Erkenntnistheoretisch

Erkenntnistheoretisch
Bild dessen, was ich sehe. Welche Teile dieses Bildes gehören zu „mir“, welche zur „Außenwelt“, wie leiste ich die Zuordnung? Abbildung aus Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen (1900), S. 15.

Die Erkenntnistheorie oder Epistemologie ist neben u. a. der Ethik, der Logik und der Ontologie eine der zentralen Disziplinen der Philosophie. Während die Ontologie nach den fundamentalen Strukturen der Realität fragt und die Ethik, wie wir handeln sollen, fragt die Erkenntnistheorie, wie wir davon wissen können. Dabei können sich Erkenntnistheorien auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche beziehen, etwa auf Wissen im Bereich der Naturwissenschaften, der Metaphysik oder der Moral. Die Erkenntnistheorie befasst sich in diesen Bereichen mit Fragen wie: welche Erkenntnisse können als verlässlich oder wahr bezeichnet werden? Welche Kriterien können dazu herangezogen werden? Wie kommen wahre und gerechtfertigte Meinungen zustande, wie werden sie als solche erkennbar? Wie sind die zentralen Begriffe der Erkenntnistheorie, wie etwa Wissen oder Gewissheit, zu analysieren? Welche äußeren Bedingungen sorgen dafür, dass bestimmte Überzeugungen als gültig oder wahr in Betracht kommen?

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Status als Wissenschaft

Das deutsche Wort wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlicher, als sich ein praxisorientierter untheoretischer Umgang mit Erkenntnis in den Naturwissenschaften vom philosophischen theoretischen abspaltete. Die Auseinandersetzung mit Immanuel Kant (namentlich die Arbeiten Wilhelm Traugott Krugs und Christian Ernst Reinholds) hatte den Begriff dabei Anfang des 19. Jahrhunderts vorformuliert. Das Wort „Epistemologie“ (von griechisch ἐπιστήμη, epistéme - Erkenntnis, Wissen, Wissenschaft + λόγος, lógos - auch Wissenschaft, Lehre) kam mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts im Englischen und Französischen in Mode und bleibt im Deutschen zumeist mit den moderneren ausländischen Theorieschulen verbunden. Anders als bei den Begriffen „Kunst“ und „Literatur“ wurde mit dem der „Erkenntnistheorie“ kein gänzlich neuer Bereich geschaffen, d. h. es wurden nicht etwa Texte zusammengestellt, die bis dahin nicht in einem entsprechenden Zusammenhang standen. Philosophen wie John Locke und David Hume hatten im 17. und 18. Jahrhundert über das „Human Understanding“ (die menschliche Erkenntnis) ihre Grundlagenwerke geschrieben und sich dabei bereits in einer in die antike Philosophie zurückreichenden Tradition gesehen.

Eine fachübergreifende Debatte

Die Erkenntnistheorie greift in ihren Diskussionen in Wissenschaften, Rechtsbegründungen, religiöses Denken und die Legitimation staatlicher Verfassungen ein. Darin liegt ein kritisches Potential: Oft bietet sie, da sie Verlagerungen ins Abstrakte, Grundsätzliche und Theoretische erlaubt, Diskussionen Raum, die in den zur Debatte stehenden Bereichen nicht so frei geführt werden können: Diskussionen, in denen kritisch gefragt werden kann, mit welcher Gewissheit Religionen, Politik und Wissenschaften zu ihren „Erkenntnissen“ kommen und sie verbreiten. Sie kann jedoch genauso gut auch neue Begründungen stützen und Systeme unterstützen, deren Grundlagen kritisiert wurden, etwa insofern sie die dabei beanspruchten Erkenntnisse für unfundiert, die dabei verwendeten Argumentationsformen für nicht rational rechtfertigbar erklärt. Als Methode verspricht sie Wissenschaftlichkeit, Unparteilichkeit, Argumentationsformen, die allen vernünftig Nachdenkenden nachvollziehbar sein sollen und Bereitschaft, sich beliebigen Gegenargumenten zu stellen. Solange es Einsprüche gibt, mahnt sie, sich mit der Formulierung abschließender Erkenntnissen zurückzuhalten. Darin liegt eine Selbstbeschränkung des Urteils, welche wahre und gerechtfertigte Erkenntnisse vom bloßen Meinen abgrenzt.

Zentrale Probleme erkenntnistheoretischer Untersuchungen können im Kern als unlösbar und dabei sehr einfach und grundlegend verstanden werden. Man spricht bezüglich der Ausweglosigkeit der Problemlösungen zuweilen auch von Aporien. Eine Reihe von Gedankenspielen ziehen sich mit ihnen durch die Philosophiegeschichte: Können wir zweifelsfrei feststellen, ob wir träumen oder wachen? Lässt sich „mein“ Bild der Außenwelt von dieser selbst sicher unterscheiden, und wenn ja, wie genau? Inwiefern ist „mein“ Bild meines, inwiefern geprägt durch von anderen Übernommenes, etwa durch die Sprache und deren Kategorien?

Auch ethische Probleme fallen in den Gegenstandsbereich der Erkenntnistheorie. Kann etwa der Satz „Du sollst nicht töten“ auf ähnliche Weise als wahr erkannt werden wie Aussagen über Gegenstände? Falls Wahrheit Übereinstimmung von "Bild" und "Realität" ist, womit stimmt dann ein solcher ethischer Satz überein?

Grundlegende Fragen kommen in bewusstseinsphilosophischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Diskussionen hinzu: Woher weiß ich, dass ein anderer Mensch ein Bewusstsein hat? Wie kann ich die Gedanken, Schmerzen und Emotionen eines anderen Menschen kennen? Gibt es außerhalb des sinnlich Wahrnehmbaren noch andere Gegenstände und Sachverhalte, etwa Transzendenz bzw. ein Göttliches? Wenn ja, inwiefern kann man darüber Erkenntnis besitzen und bewerten, inwiefern kann man überhaupt sinnvoll darüber sprechen?

Das eingegrenzte Sprachspiel

Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zum wiederholten Male: „Ich weiß, dass das ein Baum ist“, wobei er auf einen Baum in der Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: „Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.“ [1]

Wittgensteins letzte Reflexionen über das Thema „Gewissheit“ (postum veröffentlicht 1969) boten eine dritte Wendung des erkenntnistheoretischen Projektes, das den Autor seit Anfang des Jahrhunderts beschäftigte. Mit dem Tractatus hatte er 1922 maßgeblich den „linguistic turn“ des Faches bestimmt, mit den Philosophischen Untersuchungen 1936-1946 (postum veröffentlicht 1953) hatte er sich vom Projekt der Abbildung der Welt mittels Sachverhaltsaussagen und Aussagenlogik wegbewegt zu einem weitaus umfassenderen Nachdenken über das Funktionieren von Sprache. Mit Über Gewissheit fragte er nach dem Bereich im Leben, in dem die Probleme der Erkenntnistheorie überhaupt interessant werden – das war eine ganz andere Eingrenzung des Projekts, als sie die Kollegen in der Philosophie bislang suchten, wenn sie vermuteten, die Grenzen ihres Faches lägen dort, wo sie etwas nicht mehr sicher wissen könnten.

Wittgensteins Verweis darauf, dass die Grenzen der Erkenntnistheorie schlicht dort lagen, wo ein anderes (etwa das alltägliche) Nachdenken mit denselben Problemen umging, war ein Affront gegen die Philosophie. Die Erkenntnistheorie erörterte demnach gar nicht „viel tiefgreifender“ die Fragen, die jeden denkenden Menschen beschäftigen müssen. Das war nur eine ihrer Behauptungen. Sie war eher eine Art Spiel nach speziellen Regeln in einem kleinen Teilnehmerkreis – ein sehr spezielles „Sprachspiel“ – und das, obwohl ihre Fragen essentiell und einfach sind wie eben jene, ob es Bäume auch außerhalb unserer Wahrnehmung gibt.

Erkenntnistheoretiker interessieren sich mit Vorliebe für Fragen, die nach kurzer Erwägung als unlösbare im Raum stehen. Sie interessiert dabei kein bestimmter Zweifel, sondern derjenige von möglichst großer Tragweite:

Es käme mir lächerlich vor, die Existenz Napoleons bezweifeln zu wollen; aber wenn Einer die Existenz der Erde vor 150 Jahren bezweifelte, wäre ich vielleicht eher bereit aufzuhorchen, denn nun bezweifelt er unser gesamtes System der Evidenz. Es kommt mir vor, als sei das System sicherer als eine Sicherheit in ihm. [2]

Wir lernen, im Alltag diesen besonderen, prinzipiell unlösbaren Fragen keine weitere Bedeutung beizumessen − „wer bei Verstand ist, kann zwischen Traum und Realität unterscheiden“, Sätze wie dieser haben Gültigkeit, obwohl keinem Philosophen eine eindeutige Unterscheidung samt unbestreitbarem Nachweisverfahren gelang. Die eigentliche Frage ist, warum diese besonderen Probleme im selben Moment in der Philosophie als bislang ungelöste in der Diskussion behalten werden.

Die beliebig brisante Debatte

Jacques-Louis Davids Der Tod des Sokrates (1787)

Erkenntnistheoretische Debatten gewinnen gesellschaftliche Brisanz, da sie mit wenigen Fragen die Begründung ganzer Systeme erschüttern können – und sie erweisen sich manchmal als nicht ungefährlich. Die Geschichte des Todesurteils, das Sokrates 399 v. Chr. akzeptierte, gehört zu ihren Gründungsmythen. Dieser hatte eine Schule gegründet, die grundlegende, und prinzipiell jegliche Gewissheiten auf ihre begründete Geltung befragte. Zu den Vorwürfen, die letztlich zu seinem Tod führten, gehörten vermutlich Jugendgefährdung und Gottlosigkeit.[3]

Sprengkraft entfalteten erkenntnistheoretische Ansätze wiederholt dort, wo Institutionen sich auf „Gewissheiten“ gründeten. Totalitäre Regime versuchten ihr Grenzen zu setzen, die kirchliche Inquisition observierte philosophische Seminare bis weit in die Neuzeit hinein. In festgefahrenen naturwissenschaftlichen Debatten boten einige Ansätze der Erkenntnistheorie dagegen mehrfach gangbare Auswege an. Dazu gehörten etwa Vorschläge, wissenschaftliche Theorien nur danach zu wählen, wie gut sie sich als Arbeitsgrundlage eignen (sogenannter Operationalismus). Das ermöglicht, mit Theorien zu arbeiten, die nach klassischeren erkenntnistheoretischen Positionen verworfen würden, weil sie deren Kriterien zufolge als unsicherer erscheinen. Der Befund war ein ums andere Mal, dass Theorien, die alltäglichen Annahmen widersprachen und praktisch nur als Rechenmodelle taugten, sich als die langfristig tragfähigeren erwiesen.

Die Erkenntnistheorie scheint demnach in sehr verschiedene Wissensgebiete ausgreifende, Sicherheiten untergrabende, in jedem Falle kritische, „aufklärerische“ Debatten zu entfalten. Allerdings begründeten erkenntnistheoretische Positionen wohl ebenso oft Sicherheiten, wie sie sie zerstörten. Diktaturen wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus setzten unterschiedlichsten philosophischen Schulen Grenzen, doch beriefen gerade sie sich auf Behauptungen, die ebenfalls bestimmte erkenntnistheoretische Hintergrundtheorien voraussetzen. Eine Erkenntnistheorie, die uns über die „überlegene Rasse“ nachdenken lässt oder den „notwendigen Gang der Geschichte“, scheint faktisch ihre eigene Plausibilität mit jedem Argument, das sie begründet, zu bestärken. Zwar ist, wie viele Philosophen einwenden würden, die Frage nach der faktischen Geltung einer Theorie zu unterscheiden von der Frage danach, ob diese Geltung selbst nochmals rational zu rechtfertigen ist. Andere Philosophen versuchen aber zu zeigen, dass im Rahmen konkreter sozialer und wissenssoziologischer Kontexte beide Fragen schwer zu trennen sind. Trotzdem können erkenntnistheoretische Ansprüche Brüche mit gewachsenen Vorstellungen der Religion und der Moral stützen und es erlauben, traditierte Sicherheiten als blanken Aberglauben zu bewerten.

Eine Wissenschaft

Die Erkenntnistheorie hat sich, wie auch die Begriffsgeschichte zeigt, erst spät zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin spezialisiert. Gleichwohl waren erkenntnistheoretische Debatten stets stark spezialisiert. Von dem Teilnehmer an erkenntnistheoretischen Debatten ist sowohl eine Kenntnis der jeweiligen Spezialterminologie verlangt, als auch, dass er sich halbwegs der Argumente und Positionen bewusst ist, die in den letzten dreitausend Jahren durchgespielt wurden.

Mehrere Entwicklungen kennzeichnen im Rückblick die Geschichte der erkenntnistheoretischen Debatten in Europa:

  • Frühe christliche Theologen integrierten erkenntnistheoretische Argumente und Positionen, die sie von antiken Philosophen übernahmen, in ihre theologischen und philosophischen Diskussionen. Zusammen mit im frühen Mittelalter unter griechischen, arabischen und jüdischen Philosophen geführten Diskussionen laufen diese Traditionslinien im Westen zusammen, wenn die lateinische Philosophie sich im System universitärer Wissenschaften beheimatet und eine vielfältige, aber bald schulförmig methodisch vereinheitlichte Diskussionskultur entfaltet (Scholastik). Die in diesem Kontext entwickelten Ansätze prägen noch heute weite Teile der Erkenntnistheorie. Auch in institutioneller Hinsicht zielt die sich hier entwickelnde Autonomie der Philosophie auf ein universelles Erkenntnisprojekt, das bis heute in den Wissenschaften fortbesteht.
  • Auch theologische Debatten werden phasenweise besonders im Bereich erkenntnistheoretischer Fragen diskutiert. Religiöse Wahrheitsansprüche werden dabei oftmals mit erkenntnistheoretischen Argumenten in Frage gestellt (beispielsweise mit Lessings Kritik an einer rational rechtfertigbaren letzten Gewissheit bezüglich historischer Wahrheiten). Im späten 18. Jahrhundert verlieren Offenbarungsreligionen in großen Teilen Europas ihre allgemeine Autorität; die Theologie ist vielfach weder zentrale Diskussionsplattform, noch ist sie mehr in der Lage, philosophische Debatten zu kontrollieren. Stattdessen begründet die Philosophie im 18. und 19. Jahrhundert Rechts- und Staatssysteme. Erst mit einiger Verspätung nehmen Theologen Herausforderungen an, wie sie etwa mit Kant gegeben waren.
  • Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mischten sich Mathematiker und Naturwissenschaftler mit großem Einfluss in die erkenntnistheoretische Debatte. In eigenen theoretischen Diskussionen verabschiedeten sie sich u. a. von der These einer materiellen dreidimensionalen Welt, um stattdessen mit neuen Modellannahmen zu arbeiten. Ebenso gab es bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Logik.

Die Geschichte der Erkenntnistheorie zeigt die Entwicklung der vielen historischen Positionen und Argumente und welche Debattenverlagerungen mit ihren einzelnen Argumentationsschüben stattfanden. Verschiebungen der Grundlagen des Wissens gehen oftmals einher mit Verschiebungen erkenntnistheoretischer Hintergrundtheorien.

