Rita Atria

Rita Atria

Rita Atria (* 4. September 1974 in Partanna, Provinz Trapani; † 26. Juli 1992 in Rom) war eine italienische Informantin der Justiz [1] in Ermittlungen gegen die sizilianische Mafia.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Rita Atria wurde als jüngste Tochter eines Mafiamitgliedes in der sizilianischen Gemeinde Partanna geboren. Als sie elf Jahre alt war, wurde ihr Vater von der Mafia ermordet, weil er zum einen seine Machtposition übertrieben und sich dadurch mit vielen überworfen hatte[2], zum anderen weil er sich nicht der neuen Zeit angepasst hatte, sondern zu sehr am Althergebrachten festhielt. Durch sein offenes Nein zum Drogenhandel hatte er seinen Rückhalt bei den Accardo, der lokalen Mafiafamilie, verloren.

Nicht zuletzt wegen des schwierigen Verhältnisses zu ihrer Mutter wurde Ritas Bindung an ihren Bruder Nicola und dessen Ehefrau, Piera Aiello, noch enger. Nicola, der auch der Mafia angehörte, berichtete ihr über Geschäfte und Verstrickungen der örtlichen Mafiafamilien, außerdem erfuhr sie von ihm die Namen der Mörder ihres Vaters.

Als im Juni 1991 auch Nicola ermordet wurde, beschloss Ritas Schwägerin Piera (die übrigens nicht aus einer Mafiafamilie stammt) mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Als sogenannte „testimone di giustizia“ wandte sie sich an den Anti-Mafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino, um die Verhaftung der Mörder ihres Mannes zu erreichen.

Der Verlust ihres Bruders war ein weiterer schwerer Schlag für Rita. Im November des Jahres 1991 entschied sie sich, dem Vorbild Pieras zu folgen und ihr Wissen über das organisierte Verbrechen in Partanna den Ermittlungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck nahm sie auch ihr seit langem geführtes Tagebuch mit, in das sie u.a. detailliert die von ihrem Bruder mitgeteilten Informationen notiert hatte. Anfangs wollte sie mit ihren Aussagen lediglich die Ermordung von Vater und Bruder rächen, im Laufe der Zeit wandelte sich der Beweggrund jedoch zu einem Wunsch nach wahrer Gerechtigkeit.[3] Aufgrund ihrer Aussagen wurde Rita nicht nur von der Mafia bedroht, sondern auch von ihrer Mutter verstoßen. In dieser Zeit entwickelte sie ein herzliches Verhältnis zu Paolo Borsellino, der für sie fast wie ein Vater wurde. Die Gefährdung Ritas erforderte die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm: Hals über Kopf wurde sie von der Polizei aus Sizilien weggebracht und lebte fortan unter falschem Namen in Rom.

Diese Situation war für die erst 17-jährige Rita nicht leicht: die Trennung von der Mutter – trotz des äußerst gespannten Verhältnisses –, das Leben in Isolation und die ständige Angst vor Enttarnung. Als am 19. Juli 1992 Paolo Borsellino in Palermo durch eine Autobombe getötet wurde, war dies ein erneuter schwerer Schlag für Rita, der sie alle Hoffnung verlieren ließ.[4] Eine Woche nach dem Attentat auf den Richter sprang Rita am 26. Juli 1992 aus dem Fenster ihrer Wohnung. Entgegen anfänglicher Vermutungen, es könnte sich um einen getarnten Mord handeln, bewiesen die polizeilichen Untersuchungen, dass es Suizid war.

Auswirkungen

Die Entscheidung Ritas zur Zusammenarbeit mit der Justiz hatte vielfältige Auswirkungen sowohl auf ihr eigenes Leben als auch auf die Ermittlungen der Polizei. Zu den schwerwiegendsten persönlichen Konsequenzen zählte zweifellos die Verstoßung durch die Mutter, die – ebenso wie wiederholte Drohungen durch Mafiaangehörige – Rita dazu bewegen sollte, ihre Aussagen zurückzuziehen. Der Bruch zwischen Mutter und Tochter war so tiefgreifend, dass sie nach Ritas Tod den Grabstein und das daran angebrachte Foto mit einem Hammer zerschlug.[5] Aus einem Protokoll Ritas bei der Staatsanwaltschaft in Marsala geht hervor, dass sie bereit war, ihre Tochter umbringen zu lassen.[6]

Darüber hinaus löste Ritas Verlobter Calogero die Verlobung, weil sie die Schwägerin einer „pentita“ (= Piera Aiello) sei.[7] Auch wurde Rita von ihren Bekannten gemieden, besonders als durchgesickert war, dass sie mit der Justiz zusammenarbeitete. Diese Strategie der Isolation ging mit Drohungen von Seiten der Mafia einher, von denen Rita mehrfach mit großer Angst in ihren Aufzeichnungen berichtete.[8] Auch ihr isoliertes, anonymes Leben in Rom war für Rita eine große Belastung, was aus vielen Stellen ihres Tagebuches hervorgeht.

