ASSRdWD

ASSRdWD
Wappen der ASSR der Wolgadeutschen
Position der Wolgadeutschen ASSR innerhalb der UdSSR
Karte der ASSR der Wolgadeutschen
ASSR der Wolgadeutschen (gelb) im Jahr 1940

Die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (russisch АССР Немцев Поволжья/ ASSR Nemzew Powolschja) bestand vom 19. Oktober 1918 (zunächst als sowjetische Arbeitskommune) bis zum 28. August 1941. Der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, wurde 1918 von Josef Stalin, dem damaligen Volkskommissar für Nationalitätenfragen, mit der Führung des provisorischen Kommissariats für die Wolgadeutschen betraut.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ursprünge und Umstände der wolgadeutschen Autonomie

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man allein in den Gouvernements Saratow und Samara ungefähr 600.000 russische Bürger – deutsche Siedler, die zum größten Teil einen Raum vergleichbar der Größe von Rheinland-Pfalz (ca. 20.000 km²) ober- und unterhalb der Regionalmetropole Saratow bevölkerten.[2] In den Augen der an die Macht gekommenen Bolschewiki erfüllten die kompakt siedelnden Wolgadeutschen bestimmte Merkmale einer Nation als einer „historisch entstandenen stabilen Gemeinschaft von Menschen“, die sich durch vier charakteristische Merkmale auszeichnet: „Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“[3] Dieses stalinistische Nationsverständnis lag der sowjetischen Nationalitätenpolitik bis zur Auflösung der Sowjetunion zugrunde.

Unter der wolgadeutschen Bevölkerung fand das in der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ vom 2. (15.) November 1917 versprochene Selbstbestimmungsrecht eine gewisse Zustimmung.[4] Die neue Staatsführung betrachtete die Wolgadeutschen als ein genuin eigenständiges Volk und billigte ihnen das Recht auf nationale Entwicklung und Schaffung einer eigenen Territorialautonomie zu.

Die Tätigkeit der Bolschewiki in den Nationalitätenfragen zielte in erster Linie darauf, im Kampf mit ihren Gegnern die Unterstützung von Seiten der zahlreichen Völker zu bekommen. In der Resolution des X. Parteitages der RKP(B) im Jahre 1921 “Über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen Frage“ hiess es entsprechend:[5]

Die RSFSR und die mit ihr verbundenen Sowjetrepubliken haben eine Bevölkerung von etwa 140 Millionen. Von diesen sind etwa 65 Millionen Nichtgroßrussen (Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Usbeken, Turkmenen, Tadshiken, Aserbaidshaner, Wolgatataren, Krimtataren, Bucharen, Chiwaner, Baschkiren, Armenier, Tschetschenen, Kabardiner, Osseten, Tscherkessen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren (Die zuletzt genannten sieben Völkerschaften werden zu der Gruppe der „Bergvölker“ zusammengefasst), Kalmücken, Karelier, Awaren, Darginier, Kasikumuchen, Kjuriner, Kumücken (Die zuletzt genannten fünf Völkerschaften werden zu der Gruppe der „Dagestaner“ zusammengefasst.), Mari, Tschuwaschen, Wotjaken, Wolgadeutsche, Burjaten, Jakuten und andere).
Die Politik des Zarismus, die Politik der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie gegenüber diesen Völkern bestand darin, alle Ansätze zu einem Staatswesen bei ihnen zu vernichten, ihre Kultur zu verstümmeln, ihrer Sprache Beschränkungen aufzuerlegen, sie in Unwissenheit zu halten und sie schließlich nach Möglichkeit zu russifizieren. Das Ergebnis einer solchen Politik waren ein niedriges Entwicklungsniveau und politische Rückständigkeit dieser Völker.