Viele Probleme und Argumente der Erkenntnistheorie erscheinen Außenstehenden auf den ersten Blick abstrus oder vorurteilsbehaftet. Sie erweisen sich aber als intelligente Denkangebote, sobald man sie in den historischen Debatten verortet. Hier wird der nachfolgende Artikel nur in wichtigen Fällen in Details gehen können.

Ein Diskurs der politisch pluralistischen Stadtstaaten: Erkenntnistheorie in der Antike

(Siehe eingehender den Artikel Philosophie der Antike).

Der Kulturraum der Antike – der Raum der Staaten rund um das Mittelmeer – war entschieden pluralistischer als der abendländische, der aus ihm in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten hervorging. Er ließ gerade im Pluralismus, den er mit eigener Streitkultur verteidigte, die Erkenntnistheorie ein weitgehend unbrisantes Feld bleiben. Sprengkraft gewann das philosophische Projekt erst, als es mit dem Christentum und dem Islam zum Gegenstand eines Geschlossenheit und universelle Bedeutung anstrebenden theologischen Systems wurde.

Die letzten Reiche des antiken Mittelmeerraums entstanden aus Stadtstaaten. Es gab religiöse Kulte von überregionaler Ausstrahlung. Andere Kulte breiteten sich mit dem Sklavenhandel aus und gelangten in Subkulturen aus Kleinasien bis nach Rom. Die Stadtstaaten hatten fest gefügte, jedoch fast durchweg pluralistische religiöse Ausrichtungen, die es nicht ausschlossen, dass Individuen neben Festen des Gemeinwesens auch noch andere Riten zelebrierten.

Die westlich abendländische Philosophie ging im Wesentlichen von den Stadtstaaten Griechenlands aus, von deren Kolonien in Italien und dann von Rom. Die Organisationsform der Akademien ist bezeichnend. Es gab in diesen speziellen Stadtstaaten eine Nachfrage nach rhetorischer Unterweisung und, ihr antwortend, Angebote von Schulen mit Lehrmeistern, die den argumentativen Wettstreit als Kunst ausübten. Die Politik Athens und Roms fand in öffentlichen Arenen statt. Die politische Elite trainierte für sie und benötigte für sie Begründungsoptionen, die selbst auf einem Marktplatz noch den Zuhörern einleuchten würden. An den miteinander konkurrierenden Akademien wurden unterschiedliche Theoreme verteidigt und Antworten auf gegnerische gesucht. Die Debatten blieben bezeichnend mit einer ethischen Überzeugungskunst verbunden. Die Antike baute – in der größeren Perspektive formuliert – kein System von Universitäten auf, in dem sich Wissen im fortwährenden grenzüberschreitenden Abgleich befunden hätte, obwohl sie technologisch dem frühen Mittelalter überlegen war. Es gab Naturwissenschaft, doch keine weltweit verbundene Forschung, die sich über neueste Befunde austauschte. Es gab Philosophie, aber nicht den größeren Rahmen, mit dem sie zum flächendeckenden Projekt institutionalisierter Welterkenntnis gedeihen konnte. Roms berühmteste Philosophen waren am Ende bezeichnenderweise allesamt keine Erkenntnistheoretiker, sondern Moralisten, Staatsmänner und Rhetoriker. Roms technologischer Fortschritt lag in einem handwerklichen Ingenieurwesen, nicht in einer brisanten Verquickung von Erkenntnistheorie, Grundlagenforschung und zentral vertretener Weltsicht.

Platon (427–347 v. Chr.)

Die beiden Philosophen der Antike, die das erkenntnistheoretische Nachdenken einige Jahrhunderte später nachhaltig prägten, sind Platon und Aristoteles. Mit Platons Wiedergabe der Gespräche, die sein Lehrer Sokrates führte, wurde der fundamentale Zweifel als Ausgangslage der Diskussion Methode: Sokrates behauptete zwar, sich letztlich nur seines Nichtwissens gewiss zu sein – seine Dialoge verleiteten die Diskussionspartner aber zum Ausbau von Systemen, in denen sich am Ende die Widersprüche derart eklatant häuften, dass es klüger erschien, von einer ganz anderen Welt auszugehen: Im Alltag gingen wir mit sinnlicher Erfahrung um. Tatsächlich jedoch läge eine viel wahrere Welt hinter dieser, eine Welt vernünftiger und stabiler „Ideen“. Was ein Mensch sei, darüber könne man grundsätzlich nachdenken und eine von allen Menschen, die wir kennen, unabhängige Antwort finden. Einem neuen Menschen, dem wir begegneten, begegneten wir letztlich unter der größeren, wenn nicht göttlichen Idee vom Menschen. Sie erst ermögliche es uns, zu sagen, dass der, der uns da neu gegenübertritt, ebenfalls ein Mensch ist.

In der Realität bot das Nachdenken über unsere Ideen tatsächlich die größte Chance, über die Welt sinnvoll nachzudenken: Ist unsere Idee davon, was ein Mensch ist, ein Durchschnitt der „normalen Menschen“ alltäglicher Erfahrung? Wohl kaum, denn wir werden niemandem aberkennen, ein Mensch zu sein, wenn ihm Qualitäten des Durchschnitts fehlen. Ja wir hantieren kaum mit einem Durchschnitt in unserem Denken, sondern viel eher mit einem Ideal, etwas Vollkommenem, dem gegenüber alle Menschen, die wir treffen, eher unvollkommen sind. Die Debatte ist bis heute aktuell, da wir mit unseren Menschenrechten auch ungeborenes Leben oder Patienten im Koma schützen, Menschen, denen jeder menschlich anmutende Körper und möglicherweise jedes menschliche Bewusstsein fehlt. Wir richten unsere Gesetze nicht auf konkrete Menschen aus, sondern begründen sie in einer von Ideen getragenen Diskussion – in einer Diskussion, in der es Ideale vom Menschen, vom Recht wie vom Leben gibt. Es galt diese Ideale als den eigentlichen Gegenstand unserer Erkenntnis auszumachen und sie damit dem weiteren politischen und ethischen Argument zugänglich zu machen. Und es musste als Skandalon erscheinen, dass Athen ausgerechnet den Menschen als Ungläubigen hinrichtete, der zu ganz anderen Gewissheiten hinter den Dingen vorstieß.

Aristoteles (384–322 v. Chr.)

In der aristotelischen Philosophie sollte Zweifeln eine weit geringere Bedeutung gewinnen. Aristoteles ordnete Wissen und drang auf dessen systematische Vermehrung. Physik und Metaphysik wurden die Bereiche der (naturwissenschaftlichen) Welterkenntnis. Aristoteles schrieb dezidiert über Ethik, Politik, den Bereich menschlicher Erfindungen von Welten (die Poetik) und die Logik – wobei er statt der platonischen Dialoge weitblickend konzipierte Übersichtswerke vorlegte. Vorstellungen von Idealen beschäftigten ihn wie die Platoniker, wenn er etwa in der Kugel den vollkommenen Körper definierte und vom idealen Körper auf die Gestalt der Materie im Kleinen wie im Großen schloss. Seine Schriften systematisierten und schufen im selben Moment Vorstellungen davon, wie Dinge dort gestaltet sein mussten, wo man (wie in den Mikro- und Makrokosmos) nicht mehr mit Anschauung hinkam, respektive dort zu gestalten waren, wo wir Kunstwerke schüfen.

Platon entfaltete den größten Einfluss auf die Frühgeschichte des Christentums. Aristoteles entfaltete einen weit größeren in den Systembildungen, zu denen das Christentum wie der Islam im Versuch, universelle Philosophien aufzubauen, schließlich ausschritten.

Erkenntnistheorie in der christlichen Spätantike

Das Christentum bedeutete philosophiegeschichtlich und erkenntnistheoretisch eine Revolution. Weniger seine Glaubenssätze machten sie aus, als der Universalitätsanspruch, der mit ihm aufkam.

Der Monotheismus des Judentums war die Religion des auserwählten Volks gewesen, eines Volks, das sich entschied, allein einem Gott zu huldigen, von dem es im Gegenzug besonderen Schutz genießen sollte. Das Christentum breitete sich dagegen mit der Verkündigung der göttlichen Wahrheit und der Taufe aus, zuerst unter Juden, dann auch unter „Heiden“, den Anhängern der Vielgötterei. Es erreichte, noch während die Bücher des Neuen Testaments geschrieben wurden, das antike Griechenland und bewies sich dabei als mit der griechischen Philosophie überraschend kompatibel, sobald man die idealistischen Strömungen des Platonismus einer neuen Interpretation unterzog und Gottes Bewusstsein mit dem Bereich der Ideen und der Transzendenz verband. Das Johannesevangelium wurde auf griechisch formuliert und beginnt mit einem Rückgriff auf das „Wort“ als den Beginn aller Dinge. Das konnte als Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments verstanden werden, in der Gott mit der Kraft seines Wortes die Welt schuf, das konnte genau so gut als Öffnung gegenüber der griechischen Philosophie verstanden werden, in der „Λόγος“, „Logos“, nicht nur „Wort“, sondern auch „Vernunft“ bedeutet. Mit der Anfangszeile des Johannesevangeliums, „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ war nach griechischer Philosophie der Gott des Christentums effektiv mit der Vernunft und ihrer Sprache gleichgesetzt - das war erheblich mehr als das Alte Testament vorgab. Das frühe Christentum verband sich mit einer Neuausrichtung des Platonismus und mit einem Siegeszug durch die Welt der südlichen Mittelmeer-Anrainerstaaten, deren philosophische Debatten von gnostischen Gruppierungen bestimmt wurden. AugustinusConfessiones (397/98) skizzieren im autobiographischen Rückblick die Verbindungslinien mit ihrem Autor, der der Reihe nach von den manichäistischen Diskussionsforen und dem Neuplatonismus angezogen wurde, bevor er das Christentum als Weltanschauung viel größerer Totalität entdeckte. Das Christentum gewann eine dualistische Erkenntnistheorie: einen Kosmos, in dem es nicht nur Gottes Ideen und die Welt gab, den „Λόγος“, das Urfeuer der Vernunft, sondern nicht minder einen Bereich der Dunkelheit, der Materie als wirkenden Gegenpol. Der Weltenlauf als Kampf zwischen dem göttlichen Urfeuer und einer Verunreinigung durch die Materie gelangte aus dem Manichäismus in das Christentum. Auslegungen des Alten und Neuen Testaments schufen die Anknüpfungspunkte. Gingen die Gnostiker von einem Weltlauf der Klärung aus, so konnte die christliche Philosophie hieraus ein Programm historischer Heilserwartung und ein Erkenntnisprojekt formulieren.

Neben dem Gott des Christentums konnte es keine anderen Götter geben. Letztlich konnte es so wenig gegenüber der Lehre des Christentums noch andere Philosophien geben. Eine Abkehr von antiken Wissensbeständen war die Folge. Die antike Bibliothekslandschaft dünnte aus, Bücher der Antike wurden im privaten wie im öffentlichen, nun von Klöstern beherrschten, Bildungsbereich mit dem zeitlichen Abstand und der ihnen entgehenden weiteren Erforschung unlesbar; gezielte Büchervernichtungen, wie sie in Verfolgungen von „Zauberbüchern“ kulmierterten, schufen zudem eine wachsende Distanz vom antiken Bildungsgut (siehe hierzu den eingehenderen Artikel Bücherverluste in der Spätantike).

Das Christentum selbst spaltete sich und entwickelte seine eigene Geschichte an Schismen und Ketzerbewegungen, Konzilen und Kanonisierungen verbindlicher Texte und Dogmen. Zwischen den Strömungen blieb bis zum Moment jeweiliger Spaltung im argumentativen Wettstreit zu vermitteln. Die Auslegung einzelner Bibelpassagen zog dabei eine komplexe Argumentationskunst auf sich, die bis in die Auseinandersetzungen zwischen den drei Konfessionen der Nachreformationszeit – bis weit in das 18. Jahrhundert hinein – fortbestehen sollte. Die Erkenntnistheorie gewann in diesem Interessenfeld ganz neue und, was das Bedrohungspotential für konkurrierende Gruppen anbetrifft, weitaus größere Bedeutung als sie in der Antike hatte.

Teilgebiet der Theologie: Erkenntnistheorie im Mittelalter

(Siehe eingehender den Artikel Philosophie des Mittelalters.)

Die Septem artes liberales aus Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg (um 1180)

Der Kulturraum, der mit dem Beginn des Mittelalters unter eine einheitliche Weltanschauung geriet, kannte in seiner Größe keinen Vorgänger. Er benötigte eine komplexe hierarchische Infrastruktur theologischer Gelehrsamkeit, um von Skandinavien bis Nordafrika reichen zu können – in der Hierarchie der katholischen Kirche fand er sie. Er benötigte im selben Moment ein Ausbildungssystem, das gleiche Standards der Lehre an allen Orten Europas gewährleistete. Im Aufbau der monastischen Orden, der Klöster und der Domschulen, ab dem Hochmittelalter auch der Universitäten entstand diese kulturtragende Infrastruktur. Man sieht das Mittelalter oft als Phase der Barbarei und des Kulturverfalls. Überlegenheit der Organisation sollte man ihm gegenüber dem Modell der antiken Staaten bescheinigen. Die zentrale religiöse Macht der katholischen Kirche legitimierte Herrschaft in ihrem ganzen Ausstrahlungsbereich – Herrschaft, die nicht von Stadtstaaten ausging, sondern von Regenten, die Territorien mit Hilfe der flexiblen Infrastruktur des Gefolgschaftswesens einigten und eine ganz neue flächendeckende Herrschaft einführten – eine der Privilegien, denen Stadtgründungen folgten und mit ihnen der Aufbau der Universitäten, in deren Lehrplan Philosophie am Ende zum Grundstudium wurde. Was für die römische Kirche zu beobachten ist, ist auch für den Einflussbereich der Ostkirche zu konstatieren wie für den Ausbreitungsbereich des Islam.

Mit dem expansiven Monotheismus des Christentums und des Islam entstand eine flächendeckende Infrastruktur der Auseinandersetzung mit Wissen unter dem Dach eines einheitlichen weltanschaulichen Modells. Die Einheitlichkeit selbst war dabei vor allem eine spannende Fiktion: Nach ihr wurde in theologisch-philosophischen Seminaren mit einer Anstrengung gesucht, die einen wachsenden Pluralismus der Optionen hervorbrachte. Das Gebiet der Erkenntnistheorie stärkte dabei, in seiner Verfassung als allein von Vernunft bestimmtes Forschungsfeld, die Hoffnung auf eine übergreifende Verständigung über Wahrheit. Das Mittelalter wurde in Nordeuropa wie im arabischen Raum die hohe Zeit der Integration antiker Philosophie in das neuzeitliche, Geschlossenheit, Universalität anvisierende Denken. Aristoteles wurde kommentiert und zum Kern der philosophischen Auseinandersetzung.

