Desiderius Erasmus Roterodamus

Desiderius Erasmus Roterodamus
Erasmus von Rotterdam gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren (1523)

Erasmus (Desiderius) von Rotterdam (* 27. Oktober 1465 [oder 1469] in Rotterdam; † 12. Juli 1536 in Basel) war ein bedeutender Gelehrter des europäischen Humanismus. Er war Theologe, Philosoph, Philologe und Autor zahlreicher Bücher.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Erasmus-Epitaph im Basler Münster

Erasmus Desiderius von Rotterdam wurde als Sohn des Goudaer Priesters Rotger Gerard und seiner Haushälterin, einer Arzttochter, zwischen 1464 und 1469 in Rotterdam geboren. Er hatte einen 3 Jahre älteren Bruder Namens Peter, mit dem er zusammen erzogen wurde. Den Beinamen Desiderius fügte sich Erasmus später hinzu und benutzte ihn ab 1496[1]. Als Augustinerchorherr wurde er im April 1492 zum Priester geweiht und verließ im folgenden Jahr im Dienst des Bischofs von Cambrai das Kloster, das er später nie mehr betrat. Von 1495 bis 1499 studierte er an der Sorbonne in Paris und gelangte von dort aus mit seinem Schüler Lord Mountjoy nach England, wo er unter anderen Thomas Morus und John Colet kennen lernte, später auch William Warham, John Fisher und den jungen Prinzen Heinrich, den späteren König Heinrich VIII. Er lernte in England auch das höfische Leben kennen (und schätzen) und entwickelte sich vom Kanoniker zum weltgewandten Gelehrten. Von 1500 bis 1506 hielt er sich abwechselnd in den Niederlanden, in Paris und in England auf. In den Jahren 1506 bis 1509 bereiste er Italien, wo er intensive Schriftstudien betrieb und in Turin zum Doktor der Theologie promovierte. In Venedig lernte er den Verleger Aldus Manutius kennen und ließ bei ihm einige seiner Werke drucken. Anschließend reiste er wieder nach England, wo er in Cambridge Griechisch lehrte und 1511 auch die Pfarrei von Aldington erhielt. Er pendelte danach jahrelang zwischen England, Burgund und Basel. Ab 1515 wirkte Erasmus einige Jahre am Hofe von Burgund in Löwen, unter anderem als Erzieher (Rat) des Prinzen Karl, dem späteren Kaiser Karl V.

Von 1524 bis 1529 lebte er in Basel, um seine Schriften in der Werkstatt seines späteren Freundes Johann Froben drucken zu lassen. Er begegnete 1524 erstmals Johannes a Lasco, dem späteren Reformator Frieslands, der zu einem seiner Lieblingsschüler wurde. Als sich die von Johannes Oekolampad betriebene, an Zwingli angelehnte Reformation auch dort durchsetzte, ging er 1529 nach Freiburg im Breisgau, wo er sich - inzwischen wohlhabend - ein Haus kaufte. Im Jahre 1535 kehrte er nach Basel zurück und verstarb dort am 12. Juli 1536. Seine Gebeine ruhen in einem Epitaph im Basler Münster. Teile seines Nachlasses sind im Historischen Museum Basel ausgestellt. Welch hohes Ansehen der Humanist bereits zu Lebzeiten genoss, zeigt die Tatsache, dass er als katholischer Priester in der Zeit heftigster konfessioneller Auseinandersetzungen im protestantischen Basler Münster beigesetzt wurde.

Werk

Erasmus war ein Vielschreiber und hat nach heutiger Erkenntnis etwa 150 Bücher geschrieben. Darüber hinaus sind über 2000 Briefe von ihm erhalten. Wegen seiner feinen Ausdrucksweise genossen seine Briefe in Europa große Aufmerksamkeit. Es ist geschätzt worden, dass er ca. 1000 Worte täglich zu Papier gebracht hat. Er sah sich (mit der neuen Buchdrucktechnik) als ein Vermittler von Bildung: "Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen!" Als Textkritiker, Herausgeber (Kirchenväter, Neues Testament) und Grammatiker begründete er die neuzeitliche Philologie. Er sprach meistens lateinisch und schrieb ausschließlich auf Latein oder Griechisch. Seine gesammelten Werke sind 1703 in zehn Bänden herausgegeben worden.[2] Auf ihn geht die heute in westlichen Ländern übliche Aussprache, insbesondere die Betonung des Altgriechischen zurück. Die korrekte Aussprache ist heute umstritten und wohl nicht mehr zweifelsfrei klärbar, obschon es eine in der Wissenschaft weitgehend akzeptierte Rekonstruktion gibt. Vgl. Altgriechische Phonologie