Die rechtliche Grundlage für die Ausrufung eines autonomen Territoriums bildete der Artikel 11 der Verfassung der Russischen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918, die den Sowjets der Gegenden mit einer andersnationalen Bevölkerung das Recht einräumte, autonome territoriale Provinzen zu gründen.[6] Zum anderen erwies sich der Siedlungsraum der Wolgadeutschen, in dem große Mengen von Nahrungsmittel beschafft werden konnten, für die neuen Machthaber von lebenswichtiger Bedeutung. Man wollte die reichhaltigen Getreidevorräte in erster Linie für die Versorgung der beiden Revolutionszentren Moskau und Petrograd (seit 1924 Leningrad) verwenden und diese Kornkammer vor Requisitionen und Plünderungen der örtlichen Gouvernement-Sowjets oder vorbeiziehender Truppen schützen.[7] Neben den innenpolitischen und wirtschaftlichen Kalkülen spielten im Fall der Wolgadeutschen auch außenpolitische Erwägungen eine Rolle. Vor allem ging es um die Vorbildfunktion ihrer nationalen Autonomie. Das wurde besonders im Beschluss des 11. Gebietskongresses der Räte des Gebiets der Wolgadeutschen zur Proklamation der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) unterstrichen:[8]

Der Kongreß macht das kämpfende Proletariat Deutschlands auf unsere kleine autonome Einheit aufmerksam und unterstreicht damit noch einmal kräftig den Unterschied zwischen der demokratischen Freiheit Deutschlands, das sowohl von dem eigenen, als auch von dem europäischen Kapital niedergedrückt wird, und der [tatsächlichen] Freiheit der Nationalitäten, die in dem Bund der Sozialistischen Sowjetrepubliken vereinigt sind.

Gründung des autonomen Gebiets

An den Anfängen der deutschen Autonomie stand Ernst Reuter, ein bekannter Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1948–1953 Regierender Bürgermeister von West-Berlin. Noch in russischer Gefangenschaft wurde er ein aktiver Kommunist und Internationalist und leitete seit April 1918 als Josef Stalins Vertrauter das „Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“, das die Sowjetisierung der Wolgadeutschen verfolgte.[9] Seine Tätigkeit endete mit der Ausrufung der Autonomie.

Am 19. Oktober 1918 unterzeichnete Wladimir Iljitsch Uljanow - besser bekannt als Lenin - als Regierungschef, nach zweitägiger umfassender Beratung, das Dekret über die Gründung der Arbeitskommune (des autonomen Gebiets) der Wolgadeutschen.[10] Insgesamt wurden bis zum März 1919 214 Dörfer aus den Gouvernements Saratow und Samara ausgegliedert. Das wolgadeutsche Gebiet bestand deswegen aus mehreren, nicht immer miteinander verbundenen Territorien und Einsprengseln unterschiedlicher Größe, die nur deutsche Siedlungen umfassten. Die Gesamtfläche betrug zunächst 19.694 km². Das Zentrum der Arbeitskommune wurde im Mai 1919 von Saratow nach Katharinenstadt (am 4. Juni 1919 in Marxstadt umbenannt) verlegt.[11]

Bürgerkrieg und Hungersnot

Kriegskommunismus

Die Politik des Kriegskommunismus ruinierte nachhaltig die Wirtschaft der ländlichen Bevölkerung. Unter Gewaltandrohungen waren die Bauern gezwungen, große Mengen an Lebensmitteln an die Zentrale abzuliefern und für die Rote Armee Rekruten, Pferde und Futter bereitzustellen. Dabei kam es zu zahlreichen Willkürakten und Übergriffen. Bereits im Juli und August 1918 fanden bewaffnete Erhebungen in Balzer und im Bezirk Kamenka statt. Als Reaktion auf die besondere Brutalität von zwei Beschaffungskommandos und fortlaufende Zwangsmobilisierungen nahmen die Unruhen im Januar 1919 in Warenburg schnell den Charakter eines Volksaufstands an. Die aufgebrachten Siedler ermordeten mehrere Rotgardisten. Erst nach einer Woche konnte der Aufstand niederschlagen werden; als Sühnemaßnahme wurden 32 aktive Teilnehmer erschossen und dem begüterten Teil des Dorfes eine Kontribution in Höhe von 780.000 Rubel auferlegt.[12]

