- Encephalomyelitis disseminata
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Klassifikation nach ICD-10 G35 Multiple Sklerose (Encephalomyelitis disseminata) ICD-10 online (WHO-Version 2006) Die Multiple Sklerose (MS), häufig auch Encephalomyelitis disseminata (ED), ist eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), deren Ursache trotz großer Forschungsanstrengungen noch nicht geklärt ist. Sie ist neben der Epilepsie eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen im jungen Erwachsenenalter und von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung.
Bei der Multiplen Sklerose treten in der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark verstreut vielfache (multiple) entzündliche Entmarkungsherde auf, die vermutlich durch den Angriff körpereigener Abwehrzellen auf die Myelinscheiden der Nervenzellfortsätze verursacht werden. Da die Entmarkungsherde im gesamten ZNS auftreten können, kann die Multiple Sklerose fast jedes neurologische Symptom verursachen. Sehstörungen mit Minderung der Sehschärfe und Störungen der Augenbewegung (internukleäre Ophthalmoplegie) sind relativ typisch, aber nicht spezifisch für die Multiple Sklerose.
Die Erkrankung ist nicht heilbar, der Verlauf kann durch verschiedene Maßnahmen jedoch günstig beeinflusst werden. Entgegen der landläufigen Meinung führt die Multiple Sklerose nicht zwangsläufig zu schweren Behinderungen. Auch viele Jahre nach Beginn der Erkrankung bleibt die Mehrzahl der Patienten noch gehfähig.
Medizinhistorische Aspekte
Eine der ersten literarischen Beschreibungen der Erkrankung findet sich im Tagebuch des Augustus Frederick d'Este (1794 –1843),[1] eines Enkels von Georg III.[2][3]
D'Este beschreibt zunächst eine bei ihm im Alter von 28 Jahren erstmals aufgetretene vorübergehende Sehschärfeminderung:
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„Im Dezember des Jahres 1822 reiste ich von Ramsgate in die schottischen Highlands um einige Tage mit einem Verwandten zu verbringen, für den ich die Gefühle eines Sohnes hegte. Bei meiner Ankunft war er verstorben …. Kurz nach der Beerdigung war ich gezwungen, mir die empfangenen Briefe vorlesen und meine Antwortbriefe schreiben zu lassen, da meine Augen so angegriffen waren, dass das Sehen undeutlich wurde, wenn ich kleine Dinge fixierte. Solange ich jedoch nicht versuchte zu lesen oder zu schreiben, war mir nicht im Geringsten gegenwärtig, dass meine Sehkraft eingeschränkt war. Kurz darauf reiste ich nach Irland und meine Augen erholten sich ohne jegliche Behandlung und gewannen ihre Stärke und klare Sicht zurück.“ [4]
In der Folge traten schubförmig weitere typische Symptome der Erkrankung wie Doppelbilder, eine Schwäche der Beine und Taubheitsgefühle auf:
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„17. Oktober 1827. Zu meiner Überraschung bemerkte ich (in Venedig) eine Erstarrung oder Undeutlichkeit der Empfindung in der Gegend der Schläfe über meinem linken Auge. In Florenz begann ich an einer Störung des Sehvermögens zu leiden: Um den 6. November herum nahm das Übel soweit zu, dass ich alle Dinge doppelt sah. Jedes Auge hatte sein eigenes Bild. Dr. Kissock nahm an, dass ein Übermaß an Galle die Ursache sei: zweimal wurden Blutegel im Bereich der Schläfe angesetzt, Einläufe wurden verabreicht, Erbrechen wurde ausgelöst und zweimal wurde ich zur Ader gelassen, was mit Schwierigkeiten verbunden war. Die Erkrankung meiner Augen klang ab, ich sah alle Dinge wieder natürlich in ihrem einzelnen Zustand. Ich war in der Lage auszugehen und zu spazieren. Nun begann sich eine neue Krankheit zu zeigen: Mit jedem Tag stellte ich fest, dass mich schrittweise meine Kraft verließ. Eine Taubheit und Empfindungstörungen traten an Steißbein und Damm auf. Schließlich hatte mich die Kraft der Beine um den 4. Dezember herum fast ganz verlassen. Ich verblieb in diesem außergewöhnlichen Zustande der Schwäche für etwa 21 Tage ….“ [4]
Eine der ersten medizinischen Beschreibungen der Multiplen Sklerose wird William MacKenzie (1791–1886) zugeschrieben. Der schottische Augenarzt berichtete die Krankengeschichte eines 23-jährigen Mannes, der, nachdem zunächst Sehstörungen aufgetreten waren, wegen zunehmender Lähmungen in das Londoner St. Bartholomew's Hospital aufgenommen worden war. Zusätzlich entwickelten sich eine Sprechstörung (Dysarthrie) und eine Harninkontinenz. Alle Symptome waren jedoch nach zwei Monaten wieder weitestgehend verschwunden.[5]
Im Jahre 1868 beschrieb Jean-Martin Charcot die Erkrankung nicht nur umfassend klinisch, sondern auch detailliert pathologisch: etwa das Verteilungsmuster multipler sklerosierender Herde in der Nachbarschaft der Hirnventrikel und im Hirnstamm sowie mikroskopisch den Verlust der Markscheiden im Bereich dieser Herde. Er bezeichnete die Erkrankung als la sclerose en plaques. Bereits 1877 schlug der Neurologe Julius Althaus (1833–1900) vor, die Erkrankung nach Charcot zu benennen; das Eponym Morbus Charcot ist jedoch ungebräuchlich geworden.
Epidemiologie
Krankheitshäufigkeit
Die Multiple Sklerose ist in Mitteleuropa die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Frauen sind ungefähr doppelt so häufig betroffen wie Männer. Nach aktuellen Schätzungen liegt die Krankheitshäufigkeit (Prävalenz) in Deutschland bei 149 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern, woraus sich eine Gesamtzahl von etwa 122.000 Erkrankten ergäbe.[6] Andere Schätzungen gehen von 67.000 bis 138.000 erkrankten Patienten aus.[7] Für Österreich werden vergleichbare Zahlen angegeben[8], woraus eine Gesamtzahl von etwa 8.150 Erkrankten resultiert. Für die Gesamtschweiz liegen keine epidemiologischen Untersuchungen vor, für den Kanton Bern wurde jedoch mit 110 Erkrankten pro 100.000 Einwohner eine vergleichbare Prävalenz ermittelt.[9] Weltweit sind etwa 2,5 Millionen Menschen an der MS erkrankt.
