Desorganisationsproblematik

Desorganisationsproblematik
Messie-Wohnung
Messie-Wohnzimmer
Messie-Arbeitszimmer
Messie-Arbeitszimmer

Der Begriff Messie-Syndrom (von engl. mess = Unordnung, Dreck, Schwierigkeiten) bezeichnet schwerwiegende Defizite in der Fähigkeit, die eigene Wohnung ordentlich zu halten und die Alltagsaufgaben zu organisieren.

Obwohl hier ernsthafte seelische Störungen vorliegen können, ist „Messie-Syndrom“ ein von den Medien geförderter bzw. umgangssprachlicher Ausdruck, der in der psychotherapeutischen Fachwelt kaum verwendet wird.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Diese auch als Desorganisationsproblematik bezeichneten Defizite beruhen auf einer Störung psychischer Funktionen, sind also eine psychische Störung. Hinsichtlich des Schweregrads gibt es eine weite Bandbreite von Selbstregulationsschwächen, „Chaotik“ und Unordentlichkeit mit irrationaler Sammelneigung am einen Ende des Spektrums bis hin zu schweren Formen eines Vermüllungssyndroms am anderen Ende.

Geschichte

Der Begriff „Messie“ ist eine Wortschöpfung der selbst betroffenen US-amerikanischen Sonderschulpädagogin Sandra Felton. Um sich aus ihrer Situation zu befreien, entwickelte sie ein Bewältigungskonzept und publizierte Ratgeberliteratur. Auf diese Weise erfuhr eine breite Öffentlichkeit die Problematik. In den 80er Jahren gründete Felton die Selbsthilfegruppe Messies Anonymous. Die Ratgeberliteratur und Presseberichte machten den Begriff auch im deutschsprachigen Raum bekannt. [1]

Symptome, Ursachen und Behandlung

Symptomatik

Betroffene, die auch als „Messies“ bezeichnet werden (oder sich selbst so nennen), leiden an einem Defizit, ihre Handlungen geplant und zielgerichtet an der Bewältigung ihrer alltäglichen Aufgaben auszurichten. Dies kann sich äußern in:

  • Unordentlichkeit bis zu Geruchsbelästigung und hygienischen Problemen
  • zwanghaftem Sammeln wertloser oder verbrauchter Dinge
  • chronischen Problemen mit Zeiteinteilung und Pünktlichkeit
  • „Lähmung“ der Handlungsfähigkeit auch in wichtigen Situationen
  • Versäumen bzw. Nicht-Erledigen normaler sozialer Verpflichtungen (es kann beispielsweise vorkommen, dass die gesamte Post – ob Werbung, wichtige Briefe oder Mahnungen – ungeöffnet in einer Schublade landet)
  • eingeschränktem sozialen Umgang, den u. a. eine oft extrem unordentliche Wohnung mit hervor ruft
  • Hilflosigkeit unter dem Druck des Chaos

Messies neigen zum Sammeln bzw. Horten von Sachen, die ihre Mitmenschen oft als wertlos ansehen und wegwerfen würden. Die Betroffenen sind meistens unfähig, den realen Wert dieser Gegenstände einzuschätzen, zwischen wichtig und unwichtig, brauchbar und unbrauchbar zu unterscheiden. Oft sehen sie die Irrationalität ihres Hortens zwar ein, sind aber nicht in der Lage, der Einsicht entsprechend zu handeln. Im Extremfall führt die Unordnung dazu, dass größere Bereiche der Wohnung nicht mehr betretbar sind. Manchmal verbleiben nur noch enge „Fußwege“ zwischen großen Haufen, Kisten und Säcken. Schließlich kann es zur Unbewohnbarkeit der Wohnung kommen (s. Vermüllungs- bzw. Diogenes-Syndrom).

Darüber hinaus haben Messies häufig Schwierigkeiten, Prioritäten zu setzen, Notwendiges zu erledigen und ihre Handlungen gemäß eigener Zielsetzungen effektiv zu steuern. Insbesondere die Umsetzung geplanter Handlungen, die nicht aktuell befriedigend sind, fällt ihnen schwer, ebenso eine aufgabengerechte Zeiteinteilung. Ähnlich wie bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind also die sogenannten exekutiven Funktionen gestört.

Messies schämen sich ihrer Unordnung in der Regel und leiden darunter. Auch infolge sozialer Isolation halten es viele Betroffene nicht für möglich, dass andere unter denselben Schwierigkeiten leiden. Dies erschwert ihnen häufig, ihr Problem zu erkennen und Hilfe zu suchen. Nach außen sind Messies meistens unauffällig. Sie erscheinen oft als offene, optimistische, vielseitige und kreative Menschen. Manchmal haben sie – scheinbar paradox – eine Tendenz zum Perfektionismus.