Andersherum gab es unter den Wolgadeutschen schon vor 1914 einen beträchtlichen proletarischen Anteil, der sich vor allem aus solchen Bauern zusammensetzte, die ihre geringen Landanteile verkauft oder verpachtet hatten und deren Haupteinnahmequelle Saison- beziehungsweise Heimarbeit wurde. Nicht wenige Sympathisanten und deutsche Funktionäre rekrutierten sich aus diesem Milieu, zu deren Radikalisierung zweifelsohne die Verbitterung während des Soldatendienstes und die bolschewistischen Agitationen beitrugen. Schon im Sommer 1918 begann man mit der Aufstellung von freiwilligen Verbänden. Nach der Bestätigung der Autonomie formierte sich das Erste Katharinenstädter kommunistische deutsche Regiment, das mit 2.000 Mann am 15. Dezember an die Front in der Ukraine ging. Bis 1920 wurden weitere wolgadeutsche Einheiten der Roten Armee gebildet.[13]

Die rücksichtslose Ausbeutung war der maßgebliche Grund dafür, daß die Arbeitskommune der Wolgadeutschen von der katastrophalen Hungersnot 1921-22 am härtesten getroffen wurde, die sich in abgeschwächter Form 1924 wiederholte. Ein russischer Zeitgenosse äußerte sich darüber folgendermaßen:[14]

Es gab Momente, erlösende Momente, wenn das Brot der [Deutschen] Kommune in Petrograd und Moskau rechtzeitig eintraf, wenn es schien, daß die örtliche Bevölkerung keine Hoffnung hatte, die Tagesration von einem Achtelpfund Brot zu bekommen. Im Versorgungsjahr 1919/20 hatte das Gebiet eine Ablieferungspflicht von 14,5 Millionen Pud Getreide. Wenn man berücksichtigt, daß das Territorium der Kolonien nicht mehr als den achten Teil des Territoriums des Gouvernements Saratow und den zehnten Teil des Gouvernements Samara betrug, und daß unter anderem das Gouvernement Saratow in demselben Jahr nur 36 Millionen Pud zu leisten hatte, fällt einem die augenscheinliche Nichtübereinstimmung dieser Aufträge und ihre ungleichmäßige Verteilung, ihre Nichtkoordinierung mit den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen ins Auge. Damals herrschte die Auffassung, in der kleinen Kommune sei von „allem viel und vollauf“, und dadurch erklärt sich das falsche Herangehen an die Entrichtung der Getreideablieferungspflicht und das falsche Herangehen an die örtliche Bevölkerung.

Allein 1921 verließen mehr als 80.000 deutsche Bewohner das Wolgagebiet und zogen nach Turkestan, in den Trans- und Nordkaukasus, nach Zentralrussland, in die Ukraine und bis ins Deutsche Reich. Hinzu kamen 47.777 erfasste Todesfälle, in ihrer Mehrheit Hungeropfer. Wie viele Ausgewanderte an den Folgen der Hungersnot und grassierenden Krankheiten starben, läßt sich nicht ermitteln. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass auf dem Territorium der künftigen autonomen Republik vor dem Krieg 516.289 Deutsche gezählt wurden und die Volkszählung 1926 nur noch 379.630 verzeichnete, so wird das Ausmaß des Bevölkerungsrückgangs deutlich sichtbar.[15]

