussten, von welcher Seite sie sich den Verdächtigen zu nähern hatten, um Gesicht und Fotografie vergleichen zu können. Diese Aufnahmen wurden auf Karteikarten aufgeklebt und um anthropometrische Angaben, also Angaben über Körpermaße, sowie um den Namen und die Geburtsdaten des Abgebildeten nach einer präzise vorgegebenen Nomenklatur ergänzt.
Das "Porträt parlé"
Mit Hilfe genauer Vorgaben für die Beschreibung von Nasen-, Ohrenformen ect. wurden die auf eine Karteikarte aufgeklebten Aufnahmen um ein "Porträt parlé" erweitert. Bei diesem "Porträt parlé" handelte es sich um eine Hilfe für die Fahnungsbeamten. Bertillon ging davon aus, "dass das beste und sogar einzige Mittel für den Detektiv, ein photographisches Bild gut dem Gedächtnis einzuprägen, darin besteht, sich eine genaue und vollständige Beschreibung desselben schriftlich anzufertigen...Der Fahndungsbeamte, der mit der schwierigen Aufgabe betraut ist, an der Hand einer Photographie einen Verbrecher auszuforschen und anzuhalten, muss im stande sein, die Züge und die Gestalt des Verfolgten aus dem Kopfe zu beschreiben, daraus mit einem Wort eine Art «Gedächtnisbild» zu machen. "[5]
Vermessung der Personen
Bertillon knüpfte an die äußere Erscheinung der Person an. Nach einem genau festgelegten Verfahren wurde mit Hilfe dazu entwickelter Spezialgeräte 11 Körpermaße erhoben und die Messungen auf Karteikarten eingetragen. Die Vorschriften gingen bis zur Regelung zum Ablesen und dem Diktieren der Messergebnisse.
Zur eindeutigen Identifizierung einer Person legte Bertillon die folgenden 11 Körpermaße fest:
- Körperlänge
- Armspannweite
- Sitzhöhe
- Kopflänge
- Kopfbreite
- Länge des rechten Ohres
- Breite des rechten Ohres (später ersetzt durch Jochbeinbreite)
- Länge des linken Fußes
- Länge des linken Mittelfingers
- Länge des linken Kleinfingers
- Länge des linken Unterarmes
Das Verfahren basierte auf den folgenden Annahmen:
- Die Körpermaße einer Person bleiben nach Vollendung des 20. Lebensjahres im Wesentlichen unverändert.
- Mit steigender Zahl der korrekt abgenommenen Körpermaße sank das Risiko einer Verwechslung.
- Durch Messung und Registrierung dieser Körpermaße könne man eine Person zweifelsfrei identifizieren.
Das von Bertillon entwickelte System basierte auf der statistisch belegten Annahme, dass sich Menschen in ihren körperlichen Abmessungen eindeutig unterscheiden.
Die signaletische Registratur
Die bei der Vermessung der Personen erhaltenen Werte wurden im sogenannten anthropometrischen Signalment in exakte Ziffern umgesetzt, die innerhalb des Behördenapparates gesammelt, ausgetauscht und verglichen werden konnten. Da allein in der Pariser Polizeipräfektur innerhalb des ersten Jahrzehnts rund 100.000 Verdächtige erfasst wurden[6], entwickelte Bertillon eine "signaletische Registratur". Dadurch, dass für die einzelnen Körperglieder jeweils drei ungefähr gleich große Abteilungen - klein, mittel, groß - geschaffen wurden, konnte die Suche nach einer bestimmten Person auf eine überschaubare Anzahl von Karteikarten reduziert werden. Bertillon wendet hier ein von Quételet entdecktes "Naturgesetz" an: „ Alles was lebt, wächst oder vergeht, schwankt zwischen einem Maximum und einem Minimum, zwischen welchen sich die Mannigfaltigkeit der Abstufungen ausbreitet, um so zahlreicher, je näher sie am Mittel stehen, um so seltener, je näher sie den Enden der Reihen liegen.“[7]
Geschichte
Die erste Identifizierung eines rückfällig gewordenen Straftäters anhand seiner Körpermaße gelang Bertillon am 20. Februar 1883. Bis zum Jahre 1905 konnte die Pariser Polizei insgesamt 12.614 rückfällige Straftäter durch die Bertillonage identifizieren.
