Emile Durkheim

Emile Durkheim
Émile Durkheim

David Émile Durkheim [eˈmil dyʀˈkɛm] (* 15. April 1858 in Épinal, Frankreich; † 15. November 1917 in Paris) war ein französischer Soziologe und Ethnologe. Er gilt als einer der Begründer der empirischen soziologischen Wissenschaft mit einer eigenständigen Methode, die nicht nur der Illustration von Hypothesen, sondern deren Beweis dient.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Am 15. April 1858 wurde Émile Durkheim als Sohn eines Rabbiners in Épinal (Lothringen) geboren. Als begabter und streng erzogener Schüler studierte er in Paris an der École normale supérieure, nachdem er zweimal bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen war. Er traf dort auf eine Reihe von später ebenfalls sehr renommierten Männern, darunter Lucien Lévy-Bruhl und den sozialistischen Politiker Jean Jaurès.

Nach seinem Abschluss war Durkheim zunächst als Lehrer für Philosophie an Gymnasien tätig. Nach einem Studienaufenthalt in Deutschland in den Jahren 1885–1886 publizierte er zwei Artikel über seine Stipendienzeit in Berlin und Leipzig. Sie machten ihn bekannt und führten dazu, dass er vom Leiter der Hochschulabteilung im Erziehungsministerium 1887 einen Lehrauftrag für Sozialwissenschaft in Bordeaux erhielt, wo er schließlich Professor für Pädagogik und Soziologie wurde – die erste Dozentur für Soziologie an einer französischen Universität.

In seiner Zeit in Bordeaux verfasste Durkheim drei seiner wichtigsten Schriften: Über soziale Arbeitsteilung (1893), Die Regeln der soziologischen Methode (1895) und Der Selbstmord (1897). 1898 gründete er die Zeitschrift L'Année Sociologique, von der er 12 Jahrgänge herausgab und zu der eine Gruppe von Gleichgesinnten und Durkheims Schülern wesentlich beitrugen.

1902 nahm Durkheim eine Lehrtätigkeit an der Pariser Universität Sorbonne auf, wo er 1906 einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft erhielt, der 1913 in Erziehungswissenschaft und Soziologie umbenannt wurde.

Am 15. November 1917 starb Durkheim in Paris.

Bekannte Schüler Durkheims waren u. a. Marcel Mauss, der Neffe Durkheims, und Maurice Halbwachs. Die Schulenbildung um Durkheim und die Année Sociologique wird manchmal dafür verantwortlich gemacht, dass Forscher, die Durkheim nicht folgten wie Gabriel Tarde und Arnold van Gennep unverdient in Vergessenheit gerieten. Auch nach seinem Tod wirkte Durkheim in Frankreich auf zahlreiche Denker, unter anderem auf die Gründer des Collège de Sociologie (Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois) sowie Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und andere Denker aus dem Umfeld des französischen Strukturalismus. Auch Pierre Bourdieu greift wiederholt auf Durkheim zurück.

In Großbritannien setzte sich insbesondere die dortige auch als Sozialanthropologie bekannte Strömung der Ethnologie intensiv mit Durkheim auseinander. Insbesondere die funktionalistischen Spielarten der britischen Sozialanthropologie bei Bronisław Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown setzten sich mit Durkheims Werk auseinander.

In Deutschland, wo Durkheim lange Zeit weniger rezipiert wurde als die deutschsprachigen Klassiker der Soziologie wie Max Weber und Karl Marx, haben insbesondere René König – unter anderem durch Übersetzung einiger Werke Durkheims - und Alphons Silbermann Mitte der 1970er Jahre in Bordeaux auf Durkheims Bedeutung hingewiesen.

Werk

Bereits in seiner ersten auf Lateinisch verfassten und 1892 abgeschlossenen Dissertation befasst sich Durkheim mit einem Thema, das ihn sein ganzes Leben begleiten wird: In der Auseinandersetzung mit Montesquieu, der von Durkheim wegen der Entdeckung der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens gelobt wird, wird nach den theoretischen und methodischen Grundlagen der Soziologie gesucht.