Hungeraufstände

Die aussichtslose wirtschaftliche Lage und der drohende Hungertod trieben die Masse der verzweifelten deutschen Bauern zu gewaltsamen Protestaktionen. Der eigentliche Anstoß kam von auswärts. Die eingedrungene „Aufstandsarmee“ unter der Führung des ehemaligen Offiziers Michail Pjatakow eroberte am 17. März 1921 Seelmann. Der Aufstand breitete sich rasch im gesamten Autonomen Gebiet aus. Staatliche Getreidespeicher wurden aufgebrochen und das requirierte Korn unter Bauern verteilt, das Vieh geschlachtet oder aus dem Ort getrieben. Einige Tage später begann die Belagerung der Bezirkszentren Krasnoarmeisk (Saratow) und Marxstadt, die aber nicht eingenommen werden konnten. Die ganze Erhebung war gekennzeichnet von äußerster Brutalität: fast alle festgenommenen Kommunisten und Komsomolzen wie auch Rotgardisten und Mitglieder der Requirierungstrupps in den deutschen Siedlungen wurden ermordet, manchmal lebendig unter das Eis gesteckt, viele Sowjetaktivisten schwer misshandelt. Erst am 16 April konnte das Gebiet wieder vollständig unter bolschewistischer Kontrolle gebracht werden. Die Bestrafung war nicht minder erbarmungslos: Hunderte Teilnehmer oder Sympathisanten, nicht selten auch Unbeteiligte, kamen während der Erstürmung ums Leben oder wurden später durch die eiligst gebildeten Tribunale verurteilt und sofort erschossen. Allein bei der Zurückeroberung am 3. April der Siedlung Mariental durch die Einheiten der Roten Armee kamen etwa 550 Bauern um; weitere 74 wurden nach Urteilen eines Militärtribunals erschossen. [16]

Hilfe aus dem Ausland

Die Moskauer Führung sah bald ein, dass sie nicht in der Lage war, diese gefährliche Situation zu entschärfen, und zeigte deshalb großes Interesse an der Unterstützung aus dem Ausland. Dramatische Appelle des weltberühmten Schriftstellers Maxim Gorki, des Außenministers Georgi Tschitscherin u.a. prominenten Persönlichkeiten im Sommer 1921 an die Weltöffentlichkeit und die Regierungen aller Staaten, mit der Bitte um sofortige Hilfe und Unterstützung, verfehlten ihre Wirkung nicht. Zahlreiche internationale Organisationen leisteten eindringlichen Hilferufen Folge. [17] Durch die Lebensmittellieferungen retteten vor allem die „American Relief Administration“ (ARA) unter der Leitung von Herbert Hoover und das von dem bedeutenden Polarforscher Fridtjof Nansen geschaffene „Kinderhilfswerk“ das Leben von Millionen Menschen in Russland: Allein in der Arbeitskommune konnten sie schon Ende des Jahres rund 80.000 Kinder ernähren, und bis zum 1. April 1922 erhöhte sich ihre Zahl auf 158.000. In den Sommermonaten übernahmen ARA und „Kinderhilfswerk“ zeitweilig die Speisung von 181.000 Erwachsenen. Somit leisteten diese beiden wohltätigen Organisationen einen entscheidenden Beitrag zur physischen Rettung der buchstäblich vom Aussterben bedrohten wolgadeutschen Bevölkerung. [18] Auch wandten sich hochrangige sowjetischer Vertreter an die deutsche Regierung mit der Bitte, vor allem die dringend nötige ärztliche Hilfe zu leisten. So konnte Anfang 1922 u.a. eine medizinische Hilfsexpedition des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) ihre Tätigkeit zur Bekämpfung der Seuchengefahr, v.a. der Cholera, des Unterleibtyphus und der weit verbreiteten Malaria im Wolgagebiet aufnehmen. [19] In zahlreichen Ortschaften entfaltete ihre Aktivitäten die Aktionsgemeinschaft „Brüder in Not – Reichssammlung für die hungernden Deutschen“. Auch die nach Deutschland ausgewanderten Russlanddeutschen bemühten sich um eine möglichst enge Verbindung zu ihren Landsleuten und verbliebenen Verwandten. So erlaubten die Sowjetbehörden dem „Verein der Wolgadeutschen“ in Berlin für die Koordination von Hilfsaktivitäten der Emigrantenorganisationen aus Nordamerika und Deutschland, eine Anlaufstelle in Saratow aufzubauen. Im Jahre 1924 mussten allerdings die ausländischen Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit in der UdSSR einstellen.