Sterblichkeit
Insbesondere bei Patienten, die keine höhergradigen Behinderungen aufweisen, ist die Sterblichkeit (Mortalität) nicht wesentlich erhöht.[10] Die Lebenserwartung von MS-Patienten liegt sechs bis zehn Jahre unter der von Nichterkrankten vergleichbaren Alters.[11] In den letzten Jahrzehnten ist jedoch ein deutlicher Rückgang der Sterblichkeit zu verzeichnen.[12]
Geographische Verteilung
In der äquatorialen Zone ist die Erkrankungshäufigkeit seltener als in den nördlichen oder südlichen Breiten. Menschen, die als Kinder und Jugendliche aus MS-reichen Zonen in MS-arme Zonen übersiedeln (zum Beispiel von Europa nach Südafrika oder von Amerika und Europa nach Israel) übernehmen das Erkrankungsrisiko des Ziellandes, während ältere Personen die Krankheitshäufigkeit ihres Herkunftslandes behalten. Dieser Befund stellt ein wichtiges Argument für die Beteiligung eines Umweltfaktors im Kinder- und Jugendlichenalter an der späteren Entstehung der Erkrankung dar (Infektionshypothese).[13]
Neuropathologie
Neuropathologisch ist die MS durch herdförmige (fokale), entzündlich-entmarkende Läsionen im ZNS mit unterschiedlich ausgeprägtem Verlust an Axonen und reaktiver Gliose gekennzeichnet. Möglicherweise führen verschiedene immunologische Mechanismen zum Verlust der Markscheiden: Histologisch definierten Lassmann und Mitarbeiter vier verschiedene Subtypen, wobei Patienten mit einer primär immunologisch induzierten Entmarkung (Subtypen I und II) und solche mit einer primären Erkrankung der Oligodendrogliazellen (Subtyp III und IV) unterschieden werden.[14] Ob sich im Laufe der Chronifizierung der Erkrankung die Ausprägung der Subtypen ändert, bleibt unklar.
Neue bildgebende Verfahren, wie etwa die Diffusions-Tensor-Bildgebung, aber auch neuropathologische Untersuchungen haben seit einigen Jahren die Schädigung von Axonen bei der MS wieder zunehmend in den Vordergrund gerückt. Die Mechanismen, die zu dieser Art von Schäden führen, sind noch nicht vollständig geklärt.
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie (Ursache) der MS ist unbekannt. Hinsichtlich der Pathogenese (Entstehung) existieren zahlreiche Theorien. Die vorliegenden Befunde deuten auf eine multifaktorielle Krankheitsentstehung mit Beteiligung von genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen als Auslöser einer immunvermittelten Schädigung hin.
Genetische Prädisposition
Die MS ist keine Erbkrankheit im klassischen Sinne. Es konnten jedoch eine Reihe von genetischen Variationen (Polymorphismen) identifiziert werden, die bei Erkrankten häufiger als in der Gesamtbevölkerung auftreten und möglicherweise zu einer Prädisposition für die Multiple Sklerose beitragen. Unter anderem Polymorphismen von am Interleukin-Signalweg beteiligten Genen sind von wissenschaftlichem Interesse.[15][16][17][18]
Das Erkrankungsrisiko ist auch abhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.[19] Epidemiologische Studien aus den Vereinigten Staaten weisen darauf hin, dass dort die Multiple Sklerose bei Hispanics und Afroamerikanern seltener auftritt.[20]
Bei Zwillingen von MS-Patienten beträgt das Erkrankungsrisiko etwa 35 %, während die Wahrscheinlichkeit an einer Multiplen Sklerose zu erkranken bei Geschwistern (etwa 4 %) sowie Verwandten ersten Grades (etwa 3 %), zweiten Grades (etwa 1 %) oder dritten Grades (etwa 0,9 %) deutlich niedriger ist.[21][22]
Infektionshypothese
Als auslösendes Agens wurde schon früh eine Infektion in der Kindheit mit einem Erreger, der Kreuzreaktivität mit Proteinbestandteilen des Myelins aufweist, vermutet. Der überzeugende Nachweis eines spezifischen Erregers konnte bisher jedoch nicht geführt werden. Gegen die Möglichkeit einer direkten Übertragung der MS sprechen Studien an Adoptiv- und Stiefkindern von MS-Patienten, bei denen keine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit nachgewiesen werden konnte.[23]
Zahlreichen Viren (unter anderem Epstein-Barr-Virus und HHV6) ist eine mögliche Bedeutung bei der Krankheitsentstehung zugeschrieben worden. Tatsächlich ist insbesondere bei Kindern mit Multipler Sklerose eine Immunreaktion gegen das Epstein-Barr-Virus häufiger als bei nicht-erkrankten Kindern nachweisbar.[24][25] Auch bakterielle Erreger (unter anderem Chlamydien, Spirochaeten, Rickettsien und Streptococcus mutans) sind mit der Entstehung der Multiplen Sklerose in Zusammenhang gebracht worden.
Die Zunahme der Erkrankungsfälle auf den Färöer-Inseln, die mit der Stationierung Britischer Truppen im Jahr 1943 begann und in vier Wellen erfolgte, wird als Beleg für eine mögliche infektiöse Ursache angeführt.[26][27]
Hygienehypothese
Vermutet wird ein Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung des Immunsystems mit Infektionskrankheiten und einer dadurch verminderten Anfälligkeit für die Multiple Sklerose. So reduziert das Zusammenleben mit Geschwistern in den ersten sechs Lebensjahren das Risiko, an MS zu erkranken, signifikant, was durch eine vermehrte gegenseitige Ansteckung von Geschwisterkindern mit Infektionskrankheiten erklärt wird.[28]
Vitamin-D-Stoffwechselhypothese
Einen Erklärungsversuch für die in der äquatorialen Zone seltenere Erkrankungshäufigkeit stellt der Vitamin-D-Stoffwechsel dar: Vitamin D wird beim Menschen hauptsächlich durch Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet. Eine vermehrte Sonnenexposition im Kindesalter sowie erhöhte Vitamin-D-Serumspiegel gehen mit einem niedrigeren Risiko einher, im späteren Leben eine MS zu entwickeln.[29][30] Die niedrige Inzidenz der MS bei traditionell lebenden grönländischen Inuit[31] ist mit deren Vitamin-D-reicher Ernährung[32] erklärt worden.