Über soziale Arbeitsteilung (1893)

In De la division du travail social (Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1893) wird ein grundlegendes Modell von Gesellschaft entlang der folgenden Frage entworfen: Was prägt die moderne Industriegesellschaft, in der ich aufwachse – und was unterscheidet sie von anderen Gesellschaften? Seine auf den Punkt gebrachte Antwort: die Arbeitsteilung. Durch die Arbeitsteilung und die daraus resultierende Spezialisierung der Fähigkeiten sind die Individuen aufeinander angewiesen und ergänzen sich gegenseitig.

Nach Durkheim unterscheiden sich Gesellschaftsstrukturen durch unterschiedliche Formen der Solidarität, wobei er grob in zwei Erscheinungsformen unterteilt:

  • mechanische Solidarität: Diese Form kennzeichnet vor allem ältere, weniger gegliederte Gesellschaften und wird von diesen durch Tradition, Sitten und – damit verbunden – Sanktionen aufrechterhalten. Kennzeichen sind daher gemeinsame Anschauungen und Gefühle. So geartete Kollektive bezeichnet Durkheim als „segmentäre“ Gesellschaften. Das Rechtssystem in solchen Gesellschaften ist ein repressives; die Bestrafung erfolgt also aufgrund eines Verstoßes gegen das Kollektiv(-bewusstsein).
  • organische Solidarität: Während in vormodernen Gesellschaften die Strukturen leicht durch mechanische Solidarität aufrechterhalten werden konnten, bedarf es in neuerer Zeit einer differenzierteren Form des Zusammenhalts. Diese neue Form ist nach Durkheim die sogenannte organische Solidarität. Sie ersetzt den (in Zeiten des Wettbewerbs und steigender Bevölkerungsdichte schwierig bis unmöglich gewordenen) mechanischen Zusammenhalt durch neue, kontraktuelle Strukturen (-> Arbeitsteilung), in denen der Einzelne in verschiedener Weise eingebunden ist. Dies bedeutet jedoch ausdrücklich nicht das komplette Verschwinden gemeinsamer Anschauungen; diese treten lediglich weiter in den Hintergrund.

Das Prinzip der „organischen Solidarität“ versteht Durkheim als Gegenposition zum Utilitarismus, namentlich desjenigen Herbert Spencers. So geartete moderne Kollektive bezeichnet Durkheim als „nicht-segmentäre“ Gesellschaften. Die Industriegesellschaft hat nach Durkheim eine differenzierte, hochentwickelte und komplexe Arbeitsteilung von solchen Ausmaßen, dass der Einzelne sie nicht mehr überblicken kann. Tatsächlich ist der Einzelne in dieser arbeitsteiligen Gesellschaft überaus abhängig, jedoch entwickelt er eine Ideologie, die genau das Gegenteil sagt – nämlich den Individualismus. Durkheim zeigte dieses Paradoxon der Industriegesellschaft erstmals auf. Andere, wenig oder nicht-industrialisierte Gesellschaften kennzeichnet eine viel einfachere und überschaubarere Arbeitsteilung.

Die Regeln der soziologischen Methode (1895)

Nachdem Durkheim mit seinem Buch zur Arbeitsteilung grundlegende Konzepte und Theorieelemente der Soziologie beschrieben hatte, wendet er sich wieder methodischen Fragen zu, die bereits in seiner Dissertation von 1892 angeklungen waren. Er ging in seinem Werk: Die Regeln der soziologischen Methode davon aus, dass „soziale Fakten als Dinge (zu) behandeln“ sind, d. h. der soziale Tatbestand stellt für ihn die Grundlage aller soziologischen Analyse dar und ist keine bloße „Nebenerscheinungen“ von menschlichem Zusammenleben sondern als Struktur mit eigenem Stellenwert zu betrachten. Eine soziale Struktur erklärt sich also für Durkheim nicht aus der Summe der Vorstellungen der beteiligten Akteure und existiert unabhängig von denen, die sie erschaffen haben (Emergenzphänomen). Sie wirkt als „Gesellschaft“ von oben auf die Menschen ein und kann von der Soziologie als solche aufgedeckt und durch funktionale (=Wirkung) und historische (=Entstehung) Analyse erklärt werden. Nach Durkheim sind beide Aspekte unbedingt zu beachten. Die moderne Schichtung der Gesellschaft kann also zum Beispiel nicht lediglich dadurch erklärt werden, dass Berufspositionen mit verschiedenen Entlohnungen versehen werden, um sie attraktiver zu machen, weil dabei nur die Wirkung betrachtet würde.