„Abrundung“ 1922

1922 stand die Arbeitskommune vor schier unüberwindbaren Problemen. Neben einem bedeutenden Schwund an Menschenleben, fluchtartigen Abwanderungen und einer hungernden Restbevölkerung kam jegliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivität zum Erliegen. Die Aussaatfläche betrug 1921 lediglich 313 Tsd. Dessjatinen Land und betrug somit nur 29% der Aussaatfläche von 1914 (1.085 Tsd. Dessjatinen). Noch gravierender fiel in dieser Zeit der Rückgang des Viehbestandes aus: er betrug 213 Tsd. Stück Vieh oder um das 5,2fache weniger als vor dem Krieg. Die Industrieproduktion mit 4,7 Mio. Rubel im Jahre 1921 erreichte nur 31% des Vorkriegszustandes.

Die wolgadeutsche Führung versuchte unter anderem, durch eine „Abrundung“, das heisst durch die Aufnahme andersethnischen Siedlungen und Landkreise, die zwischen den deutschen Territorien und Enklaven lagen, die Überlebensfähigkeit des nationalen Gebiets zu sichern. Die angestrebte Einverleibung des mehrheitlich von den Russen und Ukrainern bewohnten Pokrowsker Bezirkes mit der gleichnamigen Stadt hätte den dringend benötigten Anschluss an das gesamtrussische Eisenbahnnetz verschafft. Die Regierung in Moskau stimmte in einem Dekret vom 22. Juni 1922 den Vorschlägen aus Marxstadt zu: die Fläche des deutschen Gebiets vergrößerte sich zunächst um 29 % auf 25.447 km² und die Bevölkerungszahl um 64 % oder auf 527.876 Menschen. Demnach stellten nach offiziellen Angaben die Deutschen mit 67,5 %, Russen mit 21,1 % und Ukrainer mit 9,7 % Bevölkerungsanteil die bedeutenden ethnischen Gemeinschaften [20]. Das Territorium wurde in 14 Kantone (Rayons) gegliedert: Pokrowsk, Krasnojar, Marxstadt, Mariental, Fjodorowka, Krasny Kut, Pallasowka, Staraja Poltawka, Seelmann, Kukkus, Balzer, Frank, Kamenka, Solotoje. Den Regierungssitz verlegte man am 25. Juli d.J. von dem abseits und ohne Eisenbahnverbindung ungünstig liegenden Marxstadt in das zentral und verkehrsmäßig wesentlich besser erreichbare Pokrowsk, 1931 in Engels umbenannt.

Insgesamt brachte die territoriale Abrundung, ungeachtet potentieller ethnischer Konflikte als Belastungsfaktor, doch wesentlich günstigere wirtschaftliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen mit sich und trug zu erhöhten Überlebungschancen der Autonomie bei.

Statuserhöhung

Ein Jahr später wurden die örtlichen Funktionäre durch die Nachricht über die mögliche Herabstufung der nationalen Autonomie zu einem „Bezirk“ in dem vorgesehenen „Wirtschaftsgebiet Untere Wolga“ alarmiert. Um dem vorzubeugen, strebten sie nun die Aufwertung des deutschen Gebiets in eine Autonome Republik an, wofür innen- und außenpolitische Gründe vorgebracht wurden [21]. Eine extra nach Moskau geschickte Abordnung konnte die Parteispitze und Stalin persönlich davon überzeugen. Am 13. Dezember 1923 stimmte das Politbüro des ZK der VKP(b) dem Vorschlag aus Pokrowsk zu. Am 6 Januar 1924 rief das XI Rätekongress des Gebiets die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aus [22]. Einige Wochen später bestätigte das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare der RSFSR im Erlass vom 20. Februar d.J. die Umwandlung [23] und legte u.a. fest, dass „Deutsch, Russisch und Ukrainisch die Amtssprachen“ der Republik sind.