Sein heute bekanntestes Werk ist seine "Stilübung" (wie er sie nannte), die Satire Lob der Torheit, die er seinem Freund Thomas Morus widmete. Mit ihr entgegnete er 1509 mit Spott und Ernst tief verwurzelten Irrtümern und trat für vernünftige Anschauungen ein. Er war ein begnadeter Formulierer und liebte die Ironie, beispielsweise in seiner Satire Julius vor der verschlossenen Himmelstür, die er nach dem Tode des "Soldatenpapstes" Julius II. schrieb. Neben diesen beiden Satiren, lässt sich das schriftstellerische Werk von Erasmus wie folgt ordnen:

Theologische Schriften

1516 veröffentlichte er eine kritische Edition des griechischen Neuen Testaments, Novum Instrumentum omne, diligenter ab Erasmo Rot. Recognitum et Emendatum., mit einer neuen, von ihm selbst durch Überarbeitung der Vulgata erstellten lateinischen Übersetzung und Kommentar. Erasmus' Neues Testament war der erste erhältliche vollständige gedruckte griechische Text des Neuen Testaments (ein anderes, schon früher begonnenes Projekt zum Druck des Textes war ins Stocken geraten und kam letztlich erst später auf den Markt). Offenbar sah Erasmus den griechischen Text zuerst nur als Beiwerk zu seiner neuen lateinischen Fassung an, um seine Änderungen gegenüber der Vulgata begründen zu können. Er widmete die Ausgabe dem Papst Leo X. und nutzte dabei wiederentdeckte Manuskripte, die mit griechischen Flüchtlingen aus Konstantinopel in den Westen gelangt waren. Nach dem Erfolg der Erstausgabe nannte er das Werk von der zweiten Auflage (1519) an schlicht Novum Testamentum. Es wurde von den Übersetzern der King James Bibel benutzt und diente auch Luther als Ausgangstext für seine deutsche Bibelübersetzung. Der Text wurde später bekannt als textus receptus. Erasmus besorgte drei weitere, jeweils überarbeitete Auflagen 1522, 1527 und 1535.

In den Jahren 1522 bis 1534 setzte sich Erasmus in verschiedenen Schriften mit den Lehren und Schriften Luthers auseinander (siehe Rubrik "Verhältnis zu Luther"). Zwei Jahre vor seinem Tod, versuchte er mit der Schrift De sarcienda ecclesiae concordia noch einmal, die zerstrittenen Glaubensparteien zu befrieden. In den grundlegenden Glaubensfragen wäre man einig, war Erasmus überzeugt, weniger Wichtiges, die Adiaphora, könne man den einzelnen Gläubigen und ihren Gemeinden frei stellen. In den von Kaiser und Fürsten initiierten Religionsgesprächen versuchten bedeutende Theologen bis ins 16. Jahrhundert hinein, die Konfessionen auf der erasmischen Grundlage wieder zusammenzuführen. Sie blieben erfolglos.

1536 schrieb Erasmus sein letztes Werk, De puritate ecclesiae christianae, eine Auslegung von Psalm 14, die er einem einfachen Leser, einem Zöllner, mit dem er sich auf einer seiner vielen Reisen angefreundet hatte, widmete. Sein Einfluss war bis in das Zeitalter der Aufklärung in Europa von überragender Bedeutung.

Erasmus hat sich besonders um die Bibelexegese verdient gemacht, in der er die Grundlagen für die reformatorische Theologie legte. Sein schlechter Ruf, er habe vor allem auf die ethisch-moralische Seite der Religion Wert gelegt, beruht auf einem kleinen Frühwerk von 1503, dem Enchiridion militis Christiani (Handbuch des christlichen Streiters), das zu seiner Zeit sehr beliebt war und in der Forschung lange als ein Hauptwerk von Erasmus galt. Zunächst der Reformation gegenüber offen, wandte sich der Humanist von ihr ab, als er Martin Luther in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche sah. Sie war auch die Ursache für seinen Streit mit Ulrich von Hutten.