Apologeten der „Aufklärung“ sollten hier Jahrhunderte später den Untergang und das Verderben der Antike beklagen und abschätzig das Wort „Mittelalter“ in Anschlag bringen. Das Gegenteil wird aus Sicht der unter diesem Begriff zusammengefassten Zeit zu sagen sein: Das Projekt einer universellen, Glauben und Wissen vereinenden, theologisch fundierten Philosophie konnte und kann als Gipfelpunkt einer ganz eigenen Aufklärung betrachtet werden, in der an Kathedralen des Nachdenkens wie an Denkgebäuden maximaler Größe und gleichzeitig maximaler Integration aller Details gearbeitet wurde. Eine eigene Ästhetik durchdrang die Philosophie des Mittelalters. „Subtilität“, nur noch nach langem Studium beherrschbare Feinheit und Komplexität des Arguments, bestach mit den Arbeiten Thomas von Aquins (1225-1274), Duns Scotus’ (1266-1308), Wilhelm von Ockhams (1285-1349) oder Nicolaus Cusanus’ (1401-1464). Die Philosophie der Neuzeit übernahm hier letztlich zentrale Zielvorgaben des Nachdenkens: Die Theorie eines einheitlichen weltumspannenden an Universitäten gelehrten, von Wissenschaften produzierten Wissens, die Suche nach einer letzten „Weltformel“ sind weniger das Erbe der Antike als des Mittelalters mit seinem eigenen Streben nach Vielfalt in der Geschlossenheit eines viel größeren und umfassenderen Erkenntnis-Systems, das sich weit über die engen Grenzen einer rationalen Endlichkeit hinaus orientiert hatte.

Die Verlagerung theologischer Debatten: Erkenntnistheorie in der Frühen Neuzeit

In den Vorlesungssälen der europäischen Universitäten gaben bis weit in das 18. Jahrhundert hinein theologische Debatten die erkenntnistheoretischen Fragen vor. Es ging dabei nicht primär um Gottesbeweise und vergleichbar elementare Probleme. Diskutiert wurden Bibelstellen, die verschiedene Interpretationen zuließen – mit einem Interesse an Kernthesen, die für Europas drei Konfessionen unterschiedliche Bedeutung hatten. Das wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass noch die großen politischen Konflikte des 17. Jahrhunderts, der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) und der englische Bürgerkrieg (1649–1660) unter Vorzeichen der konfessionellen Debatte stattfanden. Die „freien Niederlande“ waren bis in das frühe 18. Jahrhundert nicht so frei, dass ein Baruch Spinoza (1632–1677) hier außerhalb des Freundeskreises freier hätte sprechen können.

Unsere heutigen historischen Darstellungen der erkenntnistheoretischen Debatte pflegen das Feld im Rückblick zu lichten. Unsere Perspektive gilt vorrangig dem Aufkommen der Naturwissenschaften – sie wurden jedoch tatsächlich erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das zentrale Thema der erkenntnistheoretischen Diskussion.

Man konnte an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts keine naturwissenschaftlichen Fächer im Hauptstudium belegen. Einzelne Forschergesellschaften trugen die Experimentalphysik, die Astronomie und die Mathematik bis in das 19. Jahrhundert voran und veränderten dabei kaum die Lebensbedingungen mit ihren Arbeiten. Die wissenschaftliche Revolution begann erst im späten 18. Jahrhundert den Alltag massiver zu verändern. Unsere Überblicke gelten zweitens im Rückblick dem Frontenverlauf, der sich im späten 18. Jahrhundert zwischen einer (vor allem englischen) Strömung des Empirismus und einer (eher deutschen) des Idealismus Immanuel Kants (1724–1804) abzeichnete. Im Blick auf diesen Frontenverlauf und seine Themen wurde im späten 18. Jahrhundert nach einem Beginn der aktuellen Auseinandersetzung gesucht. Dabei kam es zur rückwirkenden Behauptung eines Bruchs der Neuzeit mit dem Mittelalter, der in heutiger Sicht quer durch das 16. Jahrhundert, das Jahrhundert der „kopernikanischen Wende“ geht und mit Giordano Bruno (1548–1600) und Galileo Galilei (1564–1642) zentrale Protagonisten hat. Der Bruch fand tatsächlich nicht statt. Das heliozentrische Weltbild setzte sich durchaus nicht schlagartig durch. Es wurde erst einmal zu einer Rechenoption. Lehrbücher des frühen 18. Jahrhunderts führten es noch selbstverständlich neben dem ptolemäischen Weltbild. Debatten scholastischer Probleme beschäftigten bis in das 18. Jahrhundert hinein. Die Kirchenhistorie wandte sich um 1700 fasziniert den Ketzerbewegungen und ihren erkenntnistheoretischen Diskussionen zu, um von hier aus neuen Pluralismus der Optionen zu beziehen (Gottfried Arnolds 1699 veröffentlichte Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie wurde Meilenstein dieser Entdeckungsreise). Die von uns um 1500 vermutete epochale Wende ergibt sich auf der rückblickenden Suche nach ersten Belegen der uns heute interessierenden Diskussion, sie deckt sich nicht mit dem, was wir bei einem Besuch von Universitäten noch um 1700 erleben würden.

Rationalismus

Der Bruch mit der Scholastik setzte im 17. Jahrhundert mit dem Rationalismus ein. Der bedeutendste Philosoph des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wurde dabei René Descartes, dem man nicht unbedingt folgen mochte, der jedoch die meisten Auseinandersetzungen einforderte. Unter den prominenten Gegenpositionen entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in England der Empirismus heraus. Fast noch wichtiger wurde der Eklektizismus, der Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts als Antwort auf die strengen Optionen Mode wurde: die Position, dass man mit Vernunft aus den konsequenten Modellen den Mittelweg des Wahrscheinlichen nehmen sollte. Der Eklektizismus wurde die Mode der eleganten, galanten Kreise, die sich der Philosophie als Teilgebiet der belles lettres zuwandten und selbst nicht publizierten, genauso wie der Universitätsdozenten, die eine eindeutige Anbindung an ein System scheuten, jedoch eben die Systeme zur Kenntnis nahmen und sie als verschiedene Denkmöglichkeiten ihren Studenten vorstellten.

René Descartes (1596–1650)

Im Lichte der Erkenntnis: eine aus lauter kleinen Kügelchen zusammengesetzte seelenlose Welt, Renati Descartes Epistolae (Londini: 1668), Bd. 1, S. 147

Macht über die Scholastik gewann der Rationalismus vor allem als eine Philosophie, die Argumentationsformen der theologischen Debatte aufnahm. Wie die Scholastiker drangen die Rationalisten auf ein Philosophieren in logischen Schlüssen, das auf Definitionen aufbaut. Der große Unterschied zu den Scholastikern bestand im Umgang mit Autoritäten. Thomas von Aquin gab Aristoteles heraus – René Descartes verband seine Philosophie stattdessen mit den Naturwissenschaften und einem neuen Materialismus. Er plädierte für eine Welt, die sich im nach ihm benannten kartesischen Koordinatensystem unterbringen ließ, und die den Menschen mit einem Körper ausstattete, in dem die Nervenstränge mit Druck und Zug mit dem Gehirn kommunizierten. Autoritäten hatten in dieser Welt keine Beweiskraft mehr.

Die Beweisführungen, die Descartes für die mit Mathematik, Geometrie und moderner Physik übereinkommende Philosophie aufbot, argumentierten vom strengsten Zweifel her. Diesem widerstand nur ein Faktum: Dass wir im Moment des Zweifels noch dächten und demnach existierten („dubito ergo sum, quod vel idem est, cogito ergo sum“). Auf dem puren Beweis der Existenz ließ sich ein Beweis der Welt und Gottes aufbauen, sobald man Gott logisch konsistent als das vollkommene Wesen definierte. Mit seiner Definition war unvereinbar, dass Gott nicht existierte, Nichtexistenz wäre Unvollkommenheit gewesen. Gott konnte im selben Moment nicht betrügen – ein vollkommenes Wesen muss sich nicht mit einem Betrug begnügen. Ein Betrug wäre es aber gewesen, wenn Gott uns glauben ließe, wir wären wach und gingen mit materiellen Gegenständen um, während wir in der Realität schliefen und eben zu dieser Realität keinen Zugang erhielten. Aus der puren Existenzgewissheit ließ sich postulieren, dass es Gott gab und eine materielle Welt.

Die eröffneten Positionen brachten die theologische Debatte in eine missliche Lage. Das Bekenntnis zu einem betrügerischen und unvollkommenen Gott stand gegenüber der neuen Philosophie nicht zur Wahl. Ließ man sich auf dieses Philosophieren ein, war jedoch unklar, was man riskierte: Mit Thomas Hobbes (1588-1679) taten sich die Kirchenvertreter aller Konfessionen leicht. Er behauptete, die Verderbtheit des Menschen gründe darin, dass der aus Materie zusammengesetzte Mensch sich seiner Existenz bewusst werde und seine materielle Existenz nun mit aller Konsequenz verteidigte (siehe den ausführlicheren Artikel zu seinem Leviathan von 1651). Für die Kirche blieb die Lehre der Erbsünde bestimmend. Hobbes argumentierte als Atheist. Weitaus schwerer ließ sich auf Hobbes’ Gegner Shaftesbury (1671-1713) antworten, wenn der postulierte, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen sei (da Gott nicht weniger als eine vollkommene Welt schaffen konnte), und wenn er von hier aus schloss, dass der Mensch für diese Welt geschaffen, von Natur aus Harmonie mit Gottes Schöpfung suche. Die gegenwärtige Verderbtheit des Menschen müsste, so Shaftesbury, ihre Gründe in der Organisation des gegenwärtigen Lebens haben, für die Kirche und Staat verantwortlich seien. Die rationalistischen Erwägungen gingen von Prämissen aus, von denen sich Theologen nicht gefahrlos verabschieden konnten. Sie schlossen „vernünftig“ – nach Methoden, von denen sich die Theologie nur verabschieden konnte, wenn sie sich zur Irrationalität des Glaubens bekennen wollte. Dies wiederum war in der gegenwärtigen Debatte gerade den etablierten Konfessionen verwehrt, die gegen „schwärmerische“ Strömungen wie den Pietismus (im Protestantismus) und den Quietismus (in der katholischen Religion) in den eigenen Reihen antraten. Ging die Theologie auf die Schlüsse und Schlussverfahren der rationalistischen Philosophie ein, so brachte sie das jederzeit in Widersprüche zu eigenen Lehrmeinungen. Verweigerte sie sich der neuen Philosophie, so verwischte sie Grenzen gegenüber den mystischen und irrationalistischen Strömungen, die ihr intern fortwährend neue Sekten bescherten. Die Folge war für das 17. Jahrhundert eine immense Durchdringung der philosophischen Debatte mit Zielvorgaben theologischer Diskussionen – und eine Situation, in der sich die Theologie kaum noch vor der Philosophie als dem möglicherweise überlegenen Austragungsort ihrer bisherigen Debatten schützen konnte.

Von theologischem und politischem Belang war jede Position, die sich auf die neuen philosophischen Theorien zurückbeziehen würde. Europas drei Konfessionen notierten in der Frage der Willensfreiheit eines ihrer wichtigsten Gebiete des fundamentalen Dissenses. Die reformierten Religion standen unter ihnen allein für den radikalen Determinismus, für die Leugnung der Willensfreiheit, für einen von Gott vorherbestimmten Kosmos. In ihrer politischen und geographischen Verortung bildeten sie die kleinste Partei. Sie bestimmten die Religion in den freien Niederlanden, im Genfer Stadtstaat und in der protestantischen Minderheit Frankreichs. Sie waren gerade in dieser Positionierung auf der anderen Seite die interessanteste Partei Europas – auf der überwiegend vom Absolutismus geprägten Landkarte standen sie für die Staatswesen, in denen sich allein offen bürgerliche Freiheiten und republikanische Verfassungen fordern ließen. Ließ sich die theologische Debatte auf die Debatten der Cartesianer ein, so war dies absehbar ein Plädoyer für eine Welt, in der bis in die kleinsten Teilchen hinein die Mechanik regiert – für eine Welt, in der es strenge Naturgesetze gebe, einen konsequenten Determinismus, und damit eine Philosophie, die ihr Plädoyer in der Frage des Determinismus und der Willensfreiheit womöglich am Ende zugunsten der reformierten Religion geben müsse. Hier waren die politischen und theologischen Konsequenzen jeder Diskussionsteilnahme kaum absehbar.

Baruch Spinoza (1632–1677)

Die Extrempositionen der rationalistischen Erkenntnistheorie vertraten Baruch Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz – Spinoza mit einem Denken, das in logischen Schlüssen den Dualismus in Frage stellte, den die Transzendenz voraussetzte: Wenn man von zwei getrennten Substanzen (Gott und Natur, Körper und Geist) ausginge, müsse man postulieren, dass sie keine Eigenschaft teilten, da sie sonst partiell identisch und damit nicht getrennt seien. Eine Substanz, die bestehe, müsse im selben Moment für sich selbst bestehen können. Benötigte sie eine andere Substanz, um zu existieren, verletzte sie ihre Definition als isolierbare Substanz. Eine Substanz könne im selben Moment nicht mehr eine andersgeartete hervorbringen, die hervorgebrachte wäre nicht mehr unabhängig. Die bestehende Substanz müsse mithin ungeschaffen existieren. Sie müsse unendlich sein – denn wäre sie endlich, so müsste eine andere Substanz ihr die Grenze setzen, was erneut eine Abhängigkeit in ihre Existenz brächte, die gegen den Substanzbegriff verstieße. Zwei verschiedene Substanzen Gott und Natur, eine schöpfende und eine von dieser geschaffene, könnten nach diesen Prämissen nicht bestehen. Die Wahl laute „entweder Gott oder die Natur“ – „Deus sive Natura“. Einige Interpreten sehen in dieser Alternative, die sich gerade aus der Definition Gottes ergibt, eine atheistische Tendenz. Für andere Interpreten liegt in der Identifikation von Natur und eigentlichem Gottwesen eine pantheistische Position.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)

Leibniz besuchte Spinoza 1676 und argumentierte in intensiver Auseinandersetzung mit dem Monismus (der Theorie der Einheit der gesamten Materie) Spinozas. In seinen eigenen philosophischen Annahmen ging er von einem aus dem Nichts von Gott geschaffenen Kosmos aus. Mit dem Blick auf die kleinsten Einheiten dieses Kosmos, die „Monaden“, für deren Eigenschaften er logische Postulate bereit hielt, holte er Spinoza jedoch wieder ein. Jede einzelne „Monade“ unterscheide sich von allen anderen in der Art, wie sie von ihrer Position aus den gesamten Kosmos widerspiegele. Die gesamte Materie bestehe aus Teilchen dieser letztlich geistigen Komponente ihrer Existenz. Die Welt müsse, als gesamte betrachtet, nach der bisherigen Schlussfolgerung die beste aller möglichen Welten sein. Aus der Tatsache, dass der Planet, auf dem wir leben, Mängel aufweise, könne im selben Moment jedoch geschlossen werden, dass es im Kosmos unzählige andere bewohnte und weit glücklichere Planeten gebe, mit denen der kosmische Gesamtplan sich erfülle, und in dem die Erde mit ihren objektiven Mängeln ihren sinnvollen Platz zum besten des Gesamts einnehme. (Siehe eingehender den Artikel Theodizee.)

