Daseinsfürsoge

Daseinsfürsoge

Daseinsvorsorge (nicht: „Daseinsfürsorge“) ist ein verwaltungsrechtlicher Begriff, der auch in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein sinnvolles menschliches Dasein notwendigen Güter und Leistungen − die sogenannte Grundversorgung. Dazu zählt als Teil der Leistungsverwaltung die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw. (Infrastruktur). Dabei handelt es sich größtenteils um Betätigungen, die heute von kommunalwirtschaftlichen Betrieben wahrgenommen werden.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft des Begriffes

Der Begriff wurde von Ernst Forsthoff im Anschluss an Karl Jaspers in die verwaltungsrechtliche Diskussion eingebracht. In seiner 1938 in Königsberg erschienenen Schrift Die Verwaltung als Leistungsträger hat er auf die Entwicklung zur Leistungsverwaltung hingewiesen und wollte mit der Begriffsbildung eine Abkehr vom seit Otto Mayer vorherrschenden Verwaltungsverständnis einleiten, der unter der für die verwaltungsrechtliche Dogmatik maßgeblichen Verwaltung noch in erster Linie die (hoheitliche) Eingriffsverwaltung verstand. Forsthoff definierte den Begriff Daseinsvorsorge als „diejenigen Veranstaltungen, die zur Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses getroffen wurden“. Forsthoff hat dem Begriff noch eine wirtschaftslenkende und die individuelle Freiheit verneinende Vorstellung zugrunde gelegt. Damals (1938) gab es unter der NS-Herrschaft in Deutschland keinen Grundrechtsschutz, der die individuelle Freiheitsentfaltung garantiert hätte. Damit einhergehend konnte die Daseinsverantwortung nicht beim Einzelnen liegen, sondern nur bei den Trägern der politischen Gewalt (Staat und Partei). Von der politischen Gewalt sollte die Daseinsvorsorge im Rahmen ihrer Daseinsverantwortung getroffen werden.

Daseinsvorsorge unter dem Grundgesetz

Die von Forsthoff gegebene inhaltliche Bestimmung des Begriffs Daseinsvorsorge ist unter der Geltung des Grundgesetzes kritisch zu hinterfragen gewesen. Der Begriff wurde jedoch keineswegs aufgegeben, sondern wurde unter der Geltung des Grundgesetzes im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft Allgemeingut. Er deutet auf die Aufgabe des Staates zur Daseinsgestaltung hin. Gemeinhin wird der Staat der Sozialen Marktwirtschaft dabei auch als „Gewährleistungsstaat“ verstanden. Daseinsvorsorge wird dabei teilweise als ein verfassungsrechtlich geschützter Aspekt des Sozialstaatsprinzips verstanden. Diese Auffassung ist jedoch umstritten. Andererseits wird in der verfassungsrechtlichen Diskussion zudem hervorgehoben, dass die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, und damit auch die Tätigkeit im Rahmen der Daseinsvorsorge, durch die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz geschützt wird. Auch hier ist aber der genaue Umfang des verfassungsrechtlichen Schutzes umstritten. Insbesondere gibt es aber unter dem Grundgesetz keine abgeschlossene Staatsaufgabenlehre, so dass die Daseinsvorsorge nicht als verfassungsmäßige Staatsaufgabe bezeichnet werden kann.

Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff

Juristisch ungeklärt und heftig umstritten ist auch die rechtliche Relevanz des Begriffes Daseinsvorsorge. In der Verwaltungsrechtswissenschaft gibt es kaum einen Terminus, der eine größere Faszination ausgelöst hat, aber andererseits auch mehr Ärgernis erregt hat als der Begriff der Daseinsvorsorge. In der verwaltungsrechtlichen Diskussion wird er einerseits häufig verwendet und als Argumentationsstütze herangezogen. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass er mehr ein soziologischer Begriff mit vorrangig „problemverdeutlichender, weniger problemlösender Funktion“ sei. Selbst Forsthoff musste 1959 anmahnen, dass der Begriff zu einem „Allerweltsbegriff“ wurde, „mit dem man alles und deshalb nichts beweisen kann.“ Im „Staat der Industriegesellschaft“ räumte Forsthoff ein, es handele sich um einen Begriff der Staatswissenschaften „wie sie im 18. Jahrhundert verstanden wurden“ (S. 77).

Jedenfalls kann man heute aber nicht mehr behaupten, dass der Begriff kein Rechtsbegriff im gesetzestechnischen Sinne sei, denn seit einiger Zeit verwenden einige Gemeindeordnungen der Länder den Begriff Daseinsvorsorge: In Baden-Württemberg (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 GemO), Bayern (Art. 87 Abs. 1 Nr. 4 BayGO) und Thüringen (§ 71 Abs. 1 Nr. 4 KO) gilt die kommunalwirtschaftliche Subsidiaritätsklausel nur „außerhalb der kommunalen Daseinsvorsorge“. Dies wird jedoch wegen der juristischen Unschärfe des Begriffs Daseinsvorsorge als problematische Regelung angesehen.

Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft heute

Im Rahmen der derzeitigen Privatisierungsdebatte wird der Begriff zunehmend polarisierend aufgefasst. Wer eher etatistisch denkend den Staat in erster Linie als „Gewährleistungsstaat“ ansieht, neigt dazu, dem Begriff eine besondere und wichtige Rolle einzuräumen. Liberale, bzw. neoliberale Politiker halten das Ende der Daseinsvorsorge für gekommen. Jedenfalls ist seit der fortschreitenden Privatisierung zu beobachten, dass viele ehemals von Staats- bzw. Gemeindemonopolen wahrgenommene Betätigungen der Daseinsvorsorge heute mit privaten Anbietern konkurrieren müssen bzw., dass die traditionellen Leistungen der Daseinsvorsorge heute auch von Privaten wahrgenommen werden. Auch im Zuge der fortschreitenden Europäisierung des Wirtschaftsrechts sehen selbst die Kommunen und Vertreter der Kommunalwirtschaft die Aufgabe der Kommunalwirtschaft schrumpfen.

Daseinsvorsorge in Europa

Der deutsche Begriff Daseinsvorsorge entspricht grob dem, was in Frankreich als „service public“ angesehen wird (siehe dazu die französische Wikipedia und den Wikipedia-Artikel über den Service public in der Schweiz). Auch in Frankreich kommt dem Begriff eine schillernde Bedeutungsvielfalt zu. Er lässt sich daher nur ungenau mit Daseinsvorsorge übersetzen. Dazu kommen nationale Besonderheiten, die den Begriffen ihr jeweils eigenes Gepräge geben. Üblicherweise versteht man in Frankreich unter „services publics“ die von großen Staatsmonopolen bereitgestellten Güter und Dienstleistungen. Definiert wird der Begriff etwa als „Funktion, soweit er die Tätigkeit des Staates in den Dienst der Allgemeinheit stellt.“

Im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wird in Anlehnung an den französischen Begriff der „services publics“ in Art. 86 Abs. 2 von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ gesprochen. Diese werden definiert als „marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden.“ Auch darunter werden größtenteils die Bereiche der Daseinsvorsorge verstanden. Allerdings sind die Begriffe nicht inhaltlich identisch.

Literatur

  • Ernst Forsthoff: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938
  • Ernst Forsthoff: Die Daseinsvorsorge und die Kommunen, Stuttgart 1958
  • Fritz Ossenbühl: Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, in: DÖV, Jahrgang 1971, S. 513 ff. (Heft 15/16)
  • Johannes Hellermann: Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, Tübingen 2000, zugl. Habil. Bielefeld 1998
  • Ulrich Hösch: Die kommunale Wirtschaftstätigkeit - Teilnahme am wirtschaftlichen Wettbewerb oder Daseinsvorsorge, Tübingen 2000
  • Johann-Christian Pielow Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, Tübingen 2001, zugl. Habil. Bochum 1998
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juli 2004 Nr. 170, Seite 10: Kommunen sehen Aufgabe der Daseinsvorsorge schrumpfen
  • Jens Libbe, Jan Hendrik Trapp: Gemeinwohlsicherung als Herausforderung - kommunale Steuerungspotenziale in differenzierten Formen der Aufgabenwahrnehmung. Eine Positionsbestimmung.
  • Jens Libbe, Jan Hendrik Trapp und Stephan Tomerius (Hrsg.): Gemeinwohlsicherung als Herausforderung - umwletpolitisches Handeln in der Gewährleistungskommune. Theoretische Verortung der Druckpunkte und Veränderungen in Kommunen. Berlin 2004
  • Christian Linder Daseinsvorsorge in der Verfassungsordnung der Europäischen Union, Frankfurt a.M. 2004
  • Jens Kersten: Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im wissenschaftlichen Werk von Ernst Forsthoff, in: Der Staat 44 (2005), Heft 4
  • Milos Vec: Daseinsvorsorge, in: Cordes/Lück/Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, 4. Lieferung, Berlin 2007, S. 933-935
  • Alexandra Kemmerer: Als die Bürger die Grenzen ihrer Zuständigkeit noch kannten. Ist die "Daseinsvorsorge" ein Existentialismus? Forsthoffs Schlüsselbegriff des staatlichen Handelns erfährt eine Historisierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. August 2007 (Nr. 200), S. N 3
  • Boysen, Sigrid / Neukirchen, Mathias: "Europäisches Beihilferecht und mitgliedsstaatliche Daseinsvorsorge". Baden Baden 2007, ISBN 3-8329-2303-9
  • Neukirchen, Mathias: "Transparenz-Richtlinie und Transparenzrichtlinien-Gesetz: Ein Leitfaden für die Praxis" in "Europarecht 2005" Heft 1, Seite 112-123. ISSN 0531-2485

Siehe auch

  • VÖWG Verband der Öffentlichen Wirtschaft und Gemeinwirtschaft Österreichs
  • CEEP Europäischer Zentralverband der Öffentlichen Wirtschaft

Weblinks


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