Weitere Schriften

1515 schrieb er Die Erziehung des christlichen Fürsten (Institutio Principis Christiani), die er als neuernannter Rat des Fürsten dem späteren Karl V. widmete. Das Werk sieht in christlich-moralischen Lebensgrundsätzen des Regierungsoberhauptes die wichtigste Voraussetzung für eine friedliche, segensreiche Politik. Es war bei den zeitgenössischen Fürsten sehr beliebt. Ferdinand I. soll es auswendig gelernt haben.

1517 erschien Die Klage des Friedens, in der Erasmus während des erbarmungslosen Machtkampfes um die Oberherrschaft in Italien dem Friedenswillen eine Stimme verlieh. Er hat damit eine dezidierte pazifistische Position vertreten und lehnte Kriege mit einer Ausnahme ab: Nur wenn das gesamte Volk sich für einen Krieg ausspreche, sei er legitim.

Postumes Bildnis des Erasmus von Rotterdam, Süddeutschland, frühes 17. Jh.

In seinem 1528 herausgegebenen Dialogus Ciceronianus trat Erasmus für eine individuell gestaltete Lebensweise ein, die sich nicht nur an antiken Vorbildern orientieren sollte.

In den letzten Lebensjahren vervollständigte Erasmus eines seiner umfangreichsten Hauptwerke, die Adagia. Es ist eine Sammlung von antiken Weisheiten und Sprichwörtern (als Fortsetzung seines Erstwerkes Antibarbari, vor 1500 begonnen), die er schrittweise von etwa 800 auf über 4250 Zitate ausbaute. Es wurde sein erfolgreichstes Werk und bis in die Zeit der Aufklärung gelesen (auch Goethe hatte es stets zur Hand). Ein ähnliches Werk, eine Sammlung von fast 3000 Anekdoten und Zitaten berühmter Männer und Frauen aus der Antike, ist die Apophthegmata, die er 1534 für den Herzog Wilhelm von Cleve veröffentlichte.

Seine Colloquien und sein „Benimmbuch“ De civilitate wurden in den Schulen gelesen. Auch Täufer und Spiritualisten, z. B. Sebastian Franck, beriefen sich auf ihn. Erasmus wandte sich gegen kirchliche Missstände, die Veräußerlichung der Religion und den Dogmenzwang. Er beklagte: „Wenn man sich die Durchschnitts-Christen ansieht, besteht nicht all ihr Tun und Lassen in Zeremonien?“[3] An anderer Stelle schrieb er: „Die christliche Religion steht einer gewissen Torheit recht nahe; hingegen mit der Weisheit verträgt sie sich schlecht!“[4]

Kritik und Würdigung

Verhältnis zu Luther

Erasmus und Luther haben sich persönlich nie kennengelernt, korrespondierten jedoch mehr oder weniger öffentlich ab 1519 miteinander. Während Luther eine "harte Linie" gegen das dekadente Papsttum der römisch-katholischen Kirche vertrat, setzte sich Erasmus für "innere Reformen" ein und bat Luther um Mäßigung, so in seinem Brief vom 30. Mai 1519:[5]

... Soviel wie möglich halte ich mich neutral, um desto mehr dem Wiederaufblühen der Wissenschaft nützlich zu sein. Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand weiter als mit Sturm und Drang [...] Es empfiehlt sich mehr, laut gegen die aufzutreten, die die päpstliche Autorität missbrauchen, als gegen die Päpste selbst, und glaube, so muss man es auch bei den Königen machen. Bei Dingen, die so fest eingewurzelt sind, dass man sie nicht plötzlich aus den Herzen reißen kann, muss man lieber mit beständigen und wirksamen Argumenten disputieren, statt schroffe Behauptungen aufstellen. Giftige Streitereien gewisser Leute sollte man mehr verachten als widerlegen. Immer muss man sich davor hüten, anmaßend oder parteilich zu reden oder zu handeln; so, glaube ich, ist es dem Geiste Christi angenehm.