Auch Menschen, deren Wohnung ordentlich sein mag, die aber ein subjektives Gefühl einer Überforderung bezüglich der Ordnung in ihrer Wohnung haben, werden bisweilen als Messies bezeichnet. Als kennzeichnend gilt die Blockade des Handelns in der eigenen Wohnung.[2]

Ursachen

Ursachen für das Messie-Syndrom sind mannigfaltig, die im Folgenden aufgezählten sind nur einige von vielen möglichen (Mit-)Ursachen.

Die Ursachen können im „Verlassen-Werden“ von angenehmen Dingen liegen. Jemand, der sich etwas zulegt, einkauft oder von jemandem beschenkt wird, verbindet mit dem erworbenen Besitz eine nicht zu unterschätzende angenehme Erinnerung. Für den Messie, der nie oder selten in seinem Leben Zuneigung oder Bestätigung bekam, ist diese Erinnerung des angenehmen gekauften Besitzes das Einzige, woran er sich klammern kann. Eine Erinnerung, die er nicht wieder verlieren will. So hortet der Messie sie. Er sammelt alles, was die angenehme Erinnerung auslöste. Auf keinen Fall will er eine dieser Erinnerungen mit dem Hausmüll entsorgen, aus Angst, das einzig Angenehme in seinem Leben würde ihn verlassen.

Das Messie-Syndrom kann auch Folge eines Traumas sein, also einer seelischen Verwundung oder eines Schicksalsschlages, die den Betreffenden aus der Bahn warfen. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von fehlgelaufener Trauerarbeit oder von einer Anpassungsstörung.[1]

Eine weitere Ursache für diese Sammelleidenschaft kann Geiz sein. Der Betroffene kann sich von nichts trennen oder muss alles aufheben, was er als nützlich ansieht, weil er davon ausgeht, er könne es noch einmal gebrauchen. Auch wenn er schon gar keinen Überblick mehr über seine gehorteten Sachen hat.

Zusammenhänge mit anderen psychischen Störungen

Psychotherapeuten orientieren sich bei der Diagnose psychischer Störungen in aller Regel an den gängigen Klassifikationssystemen ICD-10 oder DSM IV, die den Begriff Messie-Syndrom nicht enthalten.

Dem Syndrom können unterschiedliche psychische Störungen zu Grunde liegen. Es kann sich um eine Störung der Selbstregulation bzw. der Exekutiven Funktionen im Rahmen einer Zwangskrankheit, einer Depression, von Persönlichkeitsstörungen oder anderer psychischer Erkrankungen handeln.

Manche Fachleute gehen davon aus, dass das Messie-Syndrom (in Fällen, in denen keine Psychose, schwere Depression oder Senilität vorliegt) eine ähnliche Grundlage hat wie ADHS bzw. eine Variante dieser Störung ist. Die Abklärung einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sollte daher Bestandteil einer fachärztlichen oder psychologischen Diagnosestellung bei einem Messie-Syndrom sein.

Hilfe und Behandlung

Eine Haushaltshilfe empfinden Messies häufig als nicht nützlich, da sie oft besondere Scham bezüglich ihrer Privatsphäre empfinden und zudem in der Regel ein starkes Bedürfnis haben, selbst die Kontrolle und Übersicht über ihre gehorteten Gegenstände zu behalten.

Für betroffene Familien gibt es auch öffentliche Beratungsangebote; so bietet die Caritas ein Haushalts-Organisations-Training an, als ein Teil ihres Angebots der Familienpflege.

Viele Experten halten Coaching für ein geeignetes Mittel, Messies zu unterstützen. Ein Coach greift nicht persönlich ein, sondern berät lediglich. Die Erstellung von Arbeitsplänen und die Unterstützung bei deren Einhaltung helfen den Betroffenen oft, ihre täglichen Aufgaben besser zu strukturieren. Hilfreich kann auch ein sogenannter Peer sein, der dem Messie beim Aufräumen Gesellschaft leistet, ihn ermutigt, und ihn beim Aussortieren, Verstauen und Ablegen unterstützt, ihm nützliche Hinweise gibt oder ihn einfach bei Laune hält. Da Messies ohnehin unter Scham- und Schuldgefühlen leiden, sind Ermahnungen in aller Regel nicht hilfreich. Stattdessen sollten bereits kleine Fortschritte gewürdigt werden.