Zu den Paradoxien der rationalistischen Erkenntnistheorie gehörte, dass sie in den extremen Postulaten die Beschränktheit des menschlichen Verstandes voraussetzte – eben des Verstandes, den sie zum Schließen beanspruchte. Unsere Wahrnehmung zeigte Grenzen, unser „Verstand“ erwies sich als nicht minder begrenzt. Die „Vernunft“, die letztlich im Schließen begründet lag, wies dieselben Grenzen nicht auf. Sie gehörte niemandem, war an kein Individuum gebunden, war in der Logik und der Mathematik gegeben, den beiden Wissenschaften, die es uns allein erlauben konnten, zu erahnen, wie der Kosmos aufgebaut sein müsse.

Empirismus

Aus Sicht der Empiristen wagten sich die Rationalisten weit in Bereiche vor, über die durchaus kein Wissen erlangt werden konnte. Die sehr unterschiedlichen Endergebnisse, zu denen sie gelangten, ließen zweifeln, dass ihre Beweisverfahren trugen. Argumentierte man gegenüber den Rationalisten streng, konnte man fordern, bei den Sinnesdaten zu bleiben und bestimmte Schlüsse nicht zu wagen. So massiv die Empiristen die Rationalisten auch kritisierten, so nahe standen sie ihnen auf der anderen Seite, wo es um die Naturwissenschaften und den Umgang mit Autoritäten ging. Descartes und Leibniz waren Wissenschaftler der neuen Zeit, sie waren physikalischen Experimenten aufgeschlossene Mitglieder renommierter wissenschaftlicher Akademien, wie sie im Mittelalter keine Pendants hatten.

Die wesentlichen Schritte in den Empirismus – in die Philosophie, die sich streng zur Rückführung aller Erkenntnisse auf Sinneswahrnehmungen bekannte – geschahen in England.

Das hat zum Teil mit der Arbeit der Royal Society zu tun, die Europas führende Institution naturwissenschaftlicher Forschung wurde. Das hat zum anderen innenpolitische Gründe. Die neue Philosophie verband sich eng mit einer staatstheoretischen Debatte. Hobbes und Locke schrieben Erkenntnis- und Staatstheorie in einem, und sie taten dies in einer komplexeren Situation als ihre Kollegen auf dem Kontinent. Wie die Staatstheoretiker der absolutistischen Kontinentalstaaten suchten diejenigen Englands nach einer Philosophie, die letzte Begründungen ohne Rückgriff auf die Theologie anbot – es ging in ganz Europa darum, die Kirche politisch dem Staat unterzuordnen (und gerade dadurch dem Einzelnen von jetzt an staatlich garantierte Freiheit in der konfessionellen Orientierung zu sichern). Anders als auf dem Kontinent gab es dabei jedoch in England zwei Optionen der Entmachtung der Kirche. Hobbes plädierte für den Monarchen als den absoluten Souverän, Locke und die Anhänger der Whigs, die 1688 an die Macht kamen, standen dagegen für das Parlament als das Zentrum der Staatsmacht. Der Empirismus machte in England nicht unwesentlich als Antwort auf den Materialismus innerhalb des Parteiengefüges Karriere. Auf dem Kontinent wurde er zwar unverzüglich rezipiert, mit allen Zusatzdebatten des Menschenbilds drang er jedoch hier nicht sofort in die laufenden Diskussionen ein. In England übernahmen 1688 die Parlamentsanhänger die Macht, die sie mit kurzen Unterbrechungen bis weit in das 18. Jahrhundert hielten. Ihr erster Philosoph, Locke, machte weit nach seinem Tod noch 1776 der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Vorgaben. Auf dem Kontinent entwickelte sich eine andere Formation der Lager in der Philosophie und in der Erkenntnistheorie.

John Locke (1632–1704)

Unser Bild der Welt ist nur ein mögliches. „Das ist es, was Mikroskope uns klar zeigen: Dinge, die für das bloße Auge eine bestimmte Farbe haben, geben bei größerer Sinnenschärfe ein ganz anderes Bild von sich [...] die Verschmelzung verschiedenfarbiger kleiner Teile eines Objekts in unserer normalen Sicht schafft von denselben Dingen ganz abweichende Farbeindrücke...“ Locke, Essay (1690), II.xxiii,§.11

Das Projekt, zu dem John Locke mit dem Essay concerning Humane Understanding (1690) ansetzte, war an zwei Stellen brisant, der Autor notierte sie beide auf den ersten Seiten: Wenn er behauptete, alles, was wir wüssten, wüssten wir durch Sinneswahrnehmungen, dann zog er bereits an dieser Stelle den Verdacht des Atheismus auf sich, da nun erst einmal erklärt sein wollte, wie Gott uns dann Gegenstand des Bewusstseins werden sollte. Locke riskierte mit seinem Beharren auf Sinneswahrnehmungen als Wissensquelle zudem ein Paradox: „The Understanding, like the Eye, whilst it makes us see, and perceive all other Things, takes no notice of itself“ – Unser Verständnis kann so wenig beurteilen, wie es zustande kommt, wie das Auge einen Blick auf seine eigene Sicht werfen kann. (Zu diesem Problem eingehend der Artikel Abbild.)

Tatsächlich schrieb Locke ein Buch, das sich gegenüber vielen der Entwürfe der Rationalisten durch größte Ordnung auszeichnete wie dadurch, dass sein Autor über Konsistenzbehauptungen kaum hinaus kam. Der erste Teil wischte alle angeblich „angeborenen Ideen“ vom Tisch. Nichts war angeboren, sonst müssten wir auf dem Gebiet der angeborenen Ideen weltweit Vorstellungen – von Gott, der Materie, Gut und Böse – teilen. Wir sehen Dinge, erhalten von ihnen Ideen, setzen unsere Ideen zusammen, abstrahieren von ihnen, verfügen über sie in der Erinnerung, entwickeln Vorstellungen von Kausalität (Wachs schmilzt bei Hitze, Momente wie dieses machen Kausalität erfahrbar). Wenn wir eine Wahrnehmung wiederholen, zählen wir bereits, wenn wir zählen, folgte die gesamte Mathematik daraus. Wir gehen, so Locke, im Bewusstsein mit Ideen um und erfahren im selben Moment, dass es eine materielle Außenwelt und unser Bewusstsein gibt. Wenn wir etwas Neues erfinden, setzen wir Bilder zu diesem neuen zusammen und begeben uns dann an die Konstruktion. Es sei uns demnach so klar wie die Winkelsumme im Dreieck, dass das Bewusstsein nicht von der Materie produziert sein könne, nachdem wir schließlich auch dann Bilder im Bewusstsein verschieben können, wenn ihnen gerade nichts materielles entspricht. Das Bewusstsein müsse ewig und ungeschöpft existieren, da es die Materie nicht benötige. Die Idee Gottes ließ sich so aus einem Umgang mit Wahrnehmungen gewinnen. Man müsse es im selben Moment dahingestellt sein lassen, was aus einer Definition Gottes folge. Die Idee seiner Existenz hätten wir indes, bevor wir aus seiner Definition Schlüsse zögen, mit den Dingen und unserem Nachdenken bereits erlangt.

Locke bot ein Buch, das kaum zu Beweisen durchdrang. Er lieferte eher ein Plädoyer, nachdem denkbar sein musste, dass durchaus alles, was uns beschäftigte, genauso gut über Sinneswahrnehmung und den Umgang mit ihr in unser Bewusstsein gelangte. Die Gliederung seines Buches frappiert, aus heutiger Sicht, mit ihren Problemverlagerungen: Im ersten Zug verbannt er alle „angeborenen Ideen“ aus dem Bewusstsein, im zweiten baut er die Welt wieder auf – mit einem Blick darauf, wie Kinder sie verstehen lernen. Im dritten Argumentationsschritt wendet er sich der Sprache als dem Medium zu, in dem wir unsere Erkenntnisse formulieren. Das vierte Buch seines „Versuchs“ gilt den komplexeren Ideen und der Wissenschaft. Weit vor dem „linguistic turn“, den die Erkenntnistheorie mit Wittgenstein im 20. Jahrhundert vollführte, ist hier auf das Problem der Sprache verwiesen, in der die Formulierung von Erkenntnis abläuft – und die wiederum auf Erkenntnis erhebliche Rückwirkung habe. Locke rief dazu auf, das menschliche Bewusstsein zu untersuchen und zu verstehen, mit welchen Konzepten es umging – dabei müsse man den Wahrnehmungsapparat, genauso wie unsere von Denktraditionen behaftete Sprache untersuchen, um zu verstehen, warum Menschen verschiedener Kulturen die Welt in manchen Aspekten ähnlich, in anderen sehr unterschiedlich wahrnähmen. All dies ist bei Locke weit vor dem Aufkommen der Wahrnehmungspsychologie und der Kulturanthropologie formuliert. Locke inspirierte die Kunst. Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-67) sollte das Essay concerning Humane Understanding mit subtilem Humor als eines der wichtigsten Bücher der Weltliteratur feiern, da hier erstmals erwogen war, wie wir denken: eher assoziativ, in einer Verkettung von Ideen, die leider gerade nicht immer den Ratschlägen der Vernunft folgt. Der Naturwissenschaft war endlich ein neues Projekt vorgegeben: das einer konstanten Selbstkritik. Ein neues Fach der Wissenschaftstheorie war vonnöten, um der fortwährenden Verunreinigung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch sich etablierende Konzepte zu begegnen.

David Hume (1711–1776)

Den weit konsequenteren Versuch, auf den Prämissen, die Locke setzte, aufzubauen und die Erkenntnis kritisch zu befragen, bot David Hume mit seinen moralischen und erkenntnistheoretischen Untersuchungen. Wo Locke ohne große Differenzierung von „Ideen“ gesprochen hatte, trennte Hume zukunftweisend „Wahrnehmungen“ von „Ideen“. Wo Locke erklärte, dass das Wahrgenommene uns befähigte, Kausalität anzunehmen, ging Hume einen Schritt weiter: Wir sahen allenfalls, dass auf ein Ereignis A. ein Ereignis B. folgte. Dass dabei Kausalität im Spiel war, sahen wir nicht. Wir müssten streng genommen konstatieren, dass hier eine Abfolge von Ereignissen beobachtet wurde. Gingen wir hier wissenschaftskritisch einen Schritt weiter, so hatte das Konsequenzen für unser gesamtes Formulieren von Naturgesetzen: Wir mögen, so Hume, allenfalls gesehen haben, dass bislang immer nach A. auch B. geschah – was aber berechtigte uns zur Annahme, dass das auch in Zukunft so sein sollte? Die Theorie eines geordneten Universums war ein zirkulärer Schluss aus gemachten Wahrnehmungen. Es war ansonsten mindestens so möglich, dass das Universum chaotisch war, wir sozusagen nur eine Glückssträhne wiederkehrender Ereignisse observiert hatten. Dem widerspreche auch nicht, dass Tiere mit ihrem Instinkt auf gewisse Regularitäten eingerichtet seien.

Auch die Identität von Dingen und Personen musste nach Hume neu bedacht werden. Wir könnten nicht beweisen, dass dieses „dieselbe“ Person ist, der wir vor Jahren begegneten – es gebe da allenfalls ein „Bündel“ von Wahrnehmungen, mit dem wir Identität behaupteten, während andere Wahrnehmungen immer auch von Unterschieden sprächen. Das war eine massive Attacke auf die Reste platonischen Nachdenkens, die beliebigen Gegenständen ein „Wesen“, ein „Selbst“ beimaßen und davon ausgingen, dass wir wenigstens im Denken mit diesem reineren Wesentlichen umgehen könnten.

Hume entwertete die Vernunft schließlich im Blick auf alle moralischen Urteile. Die Vernunft rate uns wohl zu bestimmten Handlungen im Blick auf bestimmte Ziele, doch wenn wir uns andere Ziele setzten, rate sie uns im selben Moment zu anderen Handlungen. Das Projekt der Erkenntnistheorie endete auf empiristischem Boden nicht mit neuen Sicherheiten, sondern eher mit Unsicherheiten und einem reichlich pragmatischen Umgang mit ihnen. Logik war nicht die letzte Prämisse unseres Umgangs mit der Realität. Gingen wir davon aus, dass Menschen mit freien Willensentscheidungen handelten? Wieso sollten wir dann Strafen für bestimmte Fehlverhalten ankündigen? Wir handelten allenfalls versuchsweise im Blick auf gewünschte Entwicklungen. Die Prämissen, nach denen wir handelten, waren weitgehend ungedeckt. Das Projekt einer strengen Erkenntnistheorie taugte, sobald man es gründlich betrieb, am ehesten, um die Unbeweisbarkeit unserer Grundannahmen zu beweisen.

Idealismus

Der Idealismus kann sowohl als Gegenposition zum Empirismus wie als dessen Fortführung verstanden werden. Im extremen Fall verneint der Idealismus, dass es eine Außenwelt gibt, über die man sinnvoll sprechen kann. Die Empiristen gehen von der Existenz der Außenwelt aus – von dieser sollen Wahrnehmungen herrühren. Die Idealisten wenden dagegen ein: Man geht mit Wahrnehmungen um, nicht mit der Außenwelt. Man kann aus den Wahrnehmungen allenfalls schließen, dass es da eine Außenwelt gibt. Man benötigt zu diesem Schluss aber Ideen und diese gehören wiederum zum Subjekt, das die Wahrnehmung auswertet.

George Berkeley (1685–1753)

Der Schritt in den Idealismus geschah auf dem Boden der englischen Debatte aus einer isolierten theologischen Position heraus. George Berkeley war Theologe und wurde 1734 Bischof von Cloyne (mit Arbeitsplatz in Oxford). Dass Locke kaum klar gedacht hatte – um dies zu demonstrieren, musste Berkeley in seinem Essay towards a New Theory of Vision (1709), § 125 den berühmten Vorgänger lediglich mit seinen Versuch zitieren, das Dreieck euklidischer Geometrie von wahrgenommenen Dreiecken abzuleiten. Es war in jedem Fall einfacher, die Optionen des Dreiecks zuerst zu denken, um dann dergleichen in der Wahrnehmung wiederzufinden.

Mit dem Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710) legte Berkeley Punkt für Punkt die Axt an Lockes Darlegungen: Woher wissen wir, wie unsere Wahrnehmung zustande kommt – sprich, dass da eine materielle Außenwelt besteht, die in uns ein Bild erzeugt, zuerst auf der Netzhaut, dann im Bewusstsein? Haben wir je mehr als das Bild im Bewusstsein? Berkeley ging den Schritt weiter auf das erkennende Subjekt zu und folgte dabei Descartes. Ein Subjekt, ob man es nun „Mind, Spirit, Soul or Myself“, das Bewusstsein, den Geist, die Seele oder mich selbst, nennen will, müsse man zugestehen, sobald man darüber selbst (als Subjekt) nachdenke.

Descartes' nächsten Schritt, über eine Gottesdefinition die Welt in ihrer Materialität zu beweisen, unterließ der Theologe: „Der Tisch, an dem ich schreibe, ich mag sagen, er existiert, das heißt, ich sehe und fühle ihn.“ Hatte man aber zu Ende gedacht, wenn man daraus ableiten wollte, dass er auch dann noch existierte, wenn man das Zimmer verließ? Lohnte sich überhaupt eine solche Aussage? – Man könnte behaupten, sie lohne sich, da man beliebig jemanden in das Zimmer schicken kann, etwas von diesem Tisch zu holen – man will doch nicht behaupten, dass der Tisch dann völlig neu zu existieren beginne. Streng genommen, so Berkeley, galt damit dennoch nur wieder, dass der Tisch uns nur dann und nur so weit beschäftigte, wie irgendjemand ihn wahrnahm. Was mit ihm außerhalb seines Wahrgenommenwerdens sei, bleibe offen.

