Cargo-Kult-Technologie

Cargo-Kult-Technologie

Der Begriff Cargo-Kult-Wissenschaft oder englisch Cargo Cult Science stammt vom Nobelpreisträger und Physiker Richard Feynman. Feynman hat dabei einen Begriff aus der Ethnologie, Cargo-Kult, auf gesellschaftliche Abläufe in der Westlichen Welt angewendet.

Als Metapher steht „Cargo-Kult-Wissenschaft“ vor allem für (formal bzw. syntaktisch richtige) Abläufe und Prozesse im Wissenschaftsbetrieb und im Umgang mit Technologie, bei denen der Status und Symbolgehalt dieser Vorgänge den tatsächlichen Nutzwert übersteigt. Es wird also versucht, durch die eher symbolischen Handlungen wirtschaftlichen Erfolg und öffentliche Anerkennung zu erreichen.

Inhaltsverzeichnis

Cargo-Kult-Wissenschaft

Eine mögliche Anwendung sind Übergänge beziehungsweise mittlerweile stattgefundene Ausgliederungen aus dem anerkannten Wissenschaftsbetrieb (vgl. Physiognomik, Homöopathie). In den Grenzbereich fallen auch Versuche von Pseudowissenschaftlern, ihre Theorien mit dem Erwerb von Formalia und Statussymbolen des Wissenschaftsbetriebs aufzuwerten oder Teilaspekte von wissenschaftlichen Untersuchungen entsprechend heranzuziehen, vgl. Erich von Däniken, Johannes von Buttlar.

So interessant wie umstritten ist die Anwendung auf von wissenschaftlichen Hypes und Moden vorangetragenen Arbeiten mit hohem Symbolgehalt und geringem realem Nutzwert im Zusammenspiel von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik.[1] Diese informelle und polemische Verwendung findet sich auch bei etlichen englischsprachigen Blogs, Diskussionen und wissenschaftlichen Beiträgen über Verständnis und Umgang mit der globalen Erwärmung, etwa bei Stephen McIntyre.

Hans-Peter Beck-Bornholdt wie Hans-Hermann Dubben haben den ihrer Ansicht nach problematischen Umgang mit statistischen Methoden und Ergebnissen in einem an Output und Schlagzeilen - und weniger Qualität und Substanz - orientierten Wissenschaftsbetrieb in einer Reihe von Fallsammlungen und populärwissenschaftlichen Darstellungen zusammengefasst. Laut den Autoren war die propagierte Zunahme der CJD-Fälle bei Menschen statistisch nie von der durch das öffentliche Interesse an BSE verbesserten Diagnostik zu trennen. Massenschlachtungen, Importverbote und das aufwändige Testen im Zusammenhang mit BSE wären demnach rein symbolische Handlungen ohne praktischen Nutzwert oder Auswirkung.

Wissenschaftliche Untersuchungen ohne Nutzwert, aber mit hohem symbolischem Gehalt, unterstellte Walter McCrone auch einer Vielzahl von Arbeiten am Turiner Grabtuch [2]. Walter McCrone benutzte möglichst einfache, gut erprobte und adäquate Untersuchungsmethoden, was teils – mangels Medienwirksamkeit – gegen ihn verwendet wurde. Er betrieb Archiv- und Quellenarbeit zu Herkunft, Alter, Stil und Herstellungsweise des Tuches, verglich Proben vom Grabtuch mit eigenem Blut auf Textilien (wobei er deutliche Unterschiede feststellte) und konnte mit polarisations- und elektronenmikroskopischen Methoden Farbpigmente auf dem Grabtuch nachweisen[3]. McCrone interpretierte das Grabtuch als mittelalterliche Tuchmalerei; die Datierung auf das Mittelalter wurde auch durch eine später erfolgte C14 Altersbestimmung bestätigt.

Untersuchungen, die (bei laut McCrone eisenhaltigen Ockerpigmenten und organischen Bindemitteln) mit hochauflösenden High-Tech Methoden die Blutgruppe Jesu oder Brotkrumen vom Letzten Abendmahl festzustellen glauben, hielt McCrone für unsinnig. Hier gehe es mehr um eine bereits erfolgte Deutung (als geheimnisvolles Original) und die Eitelkeit von Institutsleitern sowie Marktwert beziehungsweise Prestige aufwendiger apparativer Methoden als um die Aufklärung komplexer Sachverhalte.