1924 bis 1930er Jahre

In den 1920er Jahren wurde die Existenz dieser Republik benutzt, um damit die angebliche Toleranz der Sowjetmacht zu demonstrieren. Kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen zur Weimarer Republik wurden sogar begünstigt[24]. Die Republik wurde von einer Delegation der KPD besucht, die über die „großen Erfolge“ im „ersten deutschen sozialistischen Staat“ berichten konnte. Die Lage der Republik änderte sich, als Adolf Hitler 1933 die Macht ergriff. Während der 1930er Jahre unterlagen viele Einwohner der Republik Repressionen (Verhaftungen, Verbannungen), und das Deutschtum wurde stark eingeschränkt. In der ganzen Sowjetunion wurden zahlreiche Deutsche als „Agenten des faschistischen Regimes“ unterdrückt oder verhaftet. Im Oktober 1935 wurde der gesamte deutsche Bezirk Pulin (in Wolhynien) aufgelöst, die Einwohner wurden zwangsumgesiedelt[25][26].

1939 bis 1941

Hingegen kam es nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages (September 1939) zu einer mindestens scheinbaren Wendung. Die äußerst geringe Autonomie wurde nicht weiter eingeschränkt. Für das Jahr 1940 war angeblich auch ein Besuch Hitlers geplant. Es wurde ein Empfang vorbereitet und „laut gut dokumentierten Berichten der Parteifunktionäre bereits Banner und Hakenkreuzfähnchen zugeteilt“ (Elena Lackmann). Der Besuch kam nie zustande, aber die Banner sollten für die Bolschewiken ihren Zweck noch erfüllen, so Elena Lackmann.[27] Bald darauf war ein „Deutsches Rückwanderungskomitee“ entstanden, welches das sich verbessernde politische Klima für den Zweck der Auswanderung nach Deutschland nutzen wollte. Für die kommunistischen Behörden war die Rückwanderungsbewegung jedoch ein Dorn im Auge: die Rückwanderer konnten zuviel über die Lebensbedingungen im „ersten deutschen sozialistischen Staat“ berichten.

Bald nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden Maßnahmen gegen die Russlanddeutschen vorgesehen. Im August 1941 wurde durch einen Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR die gesamte deutsche Bevölkerung der Kollaboration für schuldig befunden. „Vertrauenswürdigen Informationen“ zufolge sollten „tausende“ der wolgadeutschen Spione und Diversanten „im Auftrag von aus Deutschland ankommenden Signalen“ Sabotage ausüben. Da dennoch keiner der Wolgadeutschen die sowjetischen Behörden über „die Anwesenheit solcher großen Menge von Diversanten und Spione informiert“ hätte, seien die Behörden zu dem Schluss gekommen[28], „infolgedessen verberg[e] die deutsche Bevölkerung der Wolgagebiete untereinander die Feinde des sowjetischen Volkes und der sowjetischen Macht.“ [29]

Deportation und Auflösung der Republik im Jahre 1941

Bald wurde die Wolgadeutsche Republik aufgelöst und die deutsche Bevölkerung deportiert. Vor dem Anfang der Deportation organisierte das NKWD etliche Provokationen, z. B. wurden in SS-Uniformen eingekleidete sowjetische Truppen, die so die Rolle einer deutschen Vorhut spielen sollten, abgesetzt. Einige deutsche Dörfer wurden vernichtet, alle Bewohner der Häuser, in denen noch die von den Behörden für den Fall des Hitler-Besuchs verteilten Flaggen gefunden wurden, wurden umgebracht.[30] Mehr als 30 % kamen ums Leben. Die meisten brachte man nach Kasachstan und Sibirien. Während des Zweiten Weltkrieges wurden auch viele Russlanddeutsche, die gar nicht in der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen lebten, zur Zwangsarbeit verpflichtet (sogenannte „Trudowaja armija“, kurz „Trudarmija“, „Arbeitsarmee“).

In Sibirien und Kasachstan wurden die Russlanddeutschen meist verstreut und nur selten in eigenen Siedlungen angesiedelt, wenngleich es in einigen Regionen (Altai, bei Omsk) deutsche Siedlungsgebiete gab, die um 1900 gegründet worden waren. Die Deutschen unterstanden während und nach dem Zweiten Weltkrieg einer sogenannten Kommandantur mit strengen Meldepflichten, Ausgangsbeschränkungen und Diskriminierungen. Es herrschten lange Zeit lagerähnliche Zustände. Die Kommandantur wurde erst im Januar 1956 aufgehoben. Die deutschen Siedlungen bestanden jedoch weiter. Auch Russen und andere Sowjetbürger zogen dorthin.