Umweltgifte
Für den häufig behaupteten kausalen Zusammenhang der Erkrankung mit verschiedenen Umweltgiften gibt es wenig Evidenz. So ergab eine Meta-Analyse keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Erkrankungswahrscheinlichkeit und Amalgamfüllungsstatus.[33]
Rauchen
Ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Risiko an Multiple Sklerose zu erkranken und dem Rauchen von Zigaretten wird seit Jahren erforscht. Mittlerweile zeichnet sich recht klar ab, dass Rauchen vor Erkrankungsbeginn das Risiko, an MS zu erkranken, steigert; eine Metaanalyse ergab eine 1,2 bis 1,5-fache Erhöhung des Erkrankungsrisikos.[34] In einer norwegischen Studie ergab sich gar eine Steigerung des Risikos um den Faktor 1,81.[35]
Auch auf die Progression eines Clinically isolated Syndromes (CIS) zur Ausbildung einer sicheren MS scheint sich Rauchen negativ auszuwirken: So ergab sich bei 129 CIS-Patienten, die über 36 Monate beobachtet wurden, bei 75% der Raucher, aber nur bei 51% der Nicht-Raucher im weiteren Verlauf die Diagnose einer MS.[36]
Des Weiteren wurde untersucht, wie sich der Konsum von Zigaretten mittelfristig auf das Voranschreiten der Behinderung auswirkt und ob ein Zusammenhang zu den Verlaufsformen bestehen könnte. Dabei zeigte sich, dass die größten Unterschiede zwischen Patienten bestehen, die nie geraucht haben und denen, die schon sehr früh in Ihrem Leben damit begonnen haben. Frühe Raucher tendieren häufiger und nach kürzerer Erkrankungsdauer zu chronischen Verlaufsformen und das Risiko eines Voranschreitens der Behinderung ist signifikant erhöht.[37]
Welche durch das Rauchen ausgelösten pathologischen Veränderungen Entwicklung und Voranschreiten der MS beeinflussen, ist bisher nicht bekannt.
Impfungen
Ein ursächlicher Zusammenhang von Impfungen – und hier insbesondere der Hepatitis-B-Impfung – und dem Auftreten einer MS ist nicht nachweisbar. Zahlreiche Studien mit großen Patientenkollektiven konnten einen aufgrund von Einzelfallberichten und Studien mit kleinen Patientenkollektiven[38] vermuteten Zusammenhang nicht bestätigen.[39][40][41][42]
Experimentelle Tiermodelle der MS
Experimentelle Tiermodelle werden in der MS-Forschung eingesetzt, um Mechanismen der Krankheitsentstehung zu untersuchen. Durch gezielte Variation der Experimente kann der Einfluss einzelner Faktoren (beispielsweise Gene und Proteine, die im Immunsystem eine wichtige Rolle spielen) auf die Krankheitsentstehung studiert werden. Auch neue Wirkstoffe mit therapeutischem Ansatz werden zunächst im Tiermodell getestet. Das wichtigste Tiermodell zur MS ist die Experimentelle allergische Enzephalomyelitis (EAE). Die Krankheit wird vor allem bei spezifischen Stämmen von Mäusen und Ratten untersucht. Die EAE weist neben vielen pathologischen und immunpathogenetischen Ähnlichkeiten auch wichtige Unterschiede zur MS auf, so dass sie mit dieser nicht gleichgesetzt werden darf. So wurde festgestellt, dass die EAE nicht die komplexe Pathologie der MS abbildet. Jedoch spiegeln unterschiedliche Varianten der EAE einzelne immunpathogenetische Aspekte der MS wider und können gezielt zur Untersuchung spezifischer Fragen eingesetzt werden.[43]
Verlaufsformen
Die Multiple Sklerose hat unterschiedliche Verlaufsformen. Wichtig für das Verständnis der Erkrankung und der Verlaufsformen ist der Begriff des Schubes. Ein Schub ist definiert als das Auftreten neuer oder das Wiederaufflammen bereits bekannter klinischer Symptome, die länger als 24 Stunden anhalten und denen eine entzündlich-entmarkende Schädigung des ZNS zugrunde liegt. Typischerweise treten neue Symptome bei der MS subakut, also innerhalb von Stunden bis Tagen, auf. Um einen neuen Schub von einem vorangegangenen abgrenzen zu können, müssen definitionsgemäß mindestens 30 Tage zwischen beiden klinischen Ereignissen liegen. Die Dauer eines Schubes beträgt meist einige Tage bis wenige Wochen. Je nachdem, ob sich die aufgetretenen Symptome vollständig oder nur unvollständig zurückbilden, spricht man von einer kompletten oder inkompletten Remission. Von echten Schüben sind sogenannte Pseudoschübe abzugrenzen, die im Rahmen einer Temperaturerhöhung (Uhthoff-Phänomen) oder infektassoziiert auftreten und zu einer vorübergehenden Verschlechterung klinischer Symptome führen können.
Unterschieden werden folgende Verlaufsformen[44]:
Schubförmig remittierende MS (RR-MS) und sekundär progrediente MS (SP-MS)
Bei der schubförmig remittierenden MS (RR-MS) lassen sich einzelne Schübe abgrenzen, die sich vollständig oder unvollständig zurückbilden. Die sekundär progrediente MS ist durch eine langsame Zunahme neurologischer Dysfunktionen gekennzeichnet. Zusätzlich können sich aber hier noch Schübe auf den fortschreitenden Verlauf aufpfropfen. Nach etwa 10 bis 15 Jahren geht die RR-MS in etwa der Hälfte der Fälle in die sekundär progrediente Verlaufsform über.[45]
Für einige Faktoren konnte nachgewiesen werden, dass sie die Wahrscheinlichkeit einzelner Schübe erhöhen - diese werden als Triggerfaktoren bezeichnet. Als gesichert gilt, dass im unmittelbaren Zeitraum nach einer Infektion (wie der Grippe oder der durch Viren verursachten Infektionen des Magen-Darm-Traktes) die Schubwahrscheinlichkeit erhöht ist.[46][47]
Während der Schwangerschaft ist das Schubrisiko (insbesondere im dritten Trimenon) im Vergleich zur Krankheitsaktivität des vorausgegangenen Jahres deutlich reduziert. In den drei auf die Entbindung folgenden Monaten ist es hingegen erhöht. Im Verlauf der folgenden 21 Monate unterscheidet sich die Krankheitsaktivität nicht von der Situation vor der Schwangerschaft.[48]
Kontrovers diskutiert wird der Einfluss psychischen Stresses (wie Beziehungs- und Eheprobleme, Stress am Arbeitsplatz, Verlust eines nahen Angehörigen) auf das Schubrisiko. Vielen früher durchgeführten Studien zu diesem Thema werden methodische Mängel vorgeworfen.[49] Neuere Studien deuten auf einen geringen bis moderaten Einfluss psychischen Stresses auf die Schubwahrscheinlichkeit hin.[50][51]
Primär progrediente MS (PP-MS)
Im Gegensatz zu den anderen Formen der MS beginnt die primär progrediente MS nicht mit Schüben, sondern von Beginn an mit einer schleichenden Progression der neurologischen Defizite ohne Rückbildung. Selten können im weiteren Verlauf jedoch überlagerte Schübe auftreten.
