Deutsche Ostgebiete

Deutsche Ostgebiete
Die ehemaligen deutschen Ostgebiete.
Gebietsveränderungen von Deutschland 1871–1991

Als Ostgebiete des Deutschen Reiches oder auch (ehemalige) deutsche Ostgebiete werden die Landstriche östlich der Oder-Neiße-Linie bezeichnet, die am 31. Dezember 1937 zum Gebiet des Deutschen Reiches gehört hatten, 1945 nach Ende des Zweiten Weltkriegs von Deutschland faktisch abgetrennt wurden und heute zu Polen und Russland gehören. In Polen bezeichnet man diese Gebiete als „Wiedergewonnene Gebiete“ (polnisch Ziemie Odzyskane) oder aber als „westliche und nördliche Gebiete“ (polnisch Ziemie Zachodnie i Północne).

Im weiteren Sinne wird auch das (größere) Gebiet zu den Ostgebieten des Deutschen Reiches gezählt, das bereits nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufgrund des Versailler Vertrages von Deutschland abgetreten werden musste, also auch Posen, Westpreußen (einschließlich der späteren Freien Stadt Danzig), Ostoberschlesien, das Hultschiner Ländchen und das Soldau-Gebiet (Ostpreußen) sowie das Memelgebiet.

Inhaltsverzeichnis

Faktische Abtrennung von Deutschland

Nach dem Potsdamer Abkommen zwischen der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich im August 1945 wurden die deutschen Ostgebiete östlich von Oder und Neiße von der Viermächtekontrolle des Alliierten Kontrollrats ausgenommen. Der nördliche Teil Ostpreußens um Königsberg wurde der Sowjetunion, der südliche Teil Ostpreußens, die östlichen Teile der preußischen Provinz Pommern (Hinterpommern), der Mark Brandenburg (Ost-Brandenburg) und des Landes Sachsen sowie die preußischen Provinzen Nieder- und Oberschlesien wurden Polen zur vorläufigen Verwaltung übertragen. Die endgültige Regelung sollte einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben.

Das Gebiet um Königsberg (nördliches Ostpreußen) wurde unmittelbar in die Russische Teilrepublik der UdSSR (RSFSR) integriert; es heißt heute Oblast Kaliningrad und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion eine russische Exklave.

Im polnischen Sprachgebrauch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung „wiedergewonnene West- und Nordgebiete“ oder einfach „wiedergewonnene Gebiete“ geprägt. Dies bezieht sich auf die Zugehörigkeit dieser Territorien zum polnischen Staat vor den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts beziehungsweise zum piastischen Königreich Polen und anderen polnischen Fürstentümern vor Beginn der Ostsiedlung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert sowie die slawische Vorgeschichte ihrer Besiedlung. Polen verbindet mit großen Teilen dieser Gebiete die Anfänge seines Staatswesens, besonders mit Gniezno (Gnesen) als alter Hauptstadt und Krönungsort Boleslaws I.

Größte westwärts gerichtete Ausdehnung des polnischen Herrschaftsgebietes unter den Piasten (um 1025).

Anerkennung der Abtrennung

Die DDR erkannte im Görlitzer Grenzabkommen mit der Volksrepublik Polen vom 6. Juli 1950 die Oder-Neiße-Linie als „Friedensgrenze“ und aus ihrer Sicht endgültige Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen an. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland teilten damals diesen Standpunkt nicht und maßen dem Abkommen keine rechtliche Bedeutung zu. Sie vertraten den Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, wonach die Ostgebiete grundsätzlich als deutsches Inland zu gelten hatten und auch für ihre Bewohner mit deutscher Volkszugehörigkeit eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit fortbestehe.

In der „alten“ Bundesrepublik (vor 1990, das heißt Westdeutschland) bildete der Rechtsstatus der Ostgebiete einen großen Teil der offenen Deutschen Frage. Die Ostpolitik der westdeutschen Verfassungsorgane (Bundesregierung, Deutscher Bundestag und Bundesrat) war bis Mitte der 1960er-Jahre auf eine Revision von Vertreibung und Abtrennung ausgerichtet; sie beriefen sich auf das Völkerrecht sowie verschiedene völkerrechtliche Verträge, insbesondere die Haager Landkriegsordnung und die Atlantik-Charta. Die Neue Ostpolitik der Großen Koalition von 1966 und später verstärkt die sozialliberale Koalition ab 1969 vollzog einen allmählichen Wandel durch Annäherung.

1970 anerkannte die Bundesrepublik Deutschland mit dem Warschauer Vertrag faktisch die Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Polen. Aufgrund des bis 1990 geltenden Vorbehalts der Alliierten für Fragen, die Deutschland als Ganzes und den Status Berlins betreffen, war es der Bundesrepublik Deutschland jedoch verwehrt, eine völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze vorzunehmen und auf die Rückforderung der Gebiete zu verzichten.[1][2]

Erst im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung wurde 1990 die Abtrennung der Ostgebiete von Deutschland durch den Deutsch-Polnischen Grenzvertrag von der Bundesregierung formalrechtlich vollzogen und die Oder-Neiße-Grenze festgeschrieben.

Umfang der Ostgebiete

Sprachenkarte von Polen von 1921
Ausschnitt aus der Sprachenkarte von Deutschland in Andrées Weltatlas von 1880

Im einzelnen umfassten die Ostgebiete die ehemaligen preußischen Provinzen

sowie mit 142 km² einen kleinen Teil des Landes Sachsen, der östlich von Zittau liegt.