Nach der Rehabilitierung der Wolgadeutschen 1964

Nach der vollständigen Rehabilitierung [31] der Russlanddeutschen 1964, die die Vorwürfe des Stalinschen Dekrets von 1941, mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaboriert zu haben, zurücknahm [32], wurde die Wolgadeutsche ASSR jedoch nicht wiedergegründet. Seit den 1980er Jahren drängten die Russlanddeutschen auf Wiederherstellung ihrer autonomen Republik. Die Bundesrepublik Deutschland befürwortete 1992 die Wiederansiedlung an der Wolga, die russische Regierung signalisierte zeitweilig Einverständnis. Das Projekt scheiterte jedoch am massiven Widerstand der ortsansässigen nichtdeutschen Bevölkerung. Unterdessen hatte seit 1987 die Ausreisebereitschaft der Russlanddeutschen massenhafte Ausmaße angenommen und konnte in Deutschland nur durch die Einführung einer Obergrenze von maximal 100.000 Menschen pro Jahr geregelt werden. Von 1990 bis 2000 kamen mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche und ihre (teilweise nichtdeutschen) Angehörigen nach Deutschland, seit 1995 allerdings mit stark sinkender Tendenz.

Bevölkerung

Anteil der Nationalitäten an der Bevölkerung
Stand 1939

Deutsche 366.685 (60,46 %)
Russen 156.027 (25,72 %)
Ukrainer 58.248 (9,6 %)
Kasachen 8.988 (1,48 %)
Tataren 4.074 (0,67 %)
Mordwinen 3.048 (0,5 %)
Weißrussen 1.636 (0,27 %)
Chinesen 1.284 (0,21 %)
Juden 1.216 (0,20 %)
Sonstige 5.326 (0,5 %)
Gesamt 606.532 (100 %)

Literatur

  • Dittmar Dahlmann, Ralph Tuchtenhagen (Hg.): Zwischen Reform und Revolution. Die Deutschen an der Wolga 1860–1917. Essen 1994
  • Alfred Eisfeld: Deutsche Kolonien an der Wolga 1917–1919 und das Deutsche Reich. Wiesbaden 1985
  • Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Mit Beiträgen von Detlef Brandes und Wilhelm Kahle. 2-e, erw. und aktualisierte Ausgabe. Langen Müller Verlag, München 1999, ISBN 3-7844-2382-5
  • Victor Herdt (Hrsg.): Zwischen Revolution und Autonomie. Dokumente zur Geschichte der Wolgadeutschen aus den Jahren 1917 und 1918. Köln 2000
  • German A. Nemeckaja Avtonomija na Volge. 1918–1941. Čast’ I. Avtonomnaja Oblast’ 1918–1924. Saratov 1992
  • German A. Nemeckaja Avtonomija na Volge. 1918–1941. Čast’ II. Avtonomnaja respublika 1924–1941. Saratov 1994
  • Viktor Krieger: Herausbildung nationaler Kader in Kasachstan und in der Republik der Wolgadeutschen (1920er–1930er Jahre): Gemeinsames und Besonderes. In: Anton Bosch (Hrsg.): Russland-Deutsche Zeitgeschichte. Band 4, Ausgabe 2004/2005. Unter Monarchie und Diktatur. Nürnberg 2005, S. 339–370
  • Viktor Krieger: Patrioten oder Verräter? Politische Strafprozesse gegen Russlanddeutsche 1942–1946. In: Karl Eimermacher und Astrid Volpert (Hg): Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg. (West-östliche Spiegelungen – Neue Folge; Bd. 1). Wilhelm Fink Verlag, München 2005, S. 1113–1160, ISBN 978-3-7705-4089-1
  • Viktor Krieger: Personen minderen Rechts: Rußlanddeutsche in den Jahren 1941-46. In: Heimatbuch der Deutschen aus Rußland 2004. Stuttgart o.J., S. 93–107 (Volltext)
  • Viktor Krieger, Hans Kampen, Nina Paulsen: Deutsche aus Rußland gestern und heute. Volk auf dem Weg. 7. Edition. Stuttgart 2006 (Volltext)
  • Benjamin Pinkus, Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1987, ISBN 3-7890-1334-X
  • Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas – Russland, Siedler Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-88680-468-2