For as to what is said of the absolute existence of unthinking things without any relation to their being perceived, that seems perfectly unintelligible. Their esse is percipi nor is it possible they should have any existence out of the minds or thinking things which perceive them. [4]
Denn [...] ob nichtdenkende Dinge für sich selbst (absolut) bestehen, unabhängig davon, ob sie jemand wahrnimmt, so scheint überhaupt keine Erkenntnis dahin gehen zu können. Ihr Sein ist Wahrgenommenwerden; noch ist es möglich, dass diese Dinge irgendeine Existenz außerhalb des jeweiligen Bewusstseins oder denkenden Dings haben, das sie wahrnimmt. [Übers. o.s.]

Es lohnt sich gar nicht, darüber nachzudenken, was dieser Tisch außerhalb von Momenten ist, in denen er wahrgenommen wird, niemand nimmt ihn außerhalb dieser Momente wahr. Die Außenwelt wurde in derselben Erwägung hinfällig wie die Behauptung ihrer Materialität: Wenn es eine Außenwelt unabhängig von unserer Wahrnehmung gibt, dann wird sie in genau dieser Form nie Gegenstand unserer Wahrnehmung. Wir erfahren über sie nichts. Wir können uns denken, dass sie trotzdem existiert, doch haben wir dieselben Gründe, das zu denken, wenn sie existiert wie wenn sie es nicht tut (und wir uns die Außenwelt nur einbilden). In short, if there were external bodies, it is impossible we should ever come to know it; and if there were not, we might have the very same reasons to think there were that we have now. [5]

Es musste auf den ersten Blick unklar erscheinen, wozu eine so radikale Position gut sein sollte. Berkeley richtete sie explizit nicht gegen die alltäglichen Vorstellungen, sondern nur gegen die philosophischen Erwägungen über Materie und den dreidimensionalen Raum:

I do not argue against the existence of any one thing that we can apprehend either by sense or reflexion. That the things I see with my eyes and touch with my hands do exist, really exist, I make not the least question. The only thing whose existence we deny is that which Philosophers call Matter or corporeal substance. And in doing of this there is no damage done to the rest of mankind, who, I dare say, will never miss it. The Atheist indeed will want the colour of an empty name to support his impiety; and the Philosophers may possibly find they have lost a great handle for trifling and disputation. [6]
Ich argumentiere nicht gegen die Existenz von irgendetwas, was wir wahrnehmen können, ob durch die Sinne oder Reflexion. Dass Dinge, die ich mit meinen eigenen Augen sehe und mit meinen eigenen Händen berühre, existieren, wirklich existieren, stelle ich nicht im geringsten in Frage. Das einzige, dem ich die Existenz verweigere, ist das, was die Philosophen Materie oder körperliche Substanz nennen. Und damit, dass ich das tue, füge ich dem Rest der Menschheit, der, so wage ich zu behaupten, dieses Konzept nicht einen Tag vermissen wird, nicht den geringsten Schaden zu. Der Atheist jedoch wird die Anschaulichkeit eines bedeutungslosen Wortes vermissen, auf das er seinen Unglauben aufbaut; und die Philosophen werden wahrscheinlich die grandiose Handhabe vermissen, mit der sie im Moment eine vollkommen belanglose Debatte führen. [Übers. o.s.]

Sollte man demnach in Zukunft sagen, man esse und trinke nur „Ideen“ und kleide sich in „Ideen“? Sollte man aufhören, länger von „Dingen“ zu reden [7]? Jedenfalls in der philosophischen Erwägung, so Berkeley. Sollte damit behauptet sein, dass von den Dingen keine Wirkungen mehr ausgingen? Es könne doch gar nicht alles aus Ideen bestehen, wenn wir etwa die Idee des Feuers vom wirklichen unterscheiden, das Verbrennungen verursacht [8]. Konsequent gedacht müsse man, so Berkeley, sagen, dass man demnach unterschiedliche Ideen von Feuer und Schmerz habe. Eine Idee, die man als Vorstellung handhabt und eine Idee, die man als „reales Feuer“ handhabt.

Konsequenzen barg Berkeleys Nachdenken auf religiösem Gebiet. Gott ließ sich an dieser Stelle viel leichter beweisen als die Existenz irgendeines anderen Menschen. Was andere Menschen anbetrifft, hier bildeten wir Mutmaßungen aus gewissen Wahrnehmungen heraus. Die Idee Gottes blieb dagegen an alle Wahrnehmungen und alle Ideen gebunden, nicht an irgendeine bestimmte Wahrnehmung.

All dies war konsequent und unwiderleglich gedacht, doch für die Zeitgenossen vor allem ein Affront gegen den common sense, der demgegenüber zur rettenden philosophischen Prämisse erhoben werden konnte.

Immanuel Kant (1724–1804)

(Siehe für eingehendere Darlegungen weitere Artikel zur Philosophie Kants)

Berkeley konnte die von ihm ins Spiel gebrachte „idealistische“ Philosophie letztlich kaum vom Solipsismus abgrenzen, von der Position, nach der es nur mich selbst, mich wahrnehmendes Subjekt mit meinen Empfindungen gibt (die nicht ein gegenstandsloser Traum sein können).

Kant liest vor russischen Offizieren, Gemälde von I. Soyockina/ V. Gracov. Kantmuseum Kaliningrad (ehemals Königsberg)

Immanuel Kant gelangte über eine Auseinandersetzung mit David Hume in die erkenntnistheoretische Debatte. Er teilte mit Berkeley die Blickwendung auf das erkennende Subjekt und Ausgangspositionen – etwa die, dass der Raum selbst nicht Gegenstand der visuellen Wahrnehmung ist, erst in unserem Bewusstsein seine Gestalt etwa als gedachter unendlicher dreidimensionaler Raum erhält. Dinge an sich, Dinge so wie sie für sich selbst sind, auch wenn sie gerade keiner wahrnimmt, mit all den Qualitäten, die noch niemand an ihnen wahrnahm, nehmen wir nie wahr. Um sie muss sich die Metaphysik, Transzendentalphilosophie kümmern. Anders als Berkeley konstatierte er jedoch eine Notwendigkeit, über den Solipsismus hinauszugehen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Das pure Denken muss mit irgendeinem inhaltlichen Material umgehen, es benötigt Empfindungen, Wahrnehmungen. Wir benötigen auf der anderen Seite Begriffe, Ideen, um irgend etwas mit dem wahrgenommen Material anfangen zu können, erkennen gar nichts, wenn wir nicht mit einem begrifflichen Raster an es herantreten – so die beiden Rahmenpositionen der Erkenntnistheorie.

Wenn man sich auf das Subjekt konzentrierte, welche Bedingungen ermöglichten uns dann Erkenntnis?

Die Empiristen bestanden in der Terminologie, die Kant einführte, darauf, dass es nur zweierlei Urteile gebe: „Synthetische Urteile a posteriori“ – Urteile, bei denen wir auf Sinneswahrnehmung zurückgreifen, die wir im Nachhinein zu komplexeren Urteilen zusammenzufügen. Daneben mochte man im Empirismus noch ohne Risiko gewisse analytische Urteile „a priori“ zugestehen – etwa dort, wo man über Algebra nachdenkt und logische Systeme setzt, innerhalb derer Aussagen nach den vorab, sprich a priori, gesetzten Regeln wahr werden.

Die Frage einer wissenschaftlich betriebenen Metaphysik lautete unter dieser Vorgabe, ob es auch Synthetische Urteile a priori gebe.

Im Nachdenken über Raum, Zeit und Kausalität sollte der Denkansatz fruchtbar werden: Raum, Zeit und Kausalität, argumentierte Kant, seien nicht Gegenstände der Wahrnehmung, sondern eher ihre Bedingung. Man könne sich nicht denken, wie Wahrnehmungsprozesse ohne Raum, Zeit und Kausalität ablaufen sollten. Wir treten zudem als Subjekte – der Seite unserer Ideen – an unsere Wahrnehmungen mit denselben Konzepten, um die Wahrnehmung zu Erkenntnis zu ordnen. Raum, Zeit und Kausalität machten eher die Form der Wahrnehmung aus. Auch das Subjekt der Wahrnehmung blieb ihr entzogen und doch mit ihr gegeben.

Die klare Abgrenzung vom Idealismus, wie ihn Berkeley im rein philosophischen Argument an den Rand des Solipsismus geführt hatte, lieferte Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft 1787 im Kapitel „Widerlegung des Idealismus“ nach.

Das Argument sollte Descartes' Behauptung, allein der eigenen Existenz könne man sich gewiss sein, wie Berkeleys Zweifel an der Außenwelt treffen. „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewusstsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir“ so Kants Angebot eines „Lehrsatzes“, der dem Beweis der Außenwelt aus dem Bewusstsein des eigenen Daseins vorweggestellt werden konnte.

Die Beweisführung griff auf das vorangestellte Nachdenken über die Zeit zurück. Wir benötigen für die Zeit etwas „Beharrliches“, die Zeit durch sein fortgesetztes Bestehen füllendes, und das könne nicht in uns selbst liegen „weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann.“ Man erfährt keine Zeit, wenn sich nicht etwas verändert, während etwas anderes unabhängig von einem in derselben Zeit stabil bleibt. „Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.“ Kant versah den Beweis mit drei Anmerkungen, von denen die erste notierte, dass er hier seine eigene Philosophie benutzte um über ihre Grenzen nachzudenken. Die zweite Bemerkung galt eingehender der Zeit, die in Abfolge und gerade nicht im Beharrenden definiert war. Das sei kein Widerspruch – eine Passage, die Zeit, Materie und das Ich voneinander auf kürzestem Raum abgrenzt:

Anmerkung 2. Hiermit stimmt nun aller Erfahrungsgebrauch unseres Erkenntnisvermögens in Bestimmung der Zeit vollkommen überein. Nicht allein, dass wir alle Zeitbestimmung nur durch den Wechsel in äußeren Verhältnissen (die Bewegung) in Beziehung auf das Beharrliche im Raume (z. B. Sonnenbewegung in Ansehung der Gegenstände. der Erde,) vornehmen können, so haben wir so gar nichts Beharrliches, was wir dem Begriffe einer Substanz, als Anschauung, unterlegen könnten, als bloß die Materie und selbst diese Beharrlichkeit wird nicht aus äußerer Erfahrung geschöpft, sondern a priori als notwendige Bedingung aller Zeitbestimmung, mithin auch als Bestimmung des inneren Sinnes in Ansehung unseres eigenen Daseins durch die Existenz äußerer Dinge vorausgesetzt. Das Bewusstsein meiner selbst in der Vorstellung Ich ist gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat dieses Ich auch nicht das mindeste Prädikat der Anschauung, welches, als beharrlich, der Zeitbestimmung im inneren Sinne zum Korrelat dienen könnte: wie etwa Undurchdringlichkeit an der Materie, als empirischer Anschauung, ist. [9]

Der Beweis hatte keine Gültigkeit in jedem Fall, das setzte die dritte Anmerkung hinzu, die notierte, dass wir natürlich träumen können und dann der Wahrnehmung keine Außenwelt zuordnen werden. Gefragt werden müsse jedoch in diesem Fall, woher das Geträumte in seiner scheinbaren Gegenständlichkeit komme – „bloß durch die Reproduktion ehemaliger äußerer Wahrnehmungen“, so setzte er hinzu, und für diese gelte der oben geführte Beweis, dass sie eine Außenwelt benötigten. Woran man aber sehen könne, ob eine bestimmte Erfahrung Traum sei oder auf eine soeben getätigte Wahrnehmung der äußeren Welt zurückgehe? Das lasse sich nur in der größeren Perspektive auf alle unsere Wahrnehmungen sagen, so der extrem pragmatische Nachsatz: „Ob diese oder jene vermeinte Erfahrung nicht bloße Einbildung sei, muss nach den besonderen Bestimmungen derselben und durch Zusammenhaltung mit den Kriterien aller wirklichen Erfahrung, ausgemittelt werden.

Brisanz gewann Kants Nachdenken in seinem Systemanspruch. Die Kritik der reinen Vernunft untergliederte Kategorien und Bedingungen des Wissens und seiner Sicherheit im Blick auf die Logik möglicher Schlussfolgerungen. Über die Grenzen des Wissens ließ sich mit dem neuen Vokabular präziser nachdenken. Zur Kritik der reinen Vernunft kam die Kritik der praktischen Vernunft als komplementäres Projekt der Ethik. Kant verband beide Bereiche wiederum mit einem grundlegenden Nachdenken über Ästhetik. Der Philosoph war an selber Stelle nicht mehr irgendein Parteigänger wie Hobbes oder Locke, noch das Universalgenie in Staatsdiensten, als das Leibniz für Hannover gearbeitet hatte. Mit Kants Ära gewann das Projekt der Philosophie neuen Status als akademische Wissenschaft, von der Impulse in alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens ausgehen sollten. Kant avancierte zur weltlichen Autorität in Sachen Nachdenken, zu einer Stimme, die zu beliebigen Problemen gehört sein sollte. Das Bild des Philosophen, der einen Vortrag vor russischen Offizieren hielt, war in historischer Perspektive ein Novum.

Erkenntnistheorie im Zeitalter der Nationalstaaten: 19. und frühes 20. Jahrhundert

(Siehe eingehender den Artikel Philosophie des 19. Jahrhunderts).

Mit der Wende ins 19. Jahrhundert wurde das Wissenschaftssystem neu organisiert. Bislang gab es an den Universitäten die drei Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin sowie das philosophische Grundstudium, die „artes liberales“, zu denen die Sprachen genauso gehörten wie die Naturwissenschaften, die bis dahin als „Naturphilosophie“, „natural philosophy“ firmierten.

Mit dem 19. Jahrhundert wurden die Geisteswissenschaften, die Naturwissenschaften, die Gesellschaftswissenschaften und die technischen Ingenieurwissenschaften begründet. Die Philosophie kam zu den Geisteswissenschaften, deren Aufgabenfeld sich nun weitete.

Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurden nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Debatten auf dem Gebiet der Theologie geführt. Mit der Wende ins 19. Jahrhundert übernahm der Staat als neue Ordnungsmacht die Vorherrschaft in den gesellschaftsweiten Diskussionen. Er garantierte seinen Bürgern gleiche Rechte. Fast überall in Europa kam Religionsfreiheit zu diesen – sie bedeutete für die jeweils bislang in jedem Territorium privilegierten Konfessionen die Rückstufung, bot Minderheiten jedoch Gleichberechtigung. Die Debattenkultur des Nationalstaats wurde von nun an von den Geisteswissenschaften bestimmt. Ihre Ausbildung durchläuft, wer in den Medien zu Wort kommt, Kunst und Literatur bespricht, an den Universitäten in den Fächern unterrichtet, in denen diskutiert wird.