Zu Beginn ist die RR-MS die häufigste Form mit etwa 85 %, nur bei 15 % der Patienten wird die PP-MS diagnostiziert.[52] Die PP-MS kommt bei älteren Patienten häufiger vor als bei jüngeren.
Symptome
Die ersten Symptome treten meist zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr im Rahmen eines Schubes auf. Während sich die Schübe bei Erkrankungsbeginn meist völlig zurückbilden, bleiben im späteren Krankheitsverlauf nach Schüben vermehrt neurologische Defizite zurück. Zu Beginn der Erkrankung werden Seh- und Sensibilitätsstörungen häufig beobachtet. Nicht selten beginnt die Erkrankung zunächst mit einem isolierten Symptom, wofür sich der englische Begriff des Clinically isolated Syndrome (CIS) eingebürgert hat.
Welches Symptom im einzelnen Schub entsteht, ist abhängig von der jeweiligen Lokalisation des aktiven Entmarkungsherdes im zentralen Nervensystem: So bewirken Entzündungen im Bereich des Sehnervs (Retrobulbärneuritis) Sehstörungen, die sich als Sehunschärfe oder milchiger Schleier bemerkbar machen und auch mit Augenschmerzen [53] einher gehen können. Durch Entzündungsherde im Bereich sensibler Bahnsysteme können Sensibilitätsstörungen wie Missempfindungen (Parästhesien), Taubheitsgefühle und Schmerzen auftreten. Häufig sind hierbei die Hände und Beine (Füße und Unterschenkel) betroffen. Schmerzen können auch durch eine Trigeminusneuralgie, Krämpfe der Muskulatur sowie durch das Lhermitte-Symptom verursacht sein.[54] Das Lhermitte-Zeichen gilt als typisch für die MS und kann ein Hinweis auf Herde im Bereich des Halsteils des Rückenmarks sein. Ist das motorische System betroffen, treten Lähmungserscheinungen (Paresen) der Extremitäten auf, wobei durch eine abnorme unwillkürliche Erhöhung des Muskeltonus (spastische Tonuserhöhung) die Bewegungsfähigkeit des Patienten zusätzlich eingeschränkt sein kann. Herde in Hirnstamm und Kleinhirn können zu Störungen der Augenbewegungen (Doppeltsehen und Nystagmen), Schluckstörungen (Dysphagie), Schwindel sowie Störungen der Bewegungskoordination (Ataxie) und Sprechstörungen (Dysarthrie) führen. Als Charcot-Trias wird der bei Entmarkungsherden im Bereich des Kleinhirns auftretende Symptomenkomplex von Intentionstremor, Nystagmus und skandierender (abgehackter) Sprache bezeichnet. Sind vegetative Zentren und Bahnen betroffen, kann es zu Störungen der Kontrolle der Blasen- und Darmfunktion und zu sexuellen Funktionsstörungen kommen. Bei sehr vielen Patienten tritt im Verlauf eine gesteigerte körperliche und psychische Ermüdbarkeit (Fatigue) auf. Diese Ermüdbarkeit tritt unabhängig von körperlicher und psychischer Belastung auf und nimmt im Laufe des Tages zu. Wie auch die anderen Symptome kann sich die Fatigue im Rahmen des Uhthoff-Phänomens (deutlicheres Hervortreten der Symptome durch Temperaturerhöhung) verstärken. Nicht zu vernachlässigen sind kognitive und psychische Störungen. Insbesondere Störungen des Affekts treten häufig auf.[55]
Ein Mittel zur Quantifizierung der Beeinträchtigungen des Patienten ist die Bestimmung der Expanded Disability Status Score. In dieser Skala wird die aktuelle Beeinträchtigung des Betroffenen in sieben neurologischen Systemen bestimmt. Betrachtet man den gesamten Krankheitsverlauf, sind es die Fatigue, Störungen der Blasenfunktion sowie Störungen des motorischen Systems wie Lähmungen und spastische Tonuserhöhungen, die das Leben der Betroffenen häufig am meisten beeinträchtigen.
Diagnose
Vor der Ära der bildgebenden Verfahren war die Diagnose der Multiplen Sklerose vor allem auf die klinische Einschätzung von Symptomen und Anamnese gestützt. Heute wird die Diagnose nach einheitlichen Diagnosekriterien der Multiplen Sklerose gestellt. Als Grundlage für die Diagnosestellung dient die zuletzt 2005 überarbeitete Fassung der McDonald-Kriterien [56][57][58].
Klinische Diagnosekriterien
Klinisches Hauptkriterium der MS-Diagnose bleibt der Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Streuung (Dissemination) von Entzündungsherden. Mit räumlicher Dissemination ist das Vorliegen von Entzündungsherden an mehr als einem Ort im zentralen Nervensystem gemeint. Zeitliche Dissemination bedeutet, dass im Verlauf der Erkrankung neue Herde hinzukommen, die zu klinischen Symptomen führen können. Sind weder in der Anamnese noch in der neurologischen Untersuchung Symptome für in der Bildgebung nachweisbare Herde vorhanden, wird von klinisch stummen Läsionen gesprochen. Eine räumliche und zeitliche Dissemination von Krankheitsherden ist zwar typisch für die MS, sie kann jedoch auch durch andere Erkrankungen verursacht werden. Daher wird in den Diagnosekriterien ausdrücklich betont, dass die Diagnose einer MS nicht gestellt werden darf, wenn die Symptome und pathologischen Befunde von einer anderen Erkrankung besser erklärt werden können. Neben Anamnese und klinisch-neurologischer Untersuchung werden eine Reihe von Zusatzuntersuchungen zur Diagnose einer MS durchgeführt:
Bildgebende Untersuchungen
In den mittels Magnetresonanztomografie (MRT) gewonnenen Schichtbildern des Gehirns und des Rückenmarks können entzündete und vernarbte Gewebebereiche dargestellt werden. Mithilfe des Kontrastmittels Gadolinium können akute Krankheitsherde nachgewiesen werden, da in ihrem Bereich im Unterschied zu intaktem Gewebe die Blut-Hirn-Schranke durchlässig für Kontrastmittel ist. Typisch für die MS sind periventrikulär (um die Seitenventrikel) gelegene Entzündungsherde im Marklager des Gehirns und sogenannte Balkenherde.