Cargo Kult-Technologie

In der Entwicklung und im Einsatz von Geschäftsprozessen und bei der Software-Entwicklung komplexer IT-Projekte wird durch die Bezeichnung als „Cargo-Kult“ das syntaktisch richtige aber sinnlose Abarbeiten eines Vorgehensmodells oder Prozessmodells ohne tieferes Verständnis des zugrundeliegenden Problems angeprangert. [4] In der Technikentwicklung von Großbetrieben und der Technologiepolitik von Regierungen unterstellt der Begriff ritualisiertes Festhalten an überlieferten Symbolen wie sinnlos gewordenen Projekten.

Feynmans Verwendung des Begriffs

Feynman verwendete den Begriff erstmals in einer Rede vor dem Abschlussjahrgang 1974 am Caltech. Er bezeichnete damit eine Vorgehensweise im Wissenschaftsbetrieb, die zwar formale Kriterien erfüllt, der es jedoch an wissenschaftlicher Integrität mangelt. Die Rede wurde gleichzeitig in einer Ausgabe von Engineering and Science abgedruckt[5] und ist auf vielen Webseiten zu finden, weil sie vom Caltech zur nichtkommerziellen Verbreitung freigegeben wurde.[6] Auch wurde sie später in seinem Buch Surely You're Joking, Mr. Feynman![7] abgedruckt (die deutsche Ausgabe, Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman, enthält sie nicht; sie ist dafür in Es ist so einfach enthalten).

Feynman beschreibt Riten eines Cargo-Kult wie folgt:

"Auf den Samoainseln haben die Einheimischen nicht begriffen, was es mit den Flugzeugen auf sich hat, die während des Krieges landeten und ihnen alle möglichen herrlichen Dinge brachten. Und jetzt huldigen sie einem Flugzeugkult. Sie legen künstliche Landebahnen an, neben denen sie Feuer entzünden, um die Signallichter nachzuahmen. Und in einer Holzhütte hockt so ein armer Eingeborener mit hölzernen Kopfhörern, aus denen Bambusstäbe ragen, die Antennen vorstellen sollen, und dreht den Kopf hin und her. Auch Radartürme aus Holz haben sie und alles mögliche andere und hoffen, so die Flugzeuge anzulocken, die ihnen die schönen Dinge bringen. Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei. Alles sieht genau so aus wie damals. Aber es haut nicht hin. Nicht ein Flugzeug landet." Richard Feynman: Cargo Cult Science. Eröffnungsrede des California Institute of Technology zum Semesterbeginn 1974. Übersetzt von Inge Leipold in Jeffrey Robbins (Hrsg), Richard P. Feynman, Freeman J. Dyson: Es ist so einfach - Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken (München/Zürich: Piper Verlag, 2001).

Feynman warnte, dass Wissenschaftler zuallererst vermeiden müssten, sich selbst zu täuschen, wenn sie verhindern wollten, zu Cargo-Kult-Wissenschaftlern zu werden. Außerdem müssten sie bereit sein, ihre eigenen Theorien und Resultate in Frage zu stellen und nach möglichen Schwachstellen in einer Theorie oder einem Experiment zu suchen. Dass er als ethnologischer Laie in der Rede einiges an sachlichen Fehlern (etwa geographische Zuordnung) beging, hat der Begriffsbildung keinen Abbruch getan.

Beim Umgang mit Technologie führte Feynman später seine Eindrücke aus der Untersuchungskommission der Challenger-Katastrophe an. Er krititisiert sowohl die von Wunschdenken geprägten Risikoeinschätzungen der NASA zum Space-Shuttle-Programm wie auch die Arbeit der Untersuchungskommission selbst als Cargo-Kult-Science. In beiden Fällen wurde laut Feynman formalen Kriterien genügt, ohne die teilweise absurden Inhalte zu hinterfragen.

Quellen

  1. Letzteres unterstellt Richard Lindzen einem Großteil der Forschung zur globalen Erwärmung in [1]
  2. Walter McCrone in: Wiener Berichte über Naturwissenschaft in der Kunst 1987/1988, 4/5, 50.
  3. . Siehe seine Publikation Judgment day for the Shroud of Turin. Amherst, N.Y., Prometheus Books, (1999) ISBN 1-5739-2679-5
  4. Steve McConnell: Cargo Cult Software Engineering. IEEE Software 17:2 (March/April 2000), S. 11–13.
  5. Richard Feynman: Cargo Cult Science. Engineering and Science 37:7 (June 1974), S. 10–13.
  6. Siehe unter http://calteches.library.caltech.edu/51/, "Usage Policy: You are granted permission for individual, educational, research and non-commercial reproduction, distribution, display and performance of this work in any format."
  7. Richard Feynman: Surely You're Joking, Mr. Feynman! (W. W. Norton & Company, April 1997), ISBN 0393316041.

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