Innerhalb des weiten Spektrums von leichteren Formen von Unordentlichkeit und Selbstregulationsschwäche und schweren, die Autonomie und Lebenstüchtigkeit der Betroffenen erheblich beeinträchtigenden Störungen gibt es bisher keine klaren Kriterien dafür, ab welchem Schweregrad eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt.

Nach eingehender fachärztlicher Untersuchung und Diagnosestellung kann eine unterstützende medikamentöse Behandlung angezeigt sein, je nach zugrunde liegender psychischer Störung, wie mit einem Antidepressivum (bei Depressionen oder Zwangskrankheit) oder mit Stimulantien bei Vorliegen von ADHS.

Beschreibung der Symptomatik im englischsprachigen Raum

Im englischen Sprachraum ist der Begriff „Messie-Syndrom“ wenig gebräuchlich. Die hier beschriebene Psychopathologie wird im Englischen als Compulsive Hoarding, Medien- und umgangssprachlich manchmal auch als Hoard and Clutter Syndrome oder Pack Rat Syndrome bezeichnet.[3]

Wenn das Sammeln und Horten im Vordergrund steht, wird die Symptomatik im englischsprachigen Raum dem Spektrum der Zwangserkrankungen (obsessive-compulsive disorders, Abk. OCD) zugeordnet. Steht eine Handlungsstörung im Sinne von Defiziten der Selbstregulation bzw. der Exekutiven Funktionen im Vordergrund, sieht man die Störung dort zumeist als Form der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung an.

Bekannte Messies

Literatur

Fachliteratur

  • Annina Wettstein: Messies. Alltag zwischen Chaos und Ordnung, Zürich 2005, ISBN 3-908784-03-4
  • Gisela Steins: Untersuchungen zur Deskription einer Desorganisationsproblematik. Was verbirgt sich hinter dem Phänomen Messie?, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 2000; 48: 266–179 Heft 3.
  • Gisela Steins: Desorganisationsprobleme. Das Messie-Phänomen, Pabst Science Publishers 2003, ISBN 3-89967-009-4.
  • Gisela Steins u. a.: Aber Messie bin ich noch! Eine Interventionsfallstudie zum Messie-Phänomen, Pabst Science Publishers 2004, ISBN 3-89967-109-0.
  • Werner Gross: Messie-Syndrom. Löcher in der Seele stopfen, Deutsches Ärzteblatt September 2002. [4]
  • Arnd Barocka u. a.: Die Wohnung als Müllhalde, in: MMW – Fortschritte der Medizin 45 2004. [5]
  • Rainer Rehberger: Messies – Sucht und Zwang. Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung, Klett-Cotta 2007, ISBN 978-3-608-89049-5.
  • Alfred Pritz (Hrsg): Das Messie-Syndrom: Phänomen - Diagnostik - Therapie. Springer Verlag; Auflage: 1 (2009), ISBN 978-3211765197.
  • Andreas Schmidt: Der Messie House Index (MHI) - Versuch einer empirischen systematischen Quantifizierung über verhaltensökologische Phänotypus-Diagnostik des Messie Phänomens. Grin-Verlag Wien 2009. ISBN 978-3-640-30901-6 (E-Book), ISBN 978-3-640-30710-4 (Buch)

Selbsthilfeliteratur

  • Eva S. Roth: Das Messie-Handbuch – Unordnung, Desorganisation, chaotisches Verhalten – Beschreibung und Ursachen, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-88074-471-8.
  • Eva S. Roth: Einmal Messie, immer Messie? Momentaufnahmen aus einem chaotischen Leben, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-88074-470-X.
  • Barbara Lath: Leitfaden für den Umgang mit Chaos-Wohnungen, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-88074-479-3.
  • Mindy Starns Clark: Das Haus, das sich von selbst aufräumt, Witten 2008, ISBN 978-3-417-26228-5.

Medien

Einzelnachweise

  1. a b Faust, Volker, Einsam unter Müll; Abschnitt Messies
  2. Messie-Syndrom: Chaos im Kopf, sueddeutsche.de
  3. Compulsive Hoarding-Website der OC Foundation; Do You Have Hoard And Clutter Syndrome?; Are You a Pack Rat?
  4. aerzteblatt.de Werner Gross: Messie-Syndrom. Löcher in der Seele stopfen, 2002.
  5. Klinik Hohe Mark Die Wohnung als Müllhalde, PDF 138KB.

Weblinks


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