Die MRT-Untersuchung kann wesentlich zur Diagnose beitragen. Zwar ist nach den McDonald-Kriterien eine Diagnosestellung auch ohne MRT-Bildgebung möglich (bei zwei Schüben und objektivierbaren Funktionsausfällen in mindestens zwei neurologischen Systemen), bei vielen Patienten mit klinischem Erstereignis ist jedoch zur frühen Diagnosestellung ein MRT notwendig. Mit der MRT-Untersuchung können sowohl die räumliche als auch die zeitliche Dissemination der Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark nachgewiesen werden. Die McDonald-Kriterien geben genau an, wie viele Entzündungsherde in welcher Region des ZNS nachweisbar sein müssen, um hinsichtlich der räumlichen Streuung von einem positiven MRT-Befund sprechen zu können. Für den Nachweis einer zeitlichen Dissemination mittels MRT müssen neue Entzündungsherde nach einem Zeitraum von mindestens drei Monaten nach dem klinischen Erstereignis nachgewiesen werden (optional können auch neue Herde nach einem Monat im Vergleich zu einer Referenzaufnahme die zeitliche Dissemination beweisen). Die Diagnose einer MS darf niemals allein aufgrund bildgebender Befunde erfolgen.[57]
Laborchemische Untersuchungen
Blutuntersuchungen
Ein für die Multiple-Sklerose spezifischer Biomarker im Blut ist nicht bekannt. Gängige Entzündungsparameter wie die Anzahl der weißen Blutkörperchen, die Blutsenkungsgeschwindigkeit oder das C-reaktive Protein sind bei der MS auch während eines Schubereignisses nicht zwangsläufig erhöht.[59] Ob die Serumbestimmung von Antikörpern, die gegen das Myelin-Basische Protein (MBP) oder das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) gerichtet sind, zur Diagnosestellung beitragen kann, bleibt umstritten. [60][61]
Liquordiagnostik
Im Liquor cerebrospinalis hingegen ergibt sich bei über 95 % der Patienten ein pathologischer Befund. Daher ist bei Krankheitsverdacht eine Lumbalpunktion empfehlenswert. Bei 50 % der Patienten findet sich eine leichte Vermehrung lymphozytärer Zellen im Liquor (lymphozytäre Pleozytose). Eine intrathekale Antikörpersynthese mit Nachweis oligoklonaler Banden in der isoelektrischen Fokussierung als Hinweis auf einen chronisch-entzündlichen Prozess im zentralen Nervensystem ist bei über 95 % der Patienten nachweisbar. Die genaue Sensitivität des Tests ist allerdings abhängig vom untersuchenden Labor.[62] Eine intrathekale Synthese von Antikörpern gegen Masern, Röteln und Varizella-Zoster-Viren (MRZ-Reaktion) findet sich bei 89 % der Patienten.[63] Diese Befunde sind typisch, aber nicht beweisend für die Multiple Sklerose.
Neurophysiologische Untersuchungen
Eine Verlängerung der Latenzzeiten bei der Untersuchung der evozierten Potenziale (insbesondere der visuell und somatosensorisch evozierten Potentiale) kann auf die durch die Demyelinisierung gestörte Erregungsleitung hinweisen. Bei fortgeschrittener Erkrankung kann, bedingt durch die axonale Schädigung, auch eine Reduktion der Amplitude auftreten.
Differenzialdiagnose
Die Differenzialdiagnose, also die Abgrenzung der MS gegenüber anderen Erkrankungen, umfasst eine Vielzahl von Erkrankungen. Neben infektiösen Erkrankungen (insbesondere die Neurosyphilis, die Neuroborreliose oder die HIV-Infektion) müssen auch andere chronisch-entzündliche Krankheiten (wie Kollagenosen, Vaskulitiden) ausgeschlossen werden. Auch andere entzündlich-demyelinisierende Erkrankungen (zum Beispiel die Neuromyelitis optica, die Tropische Spastische Paraparese oder die Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)) sind zu bedenken. Krankheiten des Stoffwechsels (wie Leukodystrophien) können ebenso zu ähnlichen Symptomen und insbesondere bildgebenden Befunden wie bei einer MS führen. Auch die Möglichkeit, dass den Beschwerden psychiatrische Erkrankungen zugrunde liegen, muss bedacht werden.[64]
Obligate Laboruntersuchungen in der diagnostischen Phase umfassen C-reaktives Protein, großes Blutbild, Serumchemie, Blutzucker, Vitamin-B12, Rheumafaktor, ANA, Anti-Phospholipid-Antikörper, Lupus-Antikoagulans, ACE, Borrelienserologie und Urinstatus. Fakultativ werden bei klinisch möglicher Differenzialdiagnose durchgeführt: ANCA, ENA, HIV-Serologie, HTLV-1-Serologie, TPHA, langkettige Fettsäuren, Mykoplasmen-Serologie.
Therapie
Multiple Sklerose ist nicht heilbar. Ziel aller therapeutischen Maßnahmen ist es, die Unabhängigkeit des Patienten im Alltag zu erhalten und die beste erreichbare Lebensqualität zu gewährleisten. Die bestehenden therapeutischen Möglichkeiten lassen sich in die Schubtherapie, die immunmodulierende Langzeittherapie und die Behandlung symptomatischer Beschwerden unterteilen. Ein Schwerpunkt liegt auch auf der Verhinderung von Komplikationen der MS, die beispielsweise infolge der Immobilität des Patienten auftreten können. Das Erreichen dieser Therapieziele setzt eine gute Zusammenarbeit von Patient, Pflegenden, Umfeld des Patienten, Neurologen, Hausarzt, Physiotherapeuten und Vertretern weiterer Disziplinen voraus. Die Auswahl der therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt immer den individuellen Fall des Patienten.