Quellen und Anmerkungen

  1. Stricker (1997), S. 146; Pinkus/Fleischhauer (1987), S. 70
  2. Richard H. Rowland, Die demographische Entwicklung der Wolgadeutschen vor 1914, in: Dahlmann/Tuchtenhagen (1994), S. 72–75.
  3. Stalin J.W.: Marxismus und nationale Frage (1913) (Volltext)
  4. Herdt (2000), S. 211-212. Deutsche Übersetzung der Deklaration in: (Volltext)
  5. Stalin I.W., Werke, Band 5 (Volltext)
  6. Text der ersten Verfassung der RSFSR (Volltext)
  7. Eisfeld (1985), S. 108-130; German (1992), S. 14-35.
  8. Zitiert nach: Krieger, Herausbildung (2005), S. 344.
  9. Statut des Kommissariats, unterschrieben von Stalin
  10. Dekret des Rats der Volkskommissare über die Bildung des Gebiets der Wolgadeutschen (1918)
  11. Pinkus/Fleischhauer (1987), S. 86; Diesendorf V., Herber J.: Katharinenstadt-Baronsk-Jekaterinograd-Marxstadt-Marx: Das Schicksal der größten deutschen Kolonie an der Wolga
  12. German (1992), S. 38
  13. Eisfeld (1999), S. 97
  14. Serebrjakov F.: Nemeckaja kommuna na Volge i vozroždenie Jugo-Vostoka Rossii. Moskau 1922, S. 10-11. Pud - ein altes russisches Gewichtsmaß, 1 Pud = 16,38 kg
  15. Stricker (1997), S. 145; Krieger/Kampen/Pauls (2006), S. 12
  16. German (1992), S. 97-113; Stricker (1997), S. 139-141.
  17. Pinkus/Fleischhauer (1987), S. 158–162.
  18. Stricker (1997), S. 144.
  19. Wolfgang Eckart: Nach bestem Vermögen tatkräftige Hilfe leisten
  20. Pinkus/Fleischhauer (1987), S. 86; German (1992), S. 155
  21. Stricker (1997), S. 152
  22. Eisfeld (1999), S. 103
  23. Erlass über die Bildung der Wolgadeutschen Republik
  24. Elena Lackmann Die Deportation der Sowjetdeutschen im Zweiten Weltkrieg und der Vorwurf der Kollaboration, S.6. [1]
  25. Elena Lackmann Die Deportation der Sowjetdeutschen im Zweiten Weltkrieg und der Vorwurf der Kollaboration, S.6-7. [2]
  26. Siehe auch Karte: [3]
  27. Die Deportation der Sowjetdeutschen im Zweiten Weltkrieg und der Vorwurf der Kollaboration von Elena Lackmann. [4]
  28. „Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen.“ - Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Volga-Rayons leben“ (Russisch: Указ Перезидиума Верховного Совета СССР «О переселении немцев, проживающих в районах Поволжья»), in: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956, hrsg. v. Alfred Eisfeld und Victor Herdt, Köln 1996, S. 54-55. [5]
  29. Anne Applebaum, Gulag: A History, Doubleday, 2003, ISBN 0-7679-0056-1; ch. 20; Conquest, Soviet Deportation of Nationalities, 49-50
  30. Elena Lackmann, Die Deportation der Sowjetdeutschen im Zweiten Weltkrieg und der Vorwurf der Kollaboration, S. 12, Hausarbeit (Uni Freiburg)
  31. Auswärtiges Amt Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer strafrechtlich-politischer Verfolgung
  32. Peter Hilkes, Nach dem Zerfall der Sowjetunion. Probleme der Rußlanddeutschen bei der Gestaltung ihrer Zukunft in den Nachfolgestaaten

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