Auf der anderen Seite konnten durch Ritas Aussagen Beweise erbracht werden, die zur Verhaftung mehrerer Mafiosi führten.[9] Außerdem wurden Ermittlungen gegen den damaligen Bürgermeister Partannas, Vincenzino Culicchia, eingeleitet, in denen es um Verstrickungen zwischen Mafia und Politik ging.

Anfänglich waren es vor allem Frauenorganisationen gegen das organisierte Verbrechen (wie Le donne delle lenzuole, die Anti-Mafia-Bürgerbewegung La Rete und die Hungerstreik-Frauen aus Palermo), die an Rita Atria erinnern, indem sie Schweigemärsche oder Kundgebungen veranstalteten. 1994 wurde in Milazzo (Sizilien) von Studierenden unter Leitung von Nadia Furnari und Santina Latella die Associazione Rita Atria gegründet mit dem Ziel, an die unschuldigen Opfer zu erinnern und die Menschen gegen die Mafia zu mobilisieren. Diese Vereinigung – inzwischen umbenannt in Associazione Antimafie Rita Atria – wird seit Juli 2008 von Piera Aiello als Präsidentin geleitet.[10] Neben der Bekämpfung sämtlicher Formen von organisierter Kriminalität, möchte die Organisation ein Umdenken im Umgang der Behörden mit den testimoni di giustizia – insbesondere die ungerechtfertigte Gleichsetzung mit den pentiti [Vgl. Anm. 1] – erreichen, und unterstützt diese Zeugen bei der Neuorganisation ihres Lebens.

Sonstiges

Im Jahr 2009 entstand ein italienischer Kinofilm, der auf dem Leben von Rita Atria basiert. In La siciliana ribelle (wörtlich: „Die rebellische Sizilianerin“) erzählt der Regisseur Marco Amenta die Geschichte der Protagonistin Rita Mancuso. Die Figur ist zwar an Rita Atria angelehnt, aber besonders zum Schluss verfährt das Drehbuch recht frei mit den wahren Begebenheiten, weshalb Piera Aiello Kritik an der Verfilmung äußerte. Darüber hinaus beklagte sie in einem Interview, dass private Fotos und Videos der Familie Atria benutzt worden seien, die unter Umständen für sie zur Gefahr – durch Offenlegung ihrer wahren Identität – werden könnten.[11] [12]

Literatur

  • Petra Reski: Rita Atia - eine Frau gegen die Mafia. 2. Auflage, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1994, ISBN 3-455-08596-2

Weblinks

Einzelnachweise

  1. (testimone di giustizia = wörtlich: „Justizzeugin“). Der Begriff „pentita“ ist für Rita Atria nicht zutreffend, da dieser einen „Reuigen“ (= pentito) bezeichnet, also jemanden, der in ein Verbrechen verwickelt ist und nun Informationen darüber preisgibt, um auszusteigen oder einen Strafnachlass zu erhalten. Rita hingegen hat nie eine Straftat begangen, sondern stellt ihr Wissen der ermittelnden Justiz zur Verfügung. Vgl. dazu auch Borsellinos Ansichten in Reski: Rita Atria. S. 164f, sowie Ritas Selbstbewertung ibd. S. 166.
  2. Petra Reski: Rita Atria - eine Frau gegen die Mafia. 2. Auflage, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1994, S. 49ff.
  3. Vgl. Piera Aiello über Rita Atria: „La grandezza di Rita sta proprio nel percorso di crescita che l'ha portata da un uso vendicativo della giustizia a credere veramente nella giustizia.“ http://www.ritaatria.it/PieraRita.aspx , Zugriff am 28. Juli 2009.
  4. Vgl. dazu Tagebucheintragungen: „Ora che è morto Borsellino, nessuno può capire che vuoto ha lasciato nella mia vita. […] Borsellino, sei morto per ciò in cui credevi ma io senza di te sono morta.“ http://www.ritaatria.it/IlDiario.aspx , Zugriff am 20. Juli 2009.
  5. Petra Reski: Rita Atria - eine Frau gegen die Mafia. S. 18–19 und S. 202.
  6. Petra Reski: Rita Atria - eine Frau gegen die Mafia. S. 158.
  7. Petra Reski: Rita Atria - eine Frau gegen die Mafia. S. 123.
  8. Vgl. Petra Reski: Rita Atria. S. 132f. Im Original finden sich entsprechende Passagen unter http://www.ritaatria.it/IlDiario.aspx
  9. Vgl. Petra Reski: Rita Atria. S. 30: „55 Angeklagte haben sie [= Rita und Piera; Anm. d. Verf.] Partanna eingebracht, 35 Mafiosi wurden verhaftet, und es regenete Urteile […]“.
  10. http://www.ritaatria.it/ChiSiamo.aspx
  11. Artikel vom 11. März 2009 im Corriere della Sera: „Film sulla pentita, guerra nell'antimafia“, online unter http://www.corriere.it/cronache/09_marzo_11/film_pentita_guerra_legale_antimafia_cavallaro-3b4a4714-0e09-11de-3b4a-0014f02aabc.shtml abgerufen am 27. Juli 2009.
  12. Artikel vom 26. März 2009 auf Reuters: "Italy anti-mafia film sparks anger with relatives", online unter http://reuters.com/article/idUSTRE52P43Y20090326 , abgerufen am 15. April 2010.

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