Schubtherapie
Eine Schubtherapie ist bei funktioneller Beeinträchtigung des Patienten angezeigt. Bei rein sensiblen Schüben ist eine Schubtherapie meist nicht notwendig. Die Gabe von hochdosierten therapeutischen Glucocorticoiden kann während eines Schubes die Rückbildung von Symptomen initiieren und beschleunigen. Glucocorticoide wirken entzündungshemmend. Unter anderem vermindern sie die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, so dass weniger weiße Blutkörperchen in die Entzündungsherde im ZNS einwandern können. Es gibt bis heute keine studiengestützten Hinweise, dass therapeutische Glucocorticoide den Langzeitverlauf der Krankheit positiv beeinflussen.
Üblich ist die intravenöse Therapie mit 1000 mg Methylprednisolon über drei (bis fünf) Tage. Sind nach der ersten Pulstherapie die Auswirkungen eines Schubes nach mindestens zwei Wochen noch immer relevant, soll nach Empfehlung der deutschen Gesellschaft für Multiple Sklerose eine zweite Pulstherapie mit erhöhter Dosierung bis zu fünf Tage je 2 g stattfinden. Häufige Nebenwirkungen der Glucocorticoidtherapie sind Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. Da die Glucocorticoidgabe nur über eine kurze Zeit erfolgt, treten keine Nebenwirkungen auf, die für eine Langzeittherapie mit Glucocorticoiden typisch sind (beispielsweise Cushing-Syndrom).
Sollte auch die zweite Pulstherapie nicht befriedigend wirken, kann zur Beendigung eines akuten Schubes eine Plasmapherese erwogen werden. Die Anwendung der Plasmapherese wird hauptsächlich bei Schüben erwogen, die den Patienten funktionell stark beeinträchtigen (beispielsweise bei Lähmungen). Bei etwa 40 % der Patienten kann durch die Plasmapherese eine Besserung der Beschwerden erreicht werden.[65] Ihre Durchführung bleibt spezialisierten Zentren vorbehalten, da als mögliche Komplikationen Störungen des Herz-Kreislauf-Systems und Infektionen auftreten, die in seltenen Fällen einen schwerwiegenden Verlauf nehmen können.[66][67]
Immunmodulation und Immunsuppression
Die Begriffe Immunmodulation und Immunsuppression werden in der Literatur nicht immer klar abgegrenzt. Als immunmodulierende Therapie wird die Therapie mit Beta-Interferonen, Glatirameracetat, intravenösen Immunglobulinen (IVIG) und Natalizumab bezeichnet. Immunsuppressiva sind Mitoxantron, Azathioprin und Cyclophosphamid. Ziel der Langzeittherapie mit diesen Substanzen ist es, neue neurologische Defizite zu verhindern und die Verschlechterung bestehender Defizite zu verzögern. Auf pathophysiologischer Ebene sollen die eingesetzten Wirkstoffe axonale Schäden verhindern, indem sie die Entzündungsreaktion im ZNS dämpfen. Die Immunsuppressiva erreichen dies, indem sie die Vermehrung von weißen Blutkörperchen hemmen. Die Wirkprinzipien der immunmodulierenden Substanzen sind vielfältig und nicht vollständig verstanden. Natalizumab wurde gezielt als ein Wirkstoff entwickelt, der das Einwandern von weißen Blutkörperchen in das ZNS verhindern soll.
Grundlage der Behandlung im deutschsprachigen Raum ist die Therapieempfehlung der „Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe“ (MSTKG), der führende Forscher und spezialisierte Ärzte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angehören.[68] Die Wahl der Therapie richtet sich zunächst danach, ob es sich um eine schubförmig verlaufende oder primär progrediente Form der Erkrankung handelt.
Schubförmiger Verlauf
Medikamente zur Behandlung der RR-MS Wirkstoff Markenname Publikationen Basistherapie (nach den Leitlinien der MSTKG) Interferone Betaferon®, Avonex®, Rebif® [69][70] Glatirameracetat Copaxone® [71] Alternativtherapie (bei Kontraindikationen zur Basistherapie) Azathioprin Imurek® [72] Immunglobuline Gamunex® 10 %, Octagam® [73] Eskalationstherapie Natalizumab Tysabri® [74] Mitoxantron Ralenova® [75] Cyclophosphamid Endoxan® [76] Grundsätzlich wird bei der RR-MS eine frühestmögliche immunmodulatorische Therapie empfohlen, um bereits im Frühstadium der Erkrankung axonale Schäden zu begrenzen. Für diesen Ansatz spricht auch, dass die frühe Phase der MS meist durch eine besonders hohe entzündliche Aktivität im ZNS gekennzeichnet ist. Gleichberechtigte Therapeutika der ersten Wahl sind das Glatirameracetat und die Beta-Interferon-Präparate Betaferon®, Avonex® und Rebif®. Wenn Kontraindikationen gegen diese Mittel bestehen, gelten Azathioprin und intravenöse Immunglobuline als Mittel der zweiten Wahl. Diese Therapie wird als Basistherapie bezeichnet. Kommt es unter dieser Therapie zu einem raschen Fortschreiten der neurologischen Defizite, wird statt der Basistherapie die Eskalationstherapie empfohlen. Wirkstoffe, die in der Eskalationstherapie eingesetzt werden, sind Mitoxantron, Natalizumab und in seltenen Fällen Cyclophosphamid. Nicht für alle Präparate konnte in Meta-Analysen ein überzeugender Wirksamkeitsnachweis geführt werden.[77]
Die Therapie wird im Allgemeinen fortgeführt, solange ein positiver Effekt auf die Entwicklung der MS festzustellen ist und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auftreten. Für Mitoxantron gibt es aufgrund schwerer dosisabhängiger Nebenwirkungen (Mitoxantron ist kardiotoxisch) eine begrenzte Lebensdosis, die etwa nach 2–5 Jahren erreicht wird. Bei der Behandlung mit Interferon-Beta und Natalizumab kann es zur Entstehung von neutralisierenden Antikörpern (NAB) kommen. Während aktuelle Studien (2007) gezeigt haben, dass die Wirksamkeit der Interferone davon nicht beeinträchtigt wird, ist bei Natalizumab davon auszugehen, dass NAB die Effektivität verringern.