Die Philosophie entwickelte sich zur integrativen Wissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften. In ihr finden die grundlegenden Methodendebatten statt. Philosophische Erkenntnistheorien erlaubten es am Ende, Rechtssysteme überkonfessionell zu definieren, den Naturwissenschaften Vorgaben zu machen wie dem Bildungssystem. Erkenntnistheorie verband sich mit der Geschichtsphilosophie und schuf dabei den Rahmen, in dem eine vollkommen neue Debatte der Zukunft aufkam. Bislang hatte es keine solche gegeben – mit dem späten 18. Jahrhundert änderte sich dies: Die Staaten entwickelten ein Interesse an Entwicklungsspielräumen. Im Bereich der Philosophie fanden um 1800 die wichtigsten Diskussionen der Weichenstellungen statt.

Deutschland und Frankreich gaben dabei den Ton an. Frankreich war mit der Revolution von 1789 in die neue Situation geraten, die Zukunft im Bruch mit der Vergangenheit planen und organisieren zu müssen – der Positivismus als große Vorstellung einer von den Wissenschaften geordneten Welt entwickelte sich aus der französischen Revolution heraus. In Deutschland gewann die Zukunft eines weltlichen, säkularen Nationalstaats Anfang des 19. Jahrhunderts eine sehr viel idealere Komponente. Gesucht wurde das Gegenmodell zu Frankreich und zur heimischen Zersplitterung in Territorialherrschaften, ein großer Staat, der die einzelnen Länder bei unterschiedlicher kultureller Tradition in sich aufnahm. In den eröffneten Bereichen versorgte die Philosophie das 19. Jahrhundert mit Denkoptionen und Diskussionsforen. Die Erkenntnistheorie bot sich dabei als Traditionen neu setzende und als Brüche erlaubende Disziplin an mit ihrem Versprechen, das allgemein für vernünftig erachtete Weltbild ungeachtet aller Vorurteilsstrukturen (und damit ungeachtet aller Traditionen) zu realisieren.

Von Hegel bis Schopenhauer: Rezeption und Zersplitterung des Idealismus

Das sogenannte „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, ein 1917 wiederentdecktes Manuskript des Jahres 1796 oder 1797, das in der Handschrift auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) als Autor verweist, jedoch nicht unbedingt von ihm stammen muss (andere Autorzuschreibungen galten Friedrich Hölderlin 1770-1843 und Friedrich Wilhelm Schelling 1775-1845), wirft Licht darauf, was dem Idealismus um 1800 enorme Sprengkraft verlieh: nicht sein Nachdenken über „Dinge an sich“ und Begriffe, die wir uns von ihnen machen konnten, sondern die Tatsache, dass kaum abzusehen war, was folgte, wenn ein Bereich der Ideen so sicher gesetzt werden konnte wie der soeben von den Naturwissenschaften ergründete Bereich der Naturphänomene. Die Ethik würde unter dieser Verschiebung die zentrale Wissenschaft werden mit Folgen für alle Diskussionen der Gesellschaft:

Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat –, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.
So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne. [10]

Die Physik hatte sich den Wünschen unterzuordnen die eine freiere Menschheit an sie stellen musste. Selbstbefreiung war das romantische Programm, das nicht minder den Staat betreffen musste:

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von der Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muss freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. [11]

Hegel, der Autor der Phänomenologie des Geistes (1807) sollte selbst aus der Erkenntnistheorie heraus die Geschichtsphilosophie als neue Gattung begründen: Sie setzte die Theorie voraus, dass Geschichte nicht zufällig verläuft, sondern als gerichteter Prozess auf einen zu ermittelnden Zielpunkt hin. Die Zukunft war für Autoren bis in die 1750er ein vollkommen uninteressantes Terrain gewesen, eine Zeit, von der man sich nichts mehr erwartete, nachdem man in der Gegenwart bereits alles erfinden konnte. Das Manuskript kulminierte in Aussagen über die Ästhetik:

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist und dass Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muss ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. [12]

Die Philosophie würde neue Mythologien begründen, so der programmatische Text. Deutschland befand sich während der nächsten Jahrzehnte in einer Phase, in der es mehr als Projekt, als Gegenstand politischer Ideenbildung, denn als Realität interessierte. Die Frage lautete, welche politische Realität sich in diesem Prozess herausbilden würde – die verschiedensten Interessengruppen und hinter ihnen territoriale Herrschaften mischten sich in diese Diskussion, in deren Verlauf eine Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts scheiterte und ein größerer Nationalstaat sich ihr folgend unter Ägide Preußens konstituierte. Der Idealismus zersplitterte, die einzelnen Richtungen des Idealismus wie die der Nachfolger Hegels, dividierten sich auseinander. Das Projekt der Erkenntnistheorie bot optimistische Strömungen unter den Links- und Rechts-Hegelianern und ihnen gegenüber eine pessimistische unter Arthur Schopenhauer (1788–1860), dessen Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) bereits im Titel offenbart, wie weit das Fach der Erkenntnistheorie an dieser Stelle von Fragen der Ethik, der Moral und des Menschenbildes durchdrungen wurde. Schopenhauer griff auf Berkeleys Subjektivismus zurück und lenkte im selben Moment den Blick auf den Willen des Subjektes, ohne den der Erkenntnisprozess in den Richtungen, die er nahm, unverständlich bleiben musste. Gegenüber den optimistischeren Sichten der Hegelianer positionierte sich die pessimistische mit einer Negation der Willensfreiheit: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will,“ so Schopenhauer.

Von Marx bis Lenin: Dialektischer Materialismus

Ging es den vorangegangenen philosophischen Schulen – angeblich – um eine gegenüber jedem Zweifel solide und darum wahre Position, so kam mit dem Kommunismus Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage auf, ob hier nicht ein grundlegender Betrug bestehe. Philosophien, die vermeintlich nur das Denkbare erwogen und dabei dem Zweifel – der Ungewissheit über die Welt – größeren Raum ließen, kokettierten mit einer rein logischen Erwägung, die in der Welt in jedem Fall politische Bedeutung gewann. Eine unpolitische Haltung gab es nicht – einen Zweifel an der Außenwelt musste man sich erst einmal leisten können. Die Frage war, welche erkenntnistheoretische Entscheidung von dem zu erwarten war, der sich der politischen Verantwortung nicht entzog, der den Massen zugestand, dass ihre materiellen Lebensgrundlagen dürftig und ihr Anteil an den Produktionsmitteln vollkommen unterrepräsentiert war.

Die Entscheidung musste an dieser Stelle für den Materialismus fallen. Das erforderte bereits die Frage, wie mit der Religion umzugehen sei. Ludwig Feuerbach (1804-1872) las in den Tagen der deutschen Revolution in Heidelberg über „Das Wesen der Religion“ und lieferte Denkoptionen, wie der Mensch aus eigener Erfahrung heraus Vorstellungen von Gott entwickelt haben könnte. Gott wurde zu einem natürlichen Teil der menschlichen Psyche, zu einer Vorstellung, die dem Menschen im Umgang mit der Welt nahelag. Ob Gott mehr war als diese Projektion aus menschlichen Vorstellungen, ließ sich nicht entscheiden. Und ob er eine noch immer zeitgemäße menschliche Erfindung war, das musste bezweifelt werden.

Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820-1895) radikalisierten Feuerbachs Erwägungen. Die Religion war nicht nur aus dem Individuum heraus zu verstehen, sie war vor allem auch ein gesellschaftliches Phänomen, „Opium des Volks“, eine kollektive Erfahrung, die auf gesellschaftsweite Erfahrungen antwortet – Marx 1844:

Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist [...] die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.
[...] Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. [13]

Die Erkenntnistheorie zu den weltanschaulich brisanten Positionen entwickelte sich in einer Anknüpfung und einer Kritik an Hegel und den deutschen Idealismus. Mit dem dialektischen Materialismus, der in den kommunistischen Staaten im 20. Jahrhundert offizielle erkenntnistheoretische Doktrin wurde, geht ein Bekenntnis zur Materie als Ausgangspunkt aller Erfahrung einher. Abbildungsprozesse schaffen im Bewusstsein ein Bild der materiellen Welt. Es geht darum, in einem kritischen Prozess dieses Bild fortschreitend zu objektivieren und Vorurteile aus der Weltsicht zu verbannen, psychologisch zu verstehende individuelle Vorurteile wie solche, die durch weltanschauliche Setzungen von politisch machtvollen Gruppen produziert werden. Eine größere Geschichtssicht korrespondierte mit der erkenntnistheoretischen Entscheidung.

Das Plädoyer für die Materie als dem alleinigen Gegenstand unserer empirischen Wahrnehmung verband sich mit dem Plädoyer für eine Politik, die den materiellen Lebensbedingungen den Wert zugestand, den sie für die ausgebeuteten Massen haben mussten. Es musste den Materialisten zukommen, die materielle Not der Arbeiter- und Bauernschaft anzuerkennen und auf die politische Tagesordnung zu holen. Im historischen Prozess des Klassenkampfes würde, so die Prognose des Marxismus, die Klasse, die die materielle Grundlage des Lebens aller Schichten der Gesellschaft herstellte, am Ende die Macht übernehmen; sie hatte mit ihrer Arbeitskraft die Macht effektiv bereits in ihren Händen und war sich dessen allenfalls noch nicht klar bewusst.

Repräsentanten der Kirchen und der bürgerlichen Nationalstaaten sahen im Kommunismus ihr längst gehegtes Feindbild Gestalt annehmen: die erste dezidiert atheistische Philosophie, die mit der Absage an die Religion und dem Bekenntnis zum Materiellen eine Verrohung der Massen einleiten würde, denen Macht hier allenfalls versprochen werde.

Erkenntnistheoretisch heikler war die Kritik, die sich im Positivismus mit der Wende ins 20. Jahrhundert gegenüber dem Materialismus formierte. Es gab im dialektischen Materialismus Entscheidungen zugunsten der Materie und eine dezidierte Theorie der Abbildung, die zur objektiven Erkenntnis führe. Das Philosophische Wörterbuch der DDR gab die Doktrin noch bis zum Zusammenbruch des Sozialismus wieder – so im Artikel „Abbild“, der als grundlegender gewertet sein wollte:

Abbild – Grundbegriff jeder materialistischen, insbesondere der marxistisch leninistischen Erkenntnistheorie. Abbilder sind ideelle Resultate des Widerspiegelungsprozesses, in dem sich die Menschen auf der Grundlage der gesellschaftlichen Praxis die objektive Realität vermittels des gesellschaftlichen Bewusstseins in verschiedenen Formen, wie Wissenschaft, Ideologie, Moral, Kunst, Religion, geistig aneignen. Sie entstehen in einem komplizierten Prozess der Übersetzung und Umsetzung des Materiellen in Ideelles (Marx/Engels 23, 27) der in seinem Verlauf sowohl durch die Struktur und Wirkungsweise des menschlichen Sinnes- und Nervensystems wie auch durch den Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Praxis bestimmt wird. [14]

Erkenntnistheoretisch betrachtet musste hier erstaunen, was mit der Materie korrespondierte: Ein Bereich des „Geistes“ und der „Ideen“, für den dieselbe Philosophie bei einer Ausrichtung auf die Materie doch kaum Platz haben konnte. Tatsächlich fehlt im selben Lexikon der Eintrag „Geist“, wohl weil man sich mit ihm tief in die Gedankenwelt des deutschen Idealismus begeben müsste. Interessant wurde im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie gegenüber dem Materialismus die Entscheidung, weder über die Materie noch über den Geist „unnötige“ Aussagen zu fällen, und wesentlich dezidierter mit der Wahrnehmung als dem allein gegebenen umzugehen.

Von Comte bis zu Mach und dem Wiener Kreis: Positivismus

(Siehe eingehender den Artikel Positivismus)

Der Positivismus wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts als erkenntnistheoretische Position interessanter. Das länger schon kursierende Wort fand sich zu diesem Zeitpunkt noch immer gemieden. Zu sehr war es verbunden mit dem französischen Beginn der positivistischen Philosophie als Auguste Comtes (1798-1857) Projekt eines wissenschaftlichen Religionsersatzes.

Empiriokritizismus“ war das Wort, das Ernst Mach (1838-1916) für die neue Strömung zu prägen suchte. Gegenüber dem Empirismus entfiel mit der neuen Theorie das Insistieren auf der Abbildung der Außenwelt im Bewusstsein. Gegenüber dem marxistischen Materialismus entfiel die Setzung, dass alles, womit wir umgingen, eine materielle Basis haben sollte, gegenüber den Idealisten die Suche nach Wahrheit hinter den Erscheinungen. Die Einstufung „Positivismus“ verdienten die neuen in der Physik beheimateten Denkrichtungen, da sie von lediglich einer Realität ausgingen – der des positiv nachweisbaren. „Positiv“ war dabei nicht anders gemeint als im Rahmen einer medizinischen Untersuchung, bei der man vom „positiven Befund“ spricht, wenn ein Nachweis, etwa eines bestimmten Krankheitserregers, unter vorab definierten Bedingungen gelingt. Wir gingen mit Empfindungen um – wobei offen bleiben konnte, ob sie geträumt oder von Materie erzeugt würden. Was sie verursachte, war Gegenstand der Modellbildung. Physik würde unter der neuen Theorie mit „als ob“-Setzungen betrieben: Unsere Datenlage kann sich so verhalten, „als ob“ es da Materie gebe. Was Materie wiederum sei, würde man in Versuchen klären müssen. Am Ende stünden Modellannahmen. Atome sind Teil einer solchen Modellannahme, sie entziehen sich mit ihren Atomkernen und um diese kreisenden Elektronen jeder Wahrnehmung; die beste Optik hilft uns da nicht weiter, da ein Lichtstrahl bereits zu grob ist, um ein Atom in seinen Einzelteilen sichtbar zu machen. Wir machen Versuche und entwerfen Atommodelle, die mit ihnen vereinbar sind. Unsere Modelle sind dabei so beschaffen, dass sich befriedigend mit ihnen rechnen lässt.

Die erkenntnistheoretischen Erwägungen, die Heinrich Hertz (1856-1894) und Ernst Mach ihren physikalischen Arbeiten mit auf den Weg gaben, gingen in der Chronologie den Revolutionen voran, die mit Niels Bohrs (1885-1962) Atommodell, mit Albert Einsteins (1879-1955) Relativitätstheorie und mit der heisenbergschen Unschärferelation folgten. Einstein schrieb Mach spät noch, dass die Relativitätstheorie kaum ohne dessen Philosophie denkbar gewesen wäre. Mit dem neuen Positivismus stand die Option im Raum, nicht länger nach einem uns plausiblen anschaulichen Bild der Welt zu suchen, sondern strikt Rechen- und Modellräume zu konzipieren, in denen sich Datenlagen „ökonomisch“, mit geringem Aufwand an Annahmen, verarbeiten ließen.

Aus traditionell erkenntnistheoretischer Sicht blieben die Darlegungen, die Hertz und Mach veröffentlichten, prekär. Damit, dass unser Bild der Welt aus Modellannahmen bestünde, konnten Empiristen wie Idealisten umgehen. Die Frage nach dem Subjekt, das ein Prinzip wie das der „Denkökonomie“ beherzigte, blieb ungeklärt. Das Subjekt machte sich doch erst als Teil der Masse der Empfindungen bemerkbar, es war selbst Ergebnis und Gegenstand der „Analyse der Empfindungen“. Hier beurteile also ein Interpretationsergebnis die Interpretation, und wie sollte man da beweisen, was gerade an einer irgendeiner Erklärung „denkökonomisch“ sei? Das empfand das Subjekt, das selbst nach diesem Prinzip behauptet wurde. Das alles war aus dialektisch materialistischer Sicht unbefriedigend durchdacht, schlechter als jede klare Entscheidung – so die marxistischen Materialisten rund um Lenin (1870-1924), die im Empiriokritizismus einen verkappten Rückfall in den Solipsismus, einen für den Kapitalismus typischen „bürgerlichen Relativismus“, sahen.

