Dirigat

Dirigat
Dirigentenpult mit Partitur und Taktstöcken

Das Dirigieren (auch sprachlich problematisch als „Dirigat“ benannt) bezeichnet die Orientierungs- und Koordinierungshilfe für die ausführenden Musiker eines musizierenden Ensembles wie eines Chores oder Orchesters durch den Dirigenten, die hauptsächlich durch Handbewegungen angezeigt wird.

Das Dirigieren erfüllt im wesentlichen drei Funktionen:

  • es markiert den für alle Musiker verbindlichen Takt
  • es zeigt den Musikern den Beginn und das Ende des Stücks sowie ihre Einsätze an
  • es zeigt die gestalterische Entwicklung des musikalischen Verlaufs an

Dabei ist das Dirigieren bestimmten historisch entwickelten Regeln und Techniken unterworfen: Der Takt wird durch festgelegte Schlagfiguren angezeigt; die gestalterische Entwicklung (z. B. die Dynamik, die Artikulation etc.) durch weniger standardisierte Ausdrucksformen, die mit den Schlagfiguren kombiniert werden.

Inhaltsverzeichnis

Arbeitsprozess

Leonard Bernstein macht sich Notizen, 1955

Dirigenten machen sich vor dem Dirigieren intensiv mit dem Stück und seiner Struktur vertraut. Sie wissen, welche Instrumente oder Stimmen (Besetzung) das Stück verlangt und sorgen ggf. für eine entsprechende Ergänzung des Ensembles. Sie entwickeln aufgrund von im Stück vorgegebenen Tempi oder Metronomangaben, möglicherweise auch Aufnahmen, eine eigene, präzise Vorstellung von Tempo und Klangcharakter des Stückes. Sie merken sich die Einsätze der verschiedenen Instrumente oder Stimmen, Taktänderungen, Tempo- und Charakterwechsel und üben sie gestisch und mental für sich ein.

Ebenso spüren sie dem Inhalt des Stücks nach, der durch Quellen (z. B. Briefe oder Tagebuchnotizen des Komponisten), Anmerkungen oder aussagekräftige Titel (Programmmusik) oder Texte in Vokalkompositionen ersehbar sein kann. Sie kennen das musikhistorische Umfeld des Stückes, evtl. auch andere Werke des Komponisten und seine Relationen in diesem Kontext. Idealerweise können sie die Partitur nach intensivem Studium auswendig und haben sich eine genaue Klangvorstellung erarbeitet, die individuell ist, aber ebenso der Komposition gerecht wird.

Sie studieren mit dem Ensemble das Stück ein, bis es den Vorstellungen des Dirigenten entspricht (Proben), und verständigen sich dabei exakt über die Ausführung bestimmter, nicht explizit vorgegebener Stellen in der Partitur, die Vorstellung des Dirigenten, die korrekte Ausführung und den Charakter der Komposition. Der Dirigent korrigiert das Ensemble während der Proben so lange, bis das Werk möglichst vollkommen aufgeführt werden kann. Hilfsinstrument ist dabei meistens ein Klavier, das der Dirigent entweder selbst spielt oder von einem Korrepetitor spielen lässt. Dabei ist der Dirigent Entscheidungsträger und prägt damit die Interpretation eines Stückes in hohem Ausmaß. Schließlich leitet er das Ensemble in allen vorgesehenen Aufführungen des Stückes (im Falle von Gastdirigenten im deutschen Repertoire-Musiktheater allerdings oft nur Premiere und einige Folgevorstellungen; die restlichen Vorstellungen werden dann von festangestellten Kapellmeistern „nachdirigiert“). Wenn ein Dirigent ein Ensemble für einen längeren Zeitraum übernimmt, kann sich der Klang des Ensembles entscheidend ändern.

Der Dirigent ist im professionellen Bereich nicht für die Einstudierung der individuellen Partien verantwortlich. Diese Aufgabe übernimmt jedes Orchestermitglied für sich selbst. Choristen werden im Regelfall durch ihren Chorleiter einstudiert, Solosänger und -sängerinnen haben am Theater oder in Opernschulen einen Korrepetitor.

Technik

Dirigieren ist die Kunst, Informationen in Echtzeit an ausführende Musiker zu übermitteln. Es gibt keine absoluten Regeln des korrekten Dirigierens, und daher existieren eine große Anzahl verschiedener Dirigiertechniken. Ein grundlegendes Verständnis für die Basiselemente musikalischen Ausdrucks (z. B. Tempo, Rhythmus, Artikulation) und die Fähigkeit, sie effektiv einem Ensemble zu übermitteln, ist nötig, um dirigieren zu können. Die Fähigkeit, Ausdrucks- und Phrasierungsnuancen durch Gestik zu übermitteln, ist ebenso von Vorteil.

Haltung

Der Dirigent steht üblicherweise gerade, auf beiden Füßen und gut von allen sichtbar vor dem Ensemble. Ist der Dirigent nicht von allen sichtbar, wird ein Podest verwendet. Ein hoher Dirigierstuhl ist eine Möglichkeit, während langer Proben auch sitzend dirigieren zu können. Er wird allerdings im Konzert nur selten verwendet (z. B. von Sergiu Celibidache in seinen letzten Jahren). Allgemein sollte der Dirigent zu allen Mitgliedern des Ensembles bei Bedarf sofort Blickkontakt aufnehmen können und genügend Bewegungsfreiheit haben.

Schlagebene

Eine Grundvoraussetzung für das Dirigieren ist in den meisten Dirigierschulen die individuelle Schlagebene. Auf diese Ebene werden, abhängig von der Armlänge und Bewegungsart des Dirigenten, alle Schlagfiguren bezogen. Ist die Schlagebene unklar oder verändert sie sich im Laufe des Stücks, haben die Schlagfiguren keine genaue Bedeutungsebene. Damit wird das Dirigieren ungenau, und entsprechend unklar wirkt das Signal auf das Ensemble.

Anfang, Ende, Abbruch

Das Signal zum Beginn eines Stückes ist der Auftakt, der letzte Schlag vor dem ersten betonten Schlag, kombiniert mit einem Einatmen. Auf den folgenden ersten Schlag sollten die benötigten Musiker einsetzen.

Das Ende eines Stückes wird durch einen Abschlag gekennzeichnet. Dabei werden die Hände in einer kreisförmigen Bewegung gegen den Uhrzeigersinn vor dem Körper geschlossen. Alternativ werden die Arme nach einer ähnlichen Kreisbewegung schwungvoll nach hinten geworfen, nach einer Kreisbewegung die Hand über dem Kopf zur Faust geschlossen oder ähnliches. Für leise Schlüsse werden auch nur die Finger zusammengeführt. Signifikant ist der präzise angezeigte Zeitpunkt des Endes. Bei Stücken, die in theoretisch unendlicher Wiederholung in Lautlosigkeit verschwinden, wird ein decrescendo bis zur Bewegungslosigkeit des Dirigenten angezeigt.

Ein Abbruch inmitten des Stückes oder die Forderung nach Ruhe wird durch eine hoch erhobene Handfläche oder ein wiederholtes Anschlagen des Taktstocks am Pult signalisiert.

Tempo

Dirigiergesten können choreographisch mit dem Erlernen der Partitur einstudiert oder spontan sein. Schlagfiguren stehen hierbei spontaner Gestik gegenüber, die allerdings vom Ensemble verstanden werden muss, damit sie wirken kann. Letzteres wird vor allem von professionellen Dirigenten angewandt, die mit ihrem Ensemble vertraut sind. Eine allmähliche Tempoänderung wird durch langsamer werdende oder schneller werdende Schlagfiguren angezeigt.

Nicht mit dem Taktschlagen ist es getan, sondern mit der restlosen Beherrschung des Taktschlagens beginnt überhaupt erst das Dirigieren, die Kunst, allen Ausdruck, jede sprachliche Nuance und manches andere in die Bewegung zu legen.

Kurt Thomas

Dynamik

Ernst von Schuch dirigiert

Dynamik oder die Anzeige der Lautstärke kann auf verschiedene Arten erfolgen. Dynamik kann durch die Größe der Schlagfiguren angezeigt werden: Je größer die eingesetzten Gesten sind, desto lauter soll der Klang sein. Wechsel in der Dynamik werden mit der Hand angezeigt, die nicht zum Anzeigen des Taktes verwendet wird. Eine aufsteigende Bewegung (für gewöhnlich mit der Handfläche nach oben) signalisiert ein crescendo; eine Abwärtsbewegung (gewöhnlich mit der Handfläche nach unten) zeigt ein diminuendo an. Die Veränderung der Lautstärke kann unbeabsichtigt auch eine Veränderung des Tempos herbeiführen, da mit größerer Gestik auch für die Hände ein größerer Weg in derselben Zeit zurückzulegen ist.

Darüber hinaus gibt es noch weitere individuelle Gesten, die sich auf die Dynamik beziehen. Durch eine zum Ensemble gerichtete Handfläche in halber Höhe kann ebenso ein diminuendo angezeigt werden wie durch ein Zurücklehnen. Einige Dirigenten müssen für besonders intensive und laute Einsätze springen oder fast ihren gesamten Oberkörper bewegen, um die Größe der Bewegung deutlich von den vorhergehenden Gesten zu unterscheiden.

Einsätze

Wenn ein neues Instrument, eine andere Sektion des Orchesters oder eine andere Stimmgruppe zu spielen beziehungsweise zu singen beginnt, wird vorher meist ein Einsatz benötigt (englisch: „cue“). Ein Einsatz muss mit großer Präzision stattfinden, damit alle beteiligten Musiker zusammen anfangen können. Die klare Konzentration auf den Musiker und eine für diesen sichtbare Vorbereitung sind ebenso nötig wie ein kurzes Signal zum Beginn. Dabei wird der Blickkontakt gehalten. Bei mehreren Einsätzen in kurzer Abfolge genügt auch meist der Blickkontakt oder ein Blick in die ungefähre Richtung des Musikers allein. Größere musikalische Ereignisse können deutlich sichtbarere Einsätze erfordern.

Artikulation

Der erste Schlag einer Schlagfigur ist charakteristisch für die Artikulation. Die Bewegung reicht von kurzen und scharfen, dabei hoch konzentrierten Bewegungen für ein staccato bis zu weichen und getragenen Bögen für ein legato. Viele Dirigenten verändern die Spannung der Hände: Angespannte Muskeln und rigide Bewegungen können für marcato stehen, während entspannte Hände und sanfte Bewegungen legato oder espressivo ausdrücken. Manche Dirigenten benutzen für die korrekte Artikulation ihre gesamte Körperspannung.

Phrasierung

Die Phrasierung wird ebenfalls über die Hände angezeigt. Eine Fermate oder gehaltener Klang wird über eine nach oben gehaltene offene Handfläche unterstützt.

Intonation

Die Intonation wird meist durch die Stimmung der Instrumente vor der Probe oder dem Konzert geregelt. Bei A-cappella-Chorwerken wird der erste Ton oder Akkord vor dem Konzert über eine Stimmgabel vom Dirigenten angegeben. Professionelle Ensembles stimmen das erste Stück hinter der Bühne an und fangen auf der Bühne direkt mit dem ersten Stück an. Innerhalb des Stückes kann der Dirigent über nach oben oder unten zeigende Handzeichen der freien Hand die Intonation korrigieren.

Ausdruck

Die Mimik des Dirigenten und seine Körperhaltung bzw. Körperspannung können den gewünschten Ausdruck eines Stückes deutlich machen. Eine vorherige Verständigung über den Inhalt ist unerlässlich, um etwaigen Übertreibungen vorzubeugen.

Dirigieren in kleinen und großen Ensembles

Bei kleinen, kammermusikalischen Ensembles kann die Rolle des Dirigenten von einem der Ensemblemitglieder übernommen werden. Dies geschieht insbesondere bei einem Streichquartett, in dem der erste Geiger diese Position einnimmt. Bei einem Werk für solistisches Instrument und Klavier ist üblicherweise der Solist oder die Solistin für die Zeit des Vortrages gleichzeitig Dirigent, obwohl die musikalische Verantwortung beim Klavierbegleiter oder Korrepetitor liegen kann. Dies gilt auch für das Liedduo mit Klavier (bzw. Gitarre/Laute) und Gesang. Auch bei A-cappella-Ensembles kann es einen Dirigenten innerhalb des Ensembles geben. Für diese eher angedeutete Form des Dirigierens bleibt der Musiker an seinem Platz und verständigt sich nonverbal über Blickkontakt und reduzierte Gestik, die vom Zuschauer nicht wahrgenommen werden soll, mit seinen Kollegen. Kleinere Orchester wurden noch im 18. Jahrhundert vom Tasteninstrument aus geleitet. Dabei wurden auch deutlichere Gesten verwendet.

Besonders ausgeprägt pflegte Daniel Barenboim diese Sitte am Flügel, bevor er in neuerer Zeit ausschließlich ans Pult trat. Lorin Maazel spielte gerne beim Dirigieren die Violine, zuletzt im Wiener Neujahrskonzert 2005 (Solostimme im Vorspiel der „G’schichten aus dem Wienerwald“).

Oft ist es besser, gar nicht zu dirigieren, dann stört man wenigstens nicht.

Kurt Masur

Bei der Leitung einer mittelgroßen oder sehr großen Gruppe von Musizierenden wird ein Taktstock verwendet, der hauptsächlich dazu dient, kleine Bewegungen der Hand über eine größere Entfernung hin sichtbar zu machen. Der Dirigent steht üblicherweise gut sichtbar vor dem Ensemble mit dem Rücken zum Publikum, oft auch auf einem Podest. Eine Ausnahme sind hier Militärmusik und Festumzüge, bei denen das Orchester bzw. die Kapelle in Bewegung ist.

Bei musikdramatischen Werken kann eine differenzierte Figurenregie mit dem Kontaktbedürfnis zwischen Dirigent und Sängern in Konflikt treten. In diesem Fall werden die Bewegungen des Dirigenten behelfsweise von Fernsehern übertragen oder durch einen zweiten Dirigenten unterstützt, der so originalgetreu wie möglich die Bewegungen des ersten Dirigenten imitiert.

Ausbildung

Wenn es auch möglich ist, als Amateur beziehungsweise ohne Ausbildung ein Ensemble zu dirigieren, so ist Dirigieren seit dem 19. Jahrhundert ein universitärer Studiengang von heutzutage vierjähriger Dauer, der von allen Musikhochschulen angeboten wird. Kirchenmusiker und Schulmusiker erhalten ebenfalls eine grundlegende Ausbildung in Ensembleleitung.

Darüber hinaus ist es möglich auf dem Weg der Laienausbildung der Musikverbände (Deutscher Harmonika-Verband, Bund Deutscher Zupfmusiker usw.) eine Qualifikation als Dirigent zu erwerben. Auch dieser Weg nimmt mehrere Jahre in Anspruch. Er besteht aus einer Reihe aufeinander aufbauender Kurse (D1–D3, C1–C3 usw. ) bis zu einer Qualifikation, die dem alten B-Abschluss eines universitären Studiengangs entspricht. Andernfalls wäre es nicht möglich, die breite Basis an Laien- und Hobbyorchestern mit Dirigenten zu versorgen.

Siehe auch

Weblinks

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