Wird während der Basistherapie der Wechsel auf ein anderes Medikament erwogen, kann dazu je nach Beurteilung des behandelnden Arztes in Rücksprache mit dem Patienten entweder ein anderes Basistherapeutikum oder ein Arzneistoff aus der Gruppe der Eskalationstherapie gewählt werden.
Die beiden Beta-Interferon-Präparate Betaferon® und Avonex® sind jeweils unter bestimmten Voraussetzungen auch zur Behandlung des Clinically isolated Syndrome zugelassen.
Chronisch progrediente Verlaufsformen
Für die Behandlung der sekundär progredienten MS wird in erster Linie der für diese Indikation seit 2002 zugelassene Arzneistoff Mitoxantron eingesetzt. Nach Erreichen der Höchstdosis von Mitoxantron und fortbestehender Krankheitsaktivität können Therapieversuche mit vierteljährlichen hochdosierten intravenösen Glucocorticoidstößen (üblicherweise Methylprednisolon) oder Cyclophosphamid versucht werden. Die primär progrediente Verlaufsform ist einer Behandlung nur wenig zugänglich. Nach Abwägen des Risiko-Nutzen-Verhältnisses und Abschätzung der Krankheitsaktivität können in einigen Fällen Therapieversuche ebenfalls mit Glucocorticoidstößen, Mitoxantron oder Cyclophosphamid unternommen werden.
Symptomatische Therapie
Im Verlauf der MS können viele Symptome zu einer Verminderung der Lebensqualität führen. Die jeweiligen Funktionsstörungen und ihr Ausmaß sind dabei bei jedem Patienten unterschiedlich ausgeprägt. Besonders häufig und einschränkend sind Spastik, Schmerzen, Blasenfunktionsstörungen, Sprech- und Schluckstörungen, eine schnellere psychische und physische Ermüdbarkeit (Fatigue-Syndrom) sowie depressive Störungen. Zur Behandlung dieser Symptome eignen sich neben Änderungen der Lebensführung physiotherapeutische,[78] logopädische, ergotherapeutische, psychotherapeutische, medikamentöse und operative Maßnahmen.[79] Besonders wichtig ist die Prophylaxe schwerwiegender Komplikationen wie Aspirationspneumonien, Lungenembolien, Thrombosen, Osteoporose, Dekubitalgeschwüren, Gelenkkontrakturen, Harnwegsinfektionen und der Exsikkose. Diese Komplikationen sind mit für die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verminderte Lebenserwartung bei MS-Patienten verantwortlich.
Behandlung der Spastik
Spastische Tonuserhöhungen der Muskulatur kommen durch Herde in der Pyramidenbahn zustande. Sie können direkt Schmerzen oder ein Spannungsgefühl verursachen oder über Folgeerkrankungen wie Muskel- und Gelenkkontrakturen, Fehlstellungen und Immobilität zu Schmerzen führen. Eine physiotherapeutische Behandlung ist bei Spastik immer geboten. Medikamentös kann oral beispielsweise mit Baclofen oder Tizanidin behandelt werden. Umschriebene spastische Tonuserhöhungen können auch mit Injektionen von Botulinumtoxin behandelt werden. Eine weitere Option besteht in der Gabe von Baclofen oder Triamcinolon direkt in den Subarachnoidalraum im Bereich der Lendenwirbelsäule (intrathekale Applikation).[80]
Schmerzbehandlung
Schmerzen können bei MS-Patienten vielfältige Ursachen haben. Die direkt durch Entzündungsherde verursachte Trigeminusneuralgie, die anfallsweise auftritt, kann medikamentös mit Carbamazepin, Gabapentin oder Pregabalin behandelt werden. Auch chronische Schmerzen meist der Extremitäten, die vermutlich durch Herde im Rückenmark entstehen, werden durch die MS selbst verursacht und können beispielsweise mit Amitriptylin behandelt werden. Schmerzen können auch indirekt durch Folgen der MS wie eine spastische Tonuserhöhung der Extremitäten oder Harnwegsinfekte verursacht sein. Die Therapie richtet sich in diesen Fällen nach der jeweiligen Ursache.[81]
Behandlung von Blasenfunktionsstörungen
Blasenfunktionsstörungen manifestieren sich in Harnwegsinfekten, imperativem Harndrang, Pollakisurie und Inkontinenz. Den Störungen zugrundeliegen kann eine Speicherstörung, Entleerungsstörung oder eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie der Harnblase. Nach spezifischer urologischer Diagnostik kann eine entsprechende Therapie mit einer Einteilung der Flüssigkeitszufuhr, Beckenbodengymnastik, Katheterisierung und Medikamenten erfolgen. Harnwegsinfekte müssen antibiotisch behandelt werden. Exsikkosen, die dadurch entstehen, dass die Patienten weniger trinken, um die Blasenstörungen zu minimieren, müssen vermieden werden.[82]
Behandlung von Sprech- und Schluckstörungen
Sprech- und Schluckstörungen können zu einer erheblichen Belastung der Patienten führen. Akut im Rahmen eines Schubes entstandene Störungen werden mittels der Schubtherapie behandelt. Bleiben die Beschwerden bestehen, kommen hauptsächlich logopädische Maßnahmen zum Einsatz. Bei ausgeprägten Schluckstörungen können auch eine parenterale Ernährung und die Anlage einer PEG notwendig werden. Ziele hierbei sind eine ausreichende Nahrungszufuhr und das Vermeiden von Aspirationspneumonien.[83]
Behandlung des Fatigue-Syndroms und depressiver Störungen
Die Diagnosekriterien einer Fatigue-Symptomatik und einer Depression enthalten ähnliche Elemente. Bei vielen Patienten liegt beides vor. Eine depressive Störung kann medikamentös mit Antidepressiva beispielsweise aus der Gruppe der sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer behandelt werden. Eine psychologische Betreuung kann auch mit dazu beitragen, sekundär aufgetretene depressive Störungen zu behandeln und Krankheitsfolgen besser zu bewältigen.[84] Zur medikamentösen Behandlung des Fatigue-Syndroms können neben Antidepressiva auch Amantadin, Acetyl-L-Carnitin[85], Acetylsalicylsäure[86] und Modafinil[87] eingesetzt werden. Die Wirksamkeit einiger dieser Präparate für diese Indikation ist jedoch nicht unumstritten.[88][89]
Behandlung von Störungen der Sexualität