Von Wittgenstein bis in den Poststrukturalismus: Der „Linguistic Turn“

„Die Linguistische Wende“ fand Anfang des 20. Jahrhunderts in der Erkenntnistheorie ihren Startpunkt; sie breitete sich von hier aus weit in die Geisteswissenschaften aus, die sie schließlich mit dem Poststrukturalismus und der Postmoderne durchdrang. Vorbereitet hatten die Wende auf dem Gebiet der Logik Gottlob Frege (1848-1925) und Bertrand Russell (1872-1970); mit Entschiedenheit vollzog sie Ludwig Wittgenstein (1889-1951) mit dem Tractatus Logico-Philosophicus (1922). Sie bestand, kurz formuliert, in einer Verlagerung der bisherigen Fragestellungen der Erkenntnistheorie auf das Gebiet der Aussagenlogik im besonderen und der Sprache im allgemeinen.

Bild A
Bild B
Bild C

Es musste erstaunen, dass eine solche Verlagerung möglich sein sollte. Wir klagen darüber, dass unsere Sprache kaum hinreicht, um auszudrücken, was wir ausdrücken wollen. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, heißt es landläufig. Mit dem Tractatus verwies Wittgenstein darauf, dass wir alles, was uns ein Bild sagt, in Aussagen fassen können.

Warum ist Bild A in der nebenstehenden Reihe ein Bild des Kölner Doms? Warum ist Bild B das nicht? In dem Moment, in dem wir Antworten auf diese Fragen geben, verweisen wir auf Aspekte der Bilder, die für uns Aussagen des Bildes über Sachverhalte gleich kommen. „Nach Bild B dürfte der Kölner Dom nur einen Turm haben, das ist jedoch nicht der Fall.“, so mag die erste Feststellung lauten. Der Architekturkenner wird nachsetzen und in Detailaussagen auf all die Aspekte verweisen, anhand derer er erkennen kann, dass Bild B tatsächlich das Straßburger Münster zeigt. Warum ist Bild C mit Bild A identisch? Kurz gesagt: „Weil auf Bild C alles ebenso der Fall ist wie auf Bild A.“ Wir könnten jeden Bildpunkt, in den sich Bild C zerlegen lässt, als Aussage über einen Sachverhalt formulieren. „Pixel 1 in Bild C hat Farbwert #123456 – was das korrespondierende Pixel 1 in Bild A anbetrifft, erweist sich dasselbe als der Fall.

So genau, wie wir die Eigenschaften irgendeines Dinges wahrnehmen, hantieren wir mit Aussagen zu ihm – das merken wir, wenn man uns einen Ersatz unterschiebt. Wir können sofort sagen: „Das ist nicht meine Hose, die hatte dort ein Etikett, hier eine Naht mehr, daran würde ich sie wiedererkennen.“ Wenn wir unter zwei Hosen die unserige in einer Wäscherei nicht mehr identifizieren können, dann ist genau dies das Problem: „Soweit ich sie bewusst wahrnahm, kann es diese oder die andere sein, in allen Sachverhalten, die ich mir merkte, sind beide gleich.“

Wir produzieren ein Raster an Aussagen. In diesem formulieren wir unsere Erkenntnis. Der Jahrhunderte alte Streit zwischen Empiristen und Idealisten stürzte im selben Moment in sich zusammen. Aussagen, so hielt Wittgenstein fest, sind für uns nur so weit sinnvoll, wie wir wissen, was der Fall sein soll, wenn sie wahr sein sollen. Um Aussagen zu produzieren, benötigen wir damit durchaus keine Empirie. „Auf dem Mond hat man nur ein Sechstel seines Gewichts.“ Die Aussage erwies sich als der Fall, als man dort war, sie war jedoch sinnvoll bereits zuvor formuliert. Wittgenstein war Empiriker, wenn es um die Tatsachen ging, aber Idealist, wenn es um die Aussagen ging, die für uns erst einmal sinnvoll sein müssen, bevor wir im Blick auf die Dinge sagen, ob sie wahr oder unwahr sind.

Die Grenzen unserer Erkenntnis ließen sich im Blick auf die Aussagen glatt definieren – Wittgenstein benötigte dabei nicht mehr Worte wie „Transzendenz“, „Metaphysik“, „Ding an sich“, er blieb mit seinen Worten und Überlegungen innerhalb der Grenzen: Wo wir Aussagen produzieren, bei denen wir nicht wissen, bei welcher Lage der Dinge wir sie für wahr oder falsch erachten wollen, bewegen wir uns nicht mehr im Bereich für uns sinnvoller abbildender Aussagen. Soweit die Welt Gegenstand unserer Erkenntnis wird, tut sie dies im Bereich der Sachverhalte, die sich bei einer Überprüfung als gegeben, „der Fall“ erweisen. Man kann darum im Blick auf die Aussagen zu möglichen Sachverhalten sagen: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (so Wittgenstein im ersten Satz des Tractatus 1922). Man konnte im selben Moment aus der Erkenntnistheorie Projekte ausklammern: Aussagen über Kausalität boten, wie Hume bereits postuliert hatte, gegenüber Aussagen von der Art „wenn x geschieht, dann geschieht danach y“ keinen Mehrwert an Information dazu, was der Fall sein soll, wenn sie wahr sind. Behauptungen über Kausalität ließen sich demnach nicht in sinnvollen abbildenden Aussagen machen. Moralische Aussagen ließen sich sinnvoll zwar im Blick auf Zielvorgaben machen, doch blieben sie für sich genommen unverifizierbare Aussagen. Wittgenstein notierte, dass diese Endergebnisse banal waren – weshalb aber sollten sich, so fragte er in der Vorrede des Tractatus, hinter den unlösbaren Problemen der Erkenntnistheorie besonders tiefe Wahrheiten verbergen? Man war letztlich Jahrhunderte lang damit umgegangen, dass sie insoweit lösbar seien, wie man das Projekt nicht mit den falschen Fragen belastet. Einige Zeit würde es, so mutmaßte er, dauern, bis man die Probleme der Erkenntnistheorie entmystifiziert habe. Die Wissenschaft ging zu diesem Zeitpunkt längst mit Aussagen um, wie er es skizziert hatte.

Zwischen Konstruktion und Dekonstruktion von Wissensformationen: Aktuelle Debattenlandschaft

Bis zum Ende des Kalten Kriegs in den 1980ern gab es zumindest noch eine verbleibende staatlicherseits vertretene philosophische Erkenntnistheorie: die des dialektischen Materialismus der Marxistisch-Lenininistischen Philosophie. Eine spezifische Erkenntnistheorie der westlichen Staaten etablierte sich dagegen nicht. Selbst westliche „linke“ Strömungen suchten kaum Brückenschläge in den dialektischen Materialismus, den philosophische Lexika der Ostblockstaaten propagierten. „Linke“ westliche Philosophen wie Michel Foucault erschienen, vom harten Standpunkt des dialektischen Materialismus aus betrachtet, einem bürgerlichen Relativismus verpflichtet. Die Verlagerung philosophischer Probleme auf das Gebiet der Aussagen oder das „dekonstruktivistische“ Nachdenken über ideengeschichtliche Formationen und über Macht im Allgemeinen blieben im Ostblock unakzeptable Denkbewegungen.

In den westlichen Gesellschaften büßte die Erkenntnistheorie ihrerseits in der öffentlichen Wahrnehmung Rang ein. Die Naturwissenschaften wurden der Ort der Fragen nach Geist, Materie und Energie. Einzelne, verwirrende Theoreme drangen aus den Wissenschaften bei dieser Positionsverteilung in die philosophische Tagesdebatte ein. Man liest in philosophischen Essays vom „Welle-Teilchen-Dualismus“, wenn es darum geht, die Relativität heutiger Sichtweisen spektakulär zu belegen. Wo es um Willensfreiheit geht, kommen Neurologen und Chaosforscher zu Wort. Physiker wie Stephen Hawking avancierten in der öffentlichen Wahrnehmung zu den neuen Weltweisen, denen man noch am ehesten die Erklärung aller Dinge zutraute. Universitär betriebene Erkenntnistheorie ist heute oft gekennzeichnet von einem Spagat zwischen strenger Ausrichtung auf die historische Debatte und einer Suche nach Fragen und Antworten der modernen Wissenschaften. Impulse kommen dabei weit öfter aus diesen, als sie von der Philosophie aus in sie verlaufen.

Mit der erkenntnistheoretischen Debatte ging im Lauf des 20. Jahrhunderts eine Verselbstständigung des ethischen Projekts einher. Lieferte Wittgenstein noch den Nachweis, dass die Erkenntnistheorie an Grenzen stößt, wo sie in die Ethik vordringen will, so ist die Frage heute, ob die Ethik nicht als unabhängige Instanz gegenüber den Wissenschaften benötigt wird, um diesen Grenzen zu setzen. Ethikkommissionen werden einberufen, um zu entscheiden, wo die Forschung halt machen sollte.

Das Spektrum gegenwärtiger erkenntnistheoretischer Richtungen ging unter diesen Außenbedingungen nicht bruchlos aus den Diskussionen des 19. Jahrhunderts hervor. Man kann es gegenwärtig in drei Debattenfelder teilen, denen eine gewisse Geographie der Diskussionsorte entspricht.

Es gibt Felder

  1. einer linken, auf die Geschichte und die Gesellschaft ausgerichteten Diskussion; hier stehen „bürgerliche“ Richtung der Kulturanthropologie und der Kulturgeschichtsschreibung deutschen Zuschnitts einer eher vom Marxismus ausgehenden ideologiekritischen gegenüber, deren wichtigste Vertreter die französischen Theoretiker um Michel Foucault und Jacques Derrida wurden;
  2. einer auf den Erkenntnisapparat, das Gehirn, den Geist ausgerichteten Diskussion – mit einem Spektrum von der evolutionären Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes bis zur Artificial Intelligence-Forschung;
  3. einer auf die Wissenschaftstheorie ausgerichteten Diskussion mit einem Spektrum von Positionen, die die Positivismus-Debatte des 19. Jahrhunderts fortsetzen, nun jedoch als neue Option den - postmodernen - Bruch mit der Theoriefixierung im Spiel haben: der Pragmatismus, das anything goes, der Methodenpluralismus gehören in dieses Feld, Richard Rorty, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend sind hier Vertreter namhafter Richtungen.

Alle drei Bereiche boten sich den laufenden gesellschaftlichen Konfrontationen wie der Forschung der Naturwissenschaften unterschiedlich offen als Kooperationspartner an.

Die auf die kulturelle Konstitution von Wissen ausgerichtete Diskussion

Strukturalisten wie Ferdinand de Saussure, Claude Lévi-Strauss, Roman Jacobson und Poststrukturalisten wie Jacques Derrida, Roland Barthes oder Michel Foucault zählen in der modernen Philosophiegeschichtsschreibung sicherlich nicht zu den Erkenntnistheoretikern im herkömmlichen Sinn. Ihre Arbeiten stellten Weichen auf den Gebieten der Linguistik, der Literaturwissenschaft, der aktuellen Kulturdebatte. Sie in einem Artikel zu Erkenntnistheorie zu erwähnen, liegt in historischer Perspektive nahe. Gemeinsam ist ihnen ein Nachdenken über die Sprache als Medium der Herstellung von Bedeutung. Der Poststrukturalismus ging dabei in einer kritischen Wendung in den späten 1960ern aus dem Strukturalismus hervor. In Zusammenhang mit den methodischen Optionen von Strukturalismus und Poststrukturalismus kann auch eine bestimmte moderne Schule der französischen Wissenschaftstheorie gesehen werden, die sogenannte Épistémologie. Die Systemtheorie ging in den 1970er Jahren aus dem Strukturalismus hervor.

Strukturalismus und Poststrukturalismus

Zielte unter den Strukturalisten das Nachdenken auf die einzelnen Äußerungen ab, so suchte – verknappt formuliert – der Poststrukturalismus den Kontext. Eine Äußerung erhält, so die Strukturalisten, ihre Bedeutung dadurch, dass sie eine Bedeutung in einem System möglicher Bedeutungsdifferenzen setzt. Mit Strukturanalysen gilt es, die in einer Äußerung fixierten Entscheidungen zu erfassen, die ihr ihre spezielle Bedeutung geben. Wir differenzieren Laute, um Worte voneinander zu unterscheiden, wir bilden ein System grammatikalischer Optionen, um Worte in Sätzen zu unterschiedlichen Aussagen gruppieren zu können. Ein sprachliches Kunstwerk wiederum setzt sich von einem normalen Text durch einen besonderen „poetischen“ oder „literarischen“ Sprachgebrauch ab, der eigene Regeln kennt, respektive sich in Regelverstößen gegenüber der normalen Sprache definiert. Die Vertreter des Poststrukturalismus verwiesen in Kritik an der lokalen Strukturanalyse darauf, dass in tatsächlich immer erst der Kontext die Bedeutungsdifferenzierung erlaubt. Man bemerkt das, sobald man etwas definiert: Man muss dabei auf andere Worte ausweichen, mit ihnen das Gemeinte erklären. Ein Kontextwissen aus Sprach- oder Kunstkenntnis erlaubt es uns, den jeweiligen Text oder das jeweilige Kunstwerk zu würdigen. Beiden Richtungen gemeinsam blieb die Tendenz, Erkenntnis grundsätzlich aus der Sprachanalyse heraus zu begreifen – entweder in einer Bewegung, die allen Wahrnehmungsfeldern unterstellt, dass sie wie Sprache funktionieren (so analysierte Roland Barthes in Mythen des Alltags 1957 Titelcover, Photographien, Autokarosserien ideologiekritisch als Botschaften einer von uns allen verstandenen Sprache der Bilder und des modernen Designs). Mit ähnlichem Effekt konnte man jedoch auch alle nichtsprachlichen Gegenstände auf rein sprachliche reduzieren. Strukturalisten und Poststrukturalisten taten dies wiederholt mit Behauptungen, unser Nachdenken und unsere Erkenntnis fänden letztlich immer in der Sprache statt, in der wir uns über unsere Erkenntnis äußern, ja wir seien kaum fähig, etwas wahrzunehmen, für das uns eine sprachliche Kategorie fehle.

Die wegweisenden Arbeiten, die heute dem Poststrukturalismus zugeordnet werden, wie diejenigen Michel Foucaults, galten nicht der Erkenntnistheorie – sie setzten allenfalls erkenntnistheoretische Grundsatzentscheidungen über das Zustandekommen von Bedeutung voraus. Sie selbst galten der Konstitution von Bedeutung in Epochenumbrüchen, Machtrelationen oder der Sexualität als Ordnungskonstante im menschlichen Zusammenleben. Foucault interessierte sich für historische Entwicklungen. Der Blick ging ideologiekritisch in der Skizze der Entwicklungen auf die Konstruktion von Bedeutung in der Gesellschaft. Die Analyse ließ sich im selben Moment als „Dekonstruktion“ verstehen: Dort, wo nachskizziert wurde, wie es dazu kam, dass wir ein bestimmtes Wissen im Lauf der Geschichte systematisch formierten, wird effektiv derselbe Wissensbestand zerlegt in historisch verfügbare Einzelteile. Macht oder Sexualität als Ergebnisse einer historischen Konstruktion von Bedeutung zu erfassen, heißt, so die kritische Wendung, ihnen im selben Moment alles Natürliche abzusprechen und ihnen damit die Macht als unwandelbare Gegebenheiten menschlichen Lebens zu nehmen.