Auch in religiösen Fragen zeigten sich bald Unterschiede. Während Erasmus die These aufstellte, Gott habe dem Menschen einen freien Willen, zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen, belassen, der freilich nur mit Gottes Gnade wirksam werden könne, argumentierte Luther mit der Erbsünde und der Allmacht Gottes, durch die jede Tat des Menschen vorausbestimmt sei. Luther verglich den menschlichen Willen mit einem Pferd „das der Teufel reitet“ oder das Gott lenkt. Es sei unmöglich, einen der beiden Reiter los zu werden, denn jedes menschliche Schicksal sei vorbestimmt und endet entweder in der Hölle oder im Himmel. Gottes Liebe und Hass sind ewig und unverrückbar, schrieb Luther in seiner Erwiderung an Erasmus, sie sind gewesen, „ehe der Welt Grund gelegt ward“, noch ehe es einen Willen oder Werke des Willens gab.

1524 veröffentlichte Erasmus auf Luthers "Kampfschrift": Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, seine Entgegnung: Vom freien Willen De libero arbitrio, ein Werk, mit dem der Bruch mit Luther endgültig besiegelt wurde. Seine letzte kritische Auseinandersetzung mit dem Titel Hyperaspistes kommentierte Luther mit dem bekannten Ausspruch: "Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig."

Ambivalenz

Einerseits sparte Erasmus nicht mit beißender Kritik an frömmelnden Christen, heuchlerischen Mönchen, korrupten Päpsten, katholischen Riten und dem Ablasshandel. Andererseits verteidigte er das Papsttum, distanzierte sich von jeder Veränderung durch Gewalt und versagte den Reformatoren seine Unterstützung. Luther empfand dies als Verrat und schrieb ihm:

Da wir sehen, dass Dir der Herr weder den Mut noch die Gesinnung verliehen hat, jene Ungeheuer [die Päpste] offen und zuversichtlich gemeinsam mit uns anzugreifen, wagen wir von Dir nicht zu fordern, was über Dein Maß und Deine Kräfte geht.

Auch manche Historiker - insbesondere aus dem protestantischen Lager - teilten später diese Einschätzung und kritisierten die als unentschlossen empfundene Haltung des Erasmus. Auch die Tatsache, dass er sich in der Reuchlin-Affäre, die viele humanistische Gemüter in Wallung brachte, zu einigen antijudaistischen Bemerkungen gegen Pfefferkorn hinreißen ließ, hat ihm Kritik eingebracht.[6][7] Im Gegensatz dazu hat Erasmus aber bei anderen Gelegenheiten gegen Antijudaismus protestiert[8] und war in dieser Hinsicht geradezu harmlos im Vergleich zu anderen Zeitgenossen wie etwa Martin Luther und dessen Schrift: Von den Jüden und iren Lügen.

Würdigung

Als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Repräsentanten des europäischen Humanismus wurde der Theologe durch seine kirchenkritische Haltung und seinen der historisch-kritische Exegese verpflichteten theologischen Schriften zum Vorreiter der Reformation. Durch sein Eintreten für relative Religionsfreiheit nahm er eine humanistische Position jenseits des katholischen wie auch des lutherischen Dogmatismus ein. Ihn als Verteidiger "religiöser Toleranz" zu bezeichnen, ist insofern missverständlich, weil er selbst stattdessen die Begriffe Frieden und Konkordanz verwendet[9] (tolerantia nur für die Wahl des Geringeren von zwei Übeln, was bei Konflikten religiöser Doktrinen nicht vorliegt) und ernsthafte Irrlehren sollten auch seiner Meinung nach unterdrückt werden, ggf. auch durch Anwendungen der Todesstrafe.[10]

Erasmus zählte zu den geachtetsten Gelehrten seiner Zeit, man nannte ihn "den Fürsten der Humanisten". Er korrespondierte mit fast allen Herrschern und Päpsten seiner Epoche und wurde allseits für seine offenen Worte und den brillanten Stil bewundert und geachtet, beispielsweise vom englischen König Heinrich VIII., dem er im September 1517 unter anderem schrieb:

Erasmus-Denkmal in Rotterdam
Könige werden weise durch den Verkehr mit weisen Männern, zumal unter den vielen Reichsgeschäften, ja, „Welthändeln“, mit denen Du zu tun hast, kaum ein Tag vorübergeht, an dem Du nicht etwas Zeit auf Bücherlesen verwendest und gerne mit jenen alten Weisen ins Gespräch kommst, die am allerwenigsten Dir nach dem Munde reden [...] Wie ein verständiger und frommer Fürst an alle denkt, für alle wacht, für alle insgemein sorgt, da er ein öffentliches Amt hat, kein privates, so ziemt es sich, dass jeder an seinem Teil nach Kräften diese Sorgen und Mühen zu unterstützen sucht. Da ich für meinen Teil nur durch meine kleinen wissenschaftlichen Studien den Königen diese Pflicht leisten kann, habe ich vorlängst die Schrift des Plutarch „Über Art und Weise, einen Schmeichler von einem Freund zu unterscheiden“, aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen und Deiner Majestät gewidmet...

Der Priester und Mönch Erasmus übte scharfe Kritik an Missständen in der Kirche und trat für eine innere Reform der katholischen Kirche ein. Er galt als einer der ersten "Europäer" und hoffte auf die "Vernunft" der Herrschenden, auch ohne Krieg zu einem dauerhaften Frieden zu kommen. Er legte Wert auf Neutralität und Toleranz und sah die Gefahren der Religionskriege voraus. Seine eigene Lebensleistung schätzt er in einem Brief an Willibald Pirckheimer wie folgt ein:[11]

Meine Lebensleistung bestand darin, dass ich eine begrabene und vergessene Literatur zu neuem Leben erweckt und dass ich die Theologen von ihren philosophischen Haarspaltereien zur Kenntnis des Neuen Testaments zurückgeführt habe.

Wegen seiner kritischen Haltung zur römisch-katholischen Kirche wurden seine Werke auf dem Konzil von Trient auf den Index gesetzt. Der holländische Kultur-Historiker und Erasmus-Biograph Johan Huizinga charakterisiert Erasmus trefflich als einen geistigen Typus der ziemlich seltenen Gruppe, die zugleich unbedingte Idealisten und durchaus Gemäßigte sind ... „sie können die Unvollkommenheit der Welt nicht ertragen, sie müssen sich widersetzen; aber sie fühlen sich bei den Extremen nicht zu Hause, sie schrecken vor der Tat zurück, weil sie wissen, dass diese immer ebenso viel zerbricht als aufbaut; und so ziehen sie sich zurück und rufen weiter, alles müsse anders werden; aber wenn die Entscheidung kommt, wählen sie zaudernd die Partei der Tradition und des Bestehenden. Auch hier liegt ein Stück von der Tragik im Leben des Erasmus: Er war der Mann, der das Neue und Kommende besser sah als irgend jemand; der sich mit dem Alten überwerfen musste und doch das Neue nicht ergreifen konnte.“

Als kritischer Denker seiner Zeit zählte Erasmus zu den Wegbereitern der europäischen Aufklärung und wurde gleichermaßen von Spinoza, Rousseau, Voltaire, Kant, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche geachtet. Stefan Zweig würdigte ihn in seiner Erasmus-Hommage:

Er war geboren als eine bindende oder, um mit Goethe zu sprechen, der ihm ähnlich war in der Ablehnung alles Extremen, eine „kommunikative Natur“. Jede gewaltsame Umwälzung, jeder „tumultus“, jeder trübe Massenzank widerstrebte für sein Gefühl dem klaren Wesen der Weltvernunft, der er als treuer und stiller Bote sich verpflichtet fühlte, und insbesondere der Krieg schien ihm, weil die größte und gewalttätigste Form der Austragung inneren Gegensatzes, unvereinbar mit einer moralisch denkenden Menschheit. Die seltene Kunst, Konflikte abzuschwächen durch gütiges Begreifen, Dumpfes zu klären, Verworrenes zu schlichten, Zerrissenes neu zu verweben und dem Abgesonderten höheren gemeinsamen Bezug zu geben, war die eigentliche Kraft seines geduldigen Genies, und mit Dankbarkeit nannten die Zeitgenossen diesen vielfach wirkenden Willen zur Verständigung schlechthin: „das Erasmische“![12]