50–90 % der MS-Patienten geben im Verlauf Störungen der Sexualität an, wobei Männer häufiger betroffen zu sein scheinen.[90][91] Entzündliche Herde können unmittelbar organische Ursache der Störungen sein, indem sie zu Gefühlsstörungen im Genitalbereich führen oder Reflexbögen der Sexualfunktionen (beispielsweise für die Erektion) beeinträchtigen. Auch eine in der Folge der MS eingetretene Spastik der Oberschenkelmuskulatur der Beine oder der Muskulatur des Beckenbodens kann den Geschlechtsverkehr erschweren oder unmöglich machen. Eine verminderte Lubrikation kann zu Schmerzen beim Verkehr führen. Weiterhin können alle Einflüsse, die den Patienten aufgrund seiner Erkrankung in seinem sozialen, psychischen und existenziellen Gefüge betreffen, zu Störungen der Sexualität führen. So kann eine Fatigue oder eine depressive Episode mit einem Libidoverlust einhergehen. Soziale Konflikte, Isolierung und Scham können ebenso die Sexualität beeinträchtigen. Ziel der therapeutischen Sexualberatung ist es, den Patienten (und seinen Partner) über mögliche Gründe der Störungen aufzuklären und mögliche Lösungen im Gespräch zu entwickeln und aufzuzeigen. Organische Ursachen können durch eine Optimierung der entsprechenden symptomatischen Therapie behandelt werden. Erektionsstörungen können – sofern sie nicht hauptsächlich psychischer Genese sind – mit Phosphodiesterasehemmern wie Sildenafil, Tadalafil oder Vardenafil behandelt werden. Weiterhin können Hilfsmittel wie Gleitmittel bei geringer Lubrikation und Vibratoren zur sexuellen Stimulation benutzt werden. Ebenso ist zu bedenken, dass viele Medikamente, die im Rahmen der symptomatischen Therapie eingesetzt werden, zu Libidoverlust und sexuellen Funktionsstörungen führen können.[92][93]
Ernährung
Eine Meta-Analyse ergab keinen Hinweis auf einen wesentlichen Effekt verschiedener Ernährungsformen auf den Krankheitsverlauf.[94] Gleichwohl kann nach Auffassung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) eine geeignete Ernährung zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen.[95] Empfohlen wird eine ausgewogene, fettarme, ballaststoff- und vitaminreiche Ernährung bei ausreichender Kalorienzufuhr; Übergewicht sollte vermieden werden. Von einseitigen Diäten wird abgeraten.
Therapien außerhalb der evidenzbasierten Medizin
Viele MS-Patienten nehmen neben oder anstelle der evidenzbasiert-medizinischen Therapie komplementär- oder alternativmedizinische Behandlungen in Anspruch.[96][97] Der Gebrauch unkonventioneller Therapien ist häufiger bei Patienten anzutreffen, die stärker durch die MS eingeschränkt sind. Es besteht eine sehr große Zahl von Angeboten (wie beispielsweise spezielle Diäten, Akupunktur, Homöopathie). Für keine der unkonventionellen Therapieangebote ist ein belastbarer Wirksamkeitsbeleg erbracht worden.[98]
Ausblick
→ Hauptartikel: Liste von Multiple-Sklerose-Wirkstoffen in der Erprobung
Neben den für die Behandlung der Multiplen Sklerose in Deutschland zugelassenen Medikamenten (drei Beta-Interferone, Glatirameracetat, Mitoxantron, Azathioprin und Natalizumab) gibt es eine Vielzahl von Wirkstoffen, die sich in verschiedenen Phasen der Prüfung befinden. In Deutschland werden derzeit für mindestens 18 laufende klinische Studien Patienten rekrutiert.[99]
Einen wichtigen Schwerpunkt der klinischen Forschung stellt die Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Wirkstoffen dar, die ein Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden. Andere Studien zielen darauf ab, den Anwendungskomfort durch längere Anwendungsintervalle oder eine orale Verabreichung zu erhöhen.[100][101][102] Der Stellenwert aggressiverer Behandlungsformen, die darauf abzielen, das gestörte Immunsystem zu eliminieren, um dann (durch entweder im Knochenmark verbliebene Stammzellen oder durch Reinfusion autologer Stammzellen) ein neues, tolerantes Immunsystem zu etablieren, bleibt im Rahmen randomisierter klinischer Studien zu klären [103][104], wird aber sicherlich wenigen spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben. Einen noch experimentellen Ansatz stellen Versuche dar, durch den Einsatz von Wachstumsfaktoren [105] oder eine Modulation von Stammzellen [106] Remyelinisierung und Regeneration zu fördern[107].
Prognose
Bislang ist es zu Beginn der Erkrankung kaum möglich, eine Prognose über den weiteren Verlauf zu stellen, was die betroffenen Patienten belastet. In den letzten Jahren wurden einige epidemiologische Studien zur Prognose der Multiplen Sklerose veröffentlicht. Die Ergebnisse waren überwiegend positiv und zeigten, dass die Erkrankung nicht selten weniger schwer als allgemein angenommen verläuft.[108] Basierend auf den Krankheitsverläufen von 1059 Patienten, ist von einer Münchener Arbeitsgruppe ein Web-basiertes Computerprogramm zur Bestimmung des individuellen Risikoprofils anhand von Krankheitsverlauf, EDSS- (Expanded Disability Status Scale)-Status, Erkrankungsdauer, Schubfrequenz und Alter entwickelt worden.[109]
Quellen und weiterführende Informationen
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- ↑ Pittock et al.: Change in MS-related disability in a population-based cohort: a 10-year follow-up study. Neurology. 2004; 62:51–9. PMID 14718697
- ↑ Daumer et al.: Prognosis of the individual course of disease--steps in developing a decision support tool for Multiple Sclerosis. BMC Med Inform Decis Mak. 2007;7:11 PMID 17488517 Volltext; dort vorgestelltes Web-basiertes Programm zur Bestimmung des Risikoprofils
Weblinks
Dachorganisationen
- MS International Federation
- Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft
- Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft
- MS Gesellschaft Wien
Weiterführende Informationen
Leitlinien und Grundsätze
- Leitlinie Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bei AWMF online (Stand 10/2004)
- Grundsätze zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Multipler Sklerose (Deutschsprachige Publikation der Multiple Sclerosis International Federation)
Meldungen aus der Forschung
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