Ihre politische Sprengkraft entfaltete die „Dekonstruktion“ in der grenzüberschreitenden Kontroverse zwischen der Ideologiekritik des Marxismus, wie sie im Ostblock regimegeschützt fortbestand, und der traditionellen bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Beide Felder klassischer Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie gingen von Objektivität des möglichen Wissens aus. Die Naturgesetze galten unabhängig davon, ob eine Kultur sie erfasste oder nicht; die Wissensbestände über Psychologie, Sexualität, Soziologie, Biologie oder Medizin waren (so die Marxisten wie die Vertreter der bürgerlichen Geschichtsschreibung) grundsätzlich zu formulieren, auch wenn nicht jede Kultur an den Punkt gelangte, an dem sie diese Wissensgebiete definierte. Macht oder Sexualität sollten im Marxismus wie in der bürgerlichen Kulturgeschichtsschreibung Bereiche der Wahrheit sein: Es gibt, wenn man sich etwa mit Macht befasst, immer ein Oben und Unten; so definierte sich Macht. Es gibt in der Machtausübung immer Faktoren wie Zwang, ganz so wie es in den menschlichen Geschlechterrelationen von Natur aus eine Polarisierung der Geschlechter gibt. Hier trat französische Theorie der 1960er und 1970er mit einer Perspektive auf, die die beiden entgegengesetzten Lager rechter und linker Philosophie zu entmachten drohte, wenn sie Macht oder Sexualität als diskursive Einheiten betrachtete, nicht als natürliche, objektiv bestehende. In populären Darstellungen wird hin und wieder der Eindruck erweckt, Strukturalisten und Poststrukturalisten würden die Welt und unser Wissen als beliebig konstruiertes quasi-sprachliches Konglomerat erfassen und ihnen vorgeworfen, objektive Tatbestände zu verschleiern.

Systemtheorie

Strukturalismus und Poststrukturalismus waren stark auf kulturell tradierte Formationen von (beanspruchtem) Wissen ausgerichtete Theorieansätze. Die Systemtheorie rezipiert auch einige Elemente des Strukturalismus. Dabei analysiert sie sämtliche Gegenstandsbereiche als "Systeme". Ein "System" wird dabei als durch Operationen der Unterscheidung und Beobachtung erzeugt verstanden. Systemtheoretische Ansätze beziehen Anregungen aber nicht nur aus strukturalistischen Theorien, sondern verschiedensten Forschungsbereichen. Darunter zählen besonders die „Allgemeine Systemtheorie“ und die Theorie „Komplexer adaptiver Systeme“ in den Naturwissenschaften (Ludwig von Bertalanffy, John H. Holland, Murray Gell-Mann), die Kybernetik (William Ross Ashby, Norbert Wiener, Heinz von Foerster), verschiedene andere logische bzw. mathematische Impulse (etwa die Kalküle von Gotthard Günther und George Spencer-Brown), einige informations- (etwa von Gregory Bateson) und ingenieurswissenschaftliche sowie wirtschaftswissenschaftliche Grundideen. Als soziologische Theorie wurde die moderne Systemtheorie von Talcott Parsons begründet und von Niklas Luhmann ausgearbeitet, der wichtige Teilsysteme der funktionsteiligen modernen Gesellschaft analysierte und dies zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft fortführte.

In eine spezifisch deutschsprachige Konkurrenz zu französischen Diskurstheorien traten vor allem Luhmann und seine Nachfolger. Zentral sind Unterscheidungs- und Beobachtungsoperationen. Zunächst einmal unterscheidet sich ein System von seiner jeweiligen Umwelt - durch eine Unterscheidungsoperation, welche dieses System selbst hervorbringt. In Folgeschritten bildet ein System dann weitere Unterscheidungen aus. Unterscheidungen besitzen eine zweiseitige Form. Pro Unterscheidung wird jeweils eine der beiden Seiten akzentuiert. An dieser kann dann fortgefahren werden, zu unterscheiden. Beispielsweise kann ein System seine Umwelt feinkörniger unterscheiden. Dabei werden stets nur eigene Unterscheidungsformen angewendet und sich auf eigene Unterscheidungsleistungen bezogen. Dieser Autonomie (s. auch Autopoiesis) entspricht eine konstruktivistische erkenntnistheoretische Position.

Strukturalismus, Poststrukturalismus und Systemtheorie wurden in den 1990ern gleichlautenden Kritiken unterzogen: Ihre Erklärungen seien beliebig, empirisch gehaltlos und unüberprüfbar. Wer bestimmt, welche zu beobachtende Relation ein System bilde – hier kann vom jeweils Untersuchenden alles zum System erklärt werden und alles zu jeweiliger Umwelt des beobachteten Systems. Wie beweist man, dass wir nur wahrnehmen, wofür wir (wie Strukturalisten meinen) sprachliche Kategorien besitzen oder Formen konstruieren (wie einige systemtheoretische Theoretiker sagen)? Wenn Bedeutung in Äußerungen liegt, oder in einer größeren Sprache, die jeder Aussage Kontexte gibt – warum erweist es sich dann noch immer als schwierig, Computerprogrammen das Übersetzen zwischen verschiedenen Sprachen beizubringen? Wie ist das Verhältnis vom beobachteten „System“ oder „Diskurs“ zur „wirklichen Welt“, kann man über sie überhaupt noch sprechen, muss bzw. kann da überhaupt noch ein Verhältnis bestehen? Hat man nicht vorschnell beschlossen, über die „wirkliche Welt“ nicht mehr nachzudenken und ganz bei den Wissensformationen und sprachlichen Abbildungen dieser Welt zu verbleiben? – so die Fragen, die sowohl aus der naturwissenschaftlich-technisch orientierten Debatte, wie aus der klassischen linken, an Lebensbedingungen interessierten Philosophie, wie aus Lagern einer neuen, sich unter dem Label New Historicism formierenden, strengeren Geschichtsforschung den „theorielastigen“ Schulen entgegengebracht wurden.

Die auf den Erkenntnisapparat und die Informationsverarbeitung ausgerichtete Diskussion

Die evolutionäre Erkenntnistheorie, die Philosophie des Geistes, die Künstliche Intelligenz-Forschung lassen sich, selbst wo sie über ihre Vertreter mit den Naturwissenschaften verbunden sind, weitaus klarer auf die klassischen erkenntnistheoretischen Debatten zurückbeziehen als Strukturalismus, Poststrukturalismus und Systemtheorie.

Evolutionäre Erkenntnistheorie

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie bildet dabei eine anfangs[15] vergleichsweise deutsche Traditionslinie. Konrad Lorenz, Rupert Riedl, Gerhard Vollmer setzten eine Auseinandersetzung mit der deutschen idealistischen Philosophie fort, gerade wenn sie versuchten, deren Fragen naturwissenschaftlich zu entzaubern. Warum denken wir in Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität? Kant hatte diese Kategorien als a priori unseres Nachdenkens anerkannt: Wir benötigen sie, bevor wir in ihnen nachdenken. Die evolutionäre Erkenntnistheorie gibt denselben Kategorien in einem Brückenschlag in die Biologie und den Positivismus (Ernst Machs Empiriokritizismus nahm hier wesentliche Positionen vorweg) eine am Ende materialistische Geschichte: Raum, Zeit und Kausalität sind, so die Erklärung, Wahrnehmungsmuster, die sich im Laufe der Evolution als einfach nur praktisch erwiesen. Der biologische Erkenntnisapparat, unsere Sinnesorgane, unsere Gehirnfunktionen schaffen die Kategorien und Dimensionen unserer Wahrnehmung. So zu denken, wie wir das tun, erwies sich schlicht als Überlebensvorteil. Das ließ sich auf kulturell gebundene Wahrnehmungsmuster ausdehnen: Kulturen entwickeln Erkenntnisse und Erkenntnismuster und stehen mit diesen in einer Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und untereinander in einem evolutionären Wettstreit.

Aus Sicht der dekonstruktivistischen, auf die Sprache als Medium unseres Denkens ausgerichteten Diskurstheorien, wie aus Sicht der poststrukturalistischen Geschichtsschreibung erschienen die hier gewonnenen Theoreme beklemmend schlicht: Sie schaffen eine untere Ebene universeller Wahrnehmungsmuster, die für Mensch und Tier gelten sollen. Hier wird kaum erklärt, warum es dann doch eine erhebliche Vielfalt in der „Erkenntnis“ zwischen verschiedenen Kulturen gibt. Auf der höheren Ebene, auf der man kulturelle Ausformungen unserer Wahrnehmungsmuster zulässt, wird − so die Kritiker von Seiten der Diskurstheorie − nicht wesentlich komplexer gedacht: Darwinismus wird hier auf die Kulturgeschichte übertragen. Wissen wir jedoch, ob sich die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster verschiedener Kulturen in einem Wettstreit um das „Überleben“ miteinander befinden? Können wir sagen, dass alle Erkenntnisse „nützlich“ im Umgang mit der Welt sind? Zirkelschlüsse weist die Evolutionäre Erkenntnistheorie aus Sicht der strengen idealistischen oder positivistischen Philosophie auf: Materie, die Existenz von Körpern, deren Evolution - all dies wird von der evolutionären Erkenntnistheorie vorausgesetzt. Sie benötigt die der Evolution unterworfene Materie für die Produktion der biologischen Erkenntnisapparate, die am Ende der Evolution eben in Kategorien wie Materie, Raum, Zeit und Kausalität denken sollen. Ein Glaube an die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle stabilisiert die evolutionäre Erkenntnistheorie.

Daneben gibt es in der evolutionären Erkenntnistheorie auch eine skeptischere Position. Sie wurde von einer kleinen Minderheit der Anhänger des Kritischen Rationalismus vertreten,[16] vorwiegend Karl R. Popper und Donald T. Campbell. Sie bestreiten, dass es sichere Evidenz gibt - auch nicht in naturwissenschaftlichen bzw. naturalistischen und insbesondere auch nicht evolutionären Erklärungen. Jeder Versuch, bestimmte Meinungen als wahr und gewiss herauszusondern (als "Wissen"), müsse scheitern.[17] Es gebe insbesondere auch im Rahmen evolutionärer Modellbildungen nur blinde Variation zusammen mit selektiver, ausschließlich negativer Rückkopplung. Die Evolution der Lebewesen und die Evolution des menschlichen Wissens gehen dabei ineinander über; sie beide stellen einen objektiven Problemlösungs- und Lernprozess dar, der im Wesentlichen auf den gleichen Prinzipien basiert. Die Selektion in der natürlichen Evolution entspricht dabei der Kritik im Bereich des menschlichen Wissens: „Diese Art der Information – die Abweisung unserer Theorien durch die Wirklichkeit – ist […] in meinen Augen die einzige Information, die wir von der Realität bekommen können: alles andere ist unsere eigene Zutat.“[18] Die Entwicklung basiert demnach also auf der Fehlerkorrektur im Bezug auf eine objektive Problemsituation. Verbunden mit der Position ist ein radikaler, aber nichtbegründender Apriorismus: Jegliches Wissen wird als dem „Inhalt nach a priori, nämlich genetisch a priori“[19] angesehen, nicht jedoch als a priori gültig oder begründet. Aufgrund seiner antierkenntistheoretischen Haltung wird diese Position gemeinhin als Totalskeptizismus oder Totalirrationalismus kritisiert[20][21][22][23][24] und weitestgehend ignoriert.[25][26] David Miller, der prominenteste zeitgenössische Vertreter dieser Position, hat sie bekräftigt und die Kritik zurückgewiesen.[27] (Für den Fall, dass es nur um Worte geht, ist er bereit, die Bezeichnung ‚Irrationalist‘ zu akzeptieren.[28]) Er vertritt den Standpunkt, dass die Sichtweise die aktuell einzige existierende ist, die – trotz vieler ungelöster Probleme – im Ansatz ernsthaft behaupten kann, logisch haltbar zu sein.[29]

Künstliche-Intelligenz-Forschung

Tandy radio shack 1650 aus den 80er Jahren
Schematisches Diagramm des Tandy radio shack 1650

In eine eigene mehr durch technologische Projekte bestimmte Problemzone drang die Künstliche-Intelligenz-Forschung vor. An einer Stelle ist sie jedoch mit der Evolutionären Erkenntnistheorie verbunden: Sie fragt aus den Naturwissenschaften und der Konstruktion von Maschinen kommend, wo Verstehen anfängt, wo Bewusstsein einsetzt? Beide Fragen werden virulent, wo immer wir Maschinen bauen, die uns Denkvorgänge abnehmen und zur Interaktion zur Verfügung stehen. Schachcomputer spielen Handlungsverläufe von Schachpartien weit effizienter durch, als wir dies könnten; sie tun dabei letztlich durchaus nichts anderes, als wir selbst täten, wenn wir schneller denken könnten und Handlungsverläufe besser memorieren könnten – dennoch gehen wir nicht davon aus, dass sie denken. Wir kommunizieren mit Maschinen, wenn wir eine Bestellung per Telefon über ein Spracherkennungsverfahren abgeben. Die von uns konstruierten Maschinen reagieren auf uns, wir reagieren auf sie. Wann, so die erkenntnistheoretische Grundfrage, beginnen solche von uns konstruierten Maschinen zu denken, wann „wissen“ sie, wovon sie gerade reden, wann entsteht ein „Bewusstsein“ auf Seiten der korrekt reagierenden Maschinen? Die Frage weckt kommerzielle Interessen: Suchmaschinen erfassen die Seiten des Internets – es wäre ein immenser Vorteil, wenn sie „verstehen“ könnten, worum es auf den ausgewerteten Internetseiten geht. Sprachprogramme, die Übersetzungen liefern, würden uns das Leben erheblich vereinfachen. Müssen sie verstehen können, was sie übersetzen? Ein Zweig der Forschung (ausführlicher der Artikel Maschinelle Übersetzung) optimiert die schlichte Zuordnung anerkannt gleichbedeutender, bereits vorliegender Textpassagen: Die Maschine durchsucht einen Vorrat an parallelem Sprachmaterial, bis sie in ihm eine Passage findet, die sie als Übersetzung anbieten kann. Der andere Zweig der Forschung simuliert ein Verstehen des Ausgangstextes: Sätze werden analysiert, ihre Bedeutung wird bis an den Punkt aufgegliedert, an dem die Maschine eine korrekte und vollständige Kette an Aussagen zum Inhalt bilden kann – sie benötigt dazu Wissen über die Sprache und „Weltwissen“, Wissen, was da tatsächlich gemeint ist. Im dritten Schritt drückt sie ihr Wissen über die gemachten Aussagen in der Zielsprache aus. Das scheint Verständnis zu simulieren; und funktioniert bislang schlechter als das erste Verfahren – weil wirkliches Verständnis dabei noch immer nicht zustandekommt? Alan