Ehrungen

Werke (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Johan Huizinga: Erasmus; Seite 5-7, Basel 1928, Neuauflage 1988, Schwabe Verlag
  2. Jean LeClerc (Hrsg) Opera Omnia.
  3. Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria.
  4. Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit.
  5. Erasmus von Rotterdam, An Martin Luther, Brief Nr. 150. In Walter Köhler (Hrsg.): Briefe des Erasmus von Rotterdam, 3. Auflage Bremen 1956)
  6. Eine umfassende Studie dazu liegt vor mit Shimon Markish: Erasmus and the Jews, übers. A. Olcott, Chicago 1986. Zum weiteren Kontext siehe auch Oberman 1981
  7. Kisch 1969: 38f.
  8. Rummel 2004: 32
  9. Vgl. Klaus Schreiner, Gerhard Besier: Toleranz, Geschichtliche Grundbegriffe, hg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, 7 Bde., Stuttgart 1972-92, Bd. 6, 445-605, 473; Mario Turchetti: L'Une question mal posée: Erasme et la tolérance. L'idée de sygkatabasis, Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 53 (1991), 379-95; István Bejczy: Tolerantia: A Medieval Concept, in: Journal of the History of Ideas 58/3 (1997), 365-384, 176ff
  10. Belege bei Bejczy 1997, 377
  11. Walter Köhler (Hrsg): Briefe des Erasmus von Rotterdam.
  12. Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Frankfurt 1981.

Literatur

  • Bentley-Taylo, David: My dear Erasmus. – Fearn: Christian Focus Publ., 2002.
  • Christ-von Wedel, Christine: Erasmus von Rotterdam. Anwalt eines neuzeitlichen Christentums – Münster: Lit., 2003.
  • Faluday, György: Erasmus von Rotterdam. – Frankfurt am Main: Societäts-Verlag, 1973.
  • Halkin, Léon E.: Erasmus von Rotterdam. – Zürich: Benziger, 1989.
  • Huizinga, Johan: Erasmus; 1928 Neuauflage 1988, Schwabe Verlag
  • Kisch, Guido, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit. Studium zum humanistischen Rechtsdenken. Basler Studien zur Rechtswissenschaft 56, S. 69–89, Basel 1960.
  • Kisch, Guido: Erasmus´ Stellung zu Juden und Judentum. In: Philosophie und Geschichte. Eine Sammlung von Vorträgen und Schriften aus dem Gebiet der Philosophie und Geschichte Nr. 83/ 84, Tübingen 1969: 5–39.
  • Lehmkuhl, Josef: Erasmus - Machiavelli, Zweieinig gegen die Dummheit, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
  • Meissinger, Karl August: Erasmus von Rotterdam. Gallus-Verlag, Wien, 1942.
  • Obermann, Heiko A.: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin 1981.
  • Oelrich, Karl Heinz: Der späte Erasmus und die Reformation. Münster 1951.
  • Rummel, Erika: Erasmus. New York 2004.
  • Schultz, Uwe: Erasmus von Rotterdam. Der Fürst der Humanisten – München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1998.
  • Tutsch, Burkhardt: Erasmus Roterodamus, Selecta (mit Zweittexten) [Schullektüre]. Butjadingen: MMO Verlag zur Förderung des Mittel- und Neulateinischen, 2008.
  • Welzig, Werner (Hrsg):Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften in acht Bänden. Darmstadt 1967-1975.
  • Zeller, Susanne: Juan Luis Vives (1492–1540), (Wieder)Entdeckung eines Europäers, Humanisten und Sozialreformers jüdischer Herkunft im Schatten der spanischen Inquisition, Freiburg i. Br. 2006 (a).
  • Zeller, Susanne: Der Humanist Erasmus von Rotterdam (1469–1536) und sein Verhältnis zum Judentum. In: Kirche und Israel 21/ 2006, H. 1, S. 17–28.
  • Zweig, Stefan: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. 19. Auflage. Frankfurt am Main, 2003.

Fachlexika

Korrektur: Erasmus von Rotterdam, Desiderius. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 24, Duncker & Humblot, Leipzig 1887, S. 784.
Korrektur: Erasmus von Rotterdam, Desiderius. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 56, Duncker & Humblot, Leipzig 1912, S. 396.

Weblinks


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