Der Gesamtumfang beträgt 114.267 km² (die Differenz zu 114.296 km² ist rundungsbedingt), was etwa einem Viertel Deutschlands in den Grenzen von 1937 entspricht.

Nach Darstellung mehrerer Staatsrechtler werden auch das überwiegend deutsch besiedelte Sudetenland, Westpreußen und das Memelgebiet den Ostgebieten zugerechnet, die bis ca. 1918 beziehungsweise 1919 Teil des Deutschen Reichs (Memelgebiet und Westpreußen) sowie der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und später Deutschösterreichs waren, und erst 1938 erstmals (Sudetenland) beziehungsweise 1939 wieder (Memelgebiet) zum Deutschen Reich kamen. Dasselbe gilt für die vor der Vertreibung zu 97 Prozent deutschsprachige Freie Stadt Danzig. Für das Memelgebiet und für Danzig ist dieses – geschichtlich gesehen – als berechtigt anzusehen, da diese Gebiet bis 1918/19 zum Gebietsstand des Deutschen Reiches gehörten. Die Zugehörigkeit des Sudetenlandes zu den Ostgebieten ist mit Vorsicht zu betrachten, da es bis 1918/19 staats- und völkerrechtlich zu Österreich-Ungarn gehört hatte.

In den Ostgebieten des Deutschen Reiches lebten 1939 etwa 9.620.800 Menschen (davon 45.600 Nichtdeutsche). Von diesen entfielen auf

  • Ostpreußen: 2.488.100 Einwohner (davon 15.100 Nichtdeutsche)
  • Schlesien: 4.592.700 Einwohner (davon 16.200 Nichtdeutsche; Zahlen der Bevölkerung Zittaus enthalten)
  • Pommern: 1.895.200 Einwohner (davon 11.500 Nichtdeutsche)
  • Ost-Brandenburg: 644.800 Einwohner (davon 2.800 Nichtdeutsche)

Wichtige Städte in den ehemaligen Ostgebieten sind unter anderem Breslau (1925: 614.000 Einwohner), Königsberg (Preußen, russisch: Kaliningrad, 294.000), Stettin (270.000), Hindenburg O.S./Zabrze (132.000) und Gleiwitz (109.000).

Flucht und Vertreibung

Hauptartikel: Heimatvertriebener, Flucht aus Ostpreußen

Historisches deutsches Sprachgebiet als Ergebnis der amtlichen Volkszählung von 1910
Das Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache seit 1950

Die Bevölkerung der Ostgebiete des Deutschen Reiches wurde in den Jahren 1944 bis 1949 durch die Flucht vor der Roten Armee und die Vertreibung der Deutschen sowie die Neuansiedlung von Polen, Ukrainern und Lemken beziehungsweise Russen fast vollständig ausgetauscht. Ein Teil der Neuangesiedelten (zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Polen) war im Rahmen der Westverschiebung Polens und, im Fall der Ukrainer und Lemken, der Aktion Weichsel aus ihrer weiter östlich gelegenen Heimat vertrieben worden.

Die Provinzen wiesen folgende Zahlen auf:

  • Ostpreußen: 2.209.200 Vertriebene
  • Schlesien: 3.587.300 Vertriebene
  • Pommern: 1.761.700 Vertriebene
  • Ost-Brandenburg: 597.500 Vertriebene

Insgesamt mussten 8.155.700 Deutsche die Ostgebiete verlassen. Knapp 7 Millionen von ihnen flüchteten nach Westdeutschland und in das Gebiet der DDR.[3]

Schätzungsweise rund zwei Millionen Deutsche sind durch Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen, insbesondere in Ostpreußen, Pommern und Ostbrandenburg. Heute leben in den Ostgebieten noch etwa 400.000 Deutsche, hauptsächlich in Oberschlesien. Sie wurden bis zum Zerfall des kommunistischen Systems diskriminiert. Nach 1990 bekamen viele Gemeinden in Oberschlesien deutschstämmige Bürgermeister, auch deutsche Schulen wurden dort – zumeist dank deutscher Finanzierung – errichtet. Im Januar 2005 hat der polnische Sejm ein Minderheitengesetz verabschiedet, wonach in etwa 20 Gemeinden in Oberschlesien mit mehr als 20 % deutschsprachigem Bevölkerungsanteil zweisprachige Ortsschilder aufgestellt werden können und Deutsch als Verwaltungshilfssprache eingeführt werden kann.

Siehe auch

Literatur

  • Dieter Blumenwitz: Denk ich an Deutschland, Antworten auf die Deutsche Frage. Bayerische Landeszentrale für politische Bilkdungsarbeit, München 1989, 3 Teile (2 Bde., 1 Kartenteil).
  • Herbert Kraus: Der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, veröffentl. von s.n., 1962, 177 Seiten.
  • Fritz Faust: Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung. 4., neubearb. Aufl., Metzner, 1969, 420 Seiten.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ingo von Münch, Hans-Jürgen Schlochauer, Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag am 28. März 1981, Walter de Gruyter, 1981, ISBN 3-11008-118-0, ISBN 978-3-11008-118-3, S 31 ff.
  2. Rudolf Laun (Hrsg.), Internationales Recht und Diplomatie, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1963, S. 11 f.
  3. Jochen Oltmer: Migration. Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg

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