Das System wurde jedoch innerhalb von zwei Jahrzehnten in den meisten amerikanischen und europäischen Nationen abgelöst, nachdem sich die Daktyloskopie durchsetzte. Bemerkenswerterweise konnte Bertillon selbst jedoch 1902 die erste Identifizierung eines Mörders innerhalb Europas anhand seiner Fingerabdrücke durchführen. Doch auch diese Tatsache ließ ihn weiterhin am Nutzen der Daktyloskopie zweifeln. Zuletzt wurde die Bertillonage auch in Frankreich nach Bertillons Tod im Jahre 1914 aufgegeben.
In den Vereinigten Staaten konnte 1903 zum ersten Mal ein Versagen des Systems nachgewiesen werden. Der Straftäter Will West wurde vermessen und seine Daten mit denen der bereits registrierten Sträflinge verglichen. Aufgrund von Ungenauigkeiten beim Abmessen der Körperlängen musste man stets einige Millimeter Abweichung tolerieren, da die Endpunkte nicht exakt festgelegt werden konnten. Man fand eine Karte, die nahezu perfekt passte, aber nicht die Richtige war:
Will West : 178.5, 187.0, 91.2, 19.7, 15.8, 14.8, 6.6, 28.2, 12.3, 9.7, ? William West : 177.5, 188.0, 91.3, 19.8, 15.9, 14.8, 6.5, 27.5, 12.2, 9.6, 50.3
Da er sich vehement weigerte, das Ergebnis anzuerkennen, wurden weitere Ermittlungen angestellt. Zu seinem Glück fand man den zweiten William West, der seit 1901 im Gefängnis saß und ihm in vielerlei Hinsicht stark ähnelte.
Die Bertillonage ist der Daktyloskopie aus verschiedenen Gründen unterlegen. Das System ist sehr komplex und damit fehleranfällig. Die Möglichkeit von Verwechslungen konnte auch bei Abnahme von 11 Körpermaßen nicht zu 100 % ausgeschlossen werden (tatsächlich konnte zumindest eine Verwechslung zweifelsfrei nachgewiesen werden). Für die Abnahme der Maße waren teure Spezialmessgeräte und viel Zeit nötig. Auf Grund dieser Mängel setzte sich die einfachere Daktyloskopie sehr schnell durch.
Einige Elemente der Bertillonage sind jedoch bis heute im kriminalpolizeilichen Erkennungsdienst erhalten geblieben. So bildeten die von Bertillon unterschiedenen Gesichtsformen und Nasenformen z.T. die Basis für die Schaffung von Phantombildern.
Quellen
- Alphons Bertillon: Das anthropometrische Signalement, 2. vermehrte Auflage mit einem Album, autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. v. Sury, Bern und Leipzig 1895
- Rolf Sachsse: Aufruf zur Gewalt, Telepolis 24. Januar 2001 - http://www.heise.de/tp/r4/artikel/4/4760/1.html
- Milos Vec: Die Spur des Täters. Bertillonage, Daktyloskopie und Jodogramm: Fortschritte und Versprechen der naturwissenschaftlichen Kriminalistik um 1900, in: Juridicum. Zeitschrift im Rechtsstaat, Nr.2/2001, S. 89 - 94 - http://www.juridikum.at/fileadmin/user_upload/ausgaben/juridikum%202-2001.pdf
E. J. Wagner: Wissenschaft bei Sherlock Holmes: Und die Anfänge der Gerichtsmedizin, Weinheim 2008
Einzelnachweise
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