Durkheim gibt drei Kriterien für soziale Strukturen („Gesellschaft“) an:

  1. „Allgemeinheit“:
    Die Regeln der geltenden Struktur gelten für alle Individuen, die in ihr interagieren.
  2. „Äußerlichkeit“:
    Die Struktur wird als unabhängig von der eigenen Person empfunden und kann nicht als Summe der individuellen Vorstellungen der in ihr handelnden Akteure begriffen werden.
  3. „Zwang“:
    Es ist dem Einzelnen nicht möglich, der sozialen Struktur entgegen zu wirken, da er dieser quasi unterworfen ist. Nichtbeachtung der gesellschaftlichen Regeln zieht mehr oder minder schwere Sanktionen nach sich. Die Determination des Handelns kann auch ohne Wissen der handelnden Personen geschehen, d. h. die Akteure müssen sich der gesellschaftlichen Regeln nicht unbedingt bewusst sein und befolgen diese mitunter intuitiv.

Das kollektive Gewissen oder auch kollektive Bewusstsein („conscience collective“) der Gesellschaft, in der man geboren wurde, wird durch Erziehung in den Einzelnen hineingetragen und schlägt sich in dessen Moralvorstellungen, Sitten und Glauben nieder. Nach Durkheim ist der kollektive Zwang selbst in abweichendem, also regelwidrigen Verhalten erkennbar. Erst wenn diese Abweichung in der Gesellschaft zur Regel wird, das kollektive Gewissen also nicht mehr in der Lage ist, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen, spricht man von „Anomie“. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft vom „Normalen“ zum „Pathologischen“ geworden ist.

Im sechsten Kapitel („Regeln der Beweisführung“) bestimmt Durkheim die vergleichende Methode als „die einzige, welche der Soziologie entspricht.“ (1991, S. 205), vgl. Vergleich (Philosophie). Im ersten Abschnitt (I) setzt sich Durkheim kritisch mit Comte und John Stuart Mill auseinander. Im zweiten Abschnitt (II) untersucht Durkheim vier verschiedene Verfahren der vergleichenden Methode: 1. Methode der Residuen 2. Methode der Konkordanz 3. Methode der Differenz 4. Methode der parallelen (konkomitanten) Variationen. Die ersten drei Verfahren eignen sich Durkheim zufolge nicht für die Untersuchung sozialer Phänomene, da solche Phänomene zu komplex sind. Dagegen hält Durkheim das Verfahren der parallelen Variationen für ein „ausgezeichnete[s] Instrument der soziologischen Forschung“ (1991, S. 211). Im dritten und letzten Abschnitt (III) behandelt Durkheim den Vergleich mehrerer Gesellschaften.

Der Selbstmord (1897)

Das vielleicht bekannteste Werk Durkheims ist Le suicide (Der Selbstmord bzw. Die Selbsttötung, 1897), in dem er verschiedene gängige Hypothesen zu den zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen abweichenden Suizidraten untersucht. Er macht sich dabei große Mengen von empirischen Daten aus den unterschiedlichsten Quellen zu Nutze und untersucht Korrelationen mit Parametern von der Konfession über den Berufs- und Vermögensstand der Betroffenen bis hin zum Wetter, zur Jahreszeit und zur Wirtschaftssituation des Landes. In diesem Werk entwickelt er auch den Begriff der Anomie, die er als Situation definiert, in der Verwirrung über soziale und/oder moralische Normen herrscht, diese unklar oder nicht vorhanden sind. Dies führt nach Durkheim zu abweichendem Verhalten. Der Wert des Werkes liegt weniger in seinen thematischen Erkenntnissen als in den neu gestifteten Begriffen, vor allem aber in der endgültigen Fundierung der soziologischen Arbeitsweise als Zusammenspiel von empirischer Sozialforschung und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung. Durkheim nennt in diesem Zusammenhang drei Grundtypen (Idealtyp) des Suizids: den egoistischen, den anomischen, den altruistischen Selbstmord. Nur in einer Fußnote erwähnt Durkheim einen 4. Typ, den fatalistischen Selbstmord.

Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912)

Die 1912 erschienenen Les formes élémentaires de la vie religieuse (Die elementaren Formen des religiösen Lebens) befassen sich mit der Frage nach dem Wesen der Religion. Mit diesem Werk bildet Durkheim die Grundlage für eine funktionalistische Betrachtung der Religion, indem er als ihr wesentliches Kernelement ihre Funktion zur Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Identität ausmacht. In Anschluss an Durkheim wird von einzelnen Vertretern der Religionssoziologie all das als Religion interpretiert, was in verschiedenen Gesellschaften eben derartige Funktionen erfüllt. Demgegenüber steht ein substantialer Religionsbegriff, der Religion an bestimmten inhaltlichen Merkmalen (Vorstellungen von Transzendenz, Ausbildung von Priesterrollen etc.) festmacht.

Siehe auch

Werke (Auswahl)

  • „La Science Positive de la Morale en Allemagne“. In: Revue Internationale de l’Enseignement 24 (1887): 33–58; 113–142; 275–284
  • „La prohibition de l’incest.“ In: L'Année Sociologique 1 (1898): 1–70
  • De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Félix Alcan, Paris 1893.
    • Übersetzung: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Dt. von Ludwig Schmidts. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977. ISBN 3-518-28605-6 (Nachdruck d. 1. Aufl.; 2. Auflage neu übersetzt)
  • Les règles de la méthode sociologique. Félix Alcan, Paris 1895.
    • Übersetzung: Die Regeln der soziologischen Methode. Dt. von René König. Luchterhand, Neuwied/Berlin 1961. ISBN 3-518-28064-3 (5. Aufl., 2002)
  • Le suicide: Étude de sociologie. Félix Alcan, Paris 1897.
    • Übersetzung: Der Selbstmord. Dt. von Sebastian und Hanne Herkommer. Luchterhand, Neuwied/Berlin 1973. ISBN 3-518-28031-7 (8. Aufl., 2002)
  • „De la définition des phénomènes religieux.” In: L'Année Sociologique 2 (1899): 1–28
  • „Sur le totémisme.“ In: L'Année Sociologique 5 (1902): 82–121
  • Les formes élémentaires de la vie religieuse. Félix Alcan, Paris 1912.
  • „L’Allemagne au-dessus de tout“: la mentalité allemande et la guerre. Armand Colin, Paris 1915.
    • Übersetzung: „Deutschland über alles“: Die deutsche Gesinnung und der Krieg. Dt. von Jacques Hatt. Payot, Lausanne 1915. ISBN 3-928640-49-6 (Dt. von Klaus H. Fischer, 2003)
  • Emile Durkheim und Ernest Denis: Wer hat den Krieg gewollt? Die Ursprünge des Krieges (1914–1918) nach den diplomatischen Dokumenten, Schutterwald/Baden 2003 (Dt. von Klaus H. Fischer)

Literatur

  • Nicholas J. Allen u.a.: On Durkheim's Elementary Forms of Religions Life (Routledge Studies in Social and Political Thought; 10). Routledge, London 1998, ISBN 0-415-16286-6.
  • Raymond Aron: Hauptströmungen des soziologischen Denkens („Les étapes de la pensée sociologique“). Rowohlt, Reinbek
  • Volker Gottowik: Émile Durkheim. In: Christian Feest, Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Hauptwerke der Ethnologie. Kröner, Stuttgart 2001, ISBN 3-520-38001-3, S. 86–90.
  • Hans G. Kippenberg: Émile Durkheim (1858–1917). In: Axel Michaels (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. Beck, München 1997, ISBN 3-406-42813-4, S. 103–119.
  • René König: Émile Durkheim zur Diskussion. Hanser, München 1976, ISBN 3-446-12513-2.
  • Steven Lukes: Émile Durkheim, his life and work. A historical and critical study. University Press, Stanford, Cal. 1990, ISBN 0-8047-1283-2.
  • Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939). UVK-VG, Konstanz 2006, ISBN 3-89669-532-0 (zugl. Habilitation, Universität Bremen 2005).
  • Hans-Peter Müller: Émile Durkheim. In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Beck, München
  • William S. Pickering (Hrsg.): Durkheim's Sociology of Religion. Themes and Theories. Routledge & Kegan Paul, London 1984, ISBN 0-7100-9298-9.
  • William S. Pickering (Hrsg.): Durkheim Today. Berghahn Books, New York 2002, ISBN 1-57181-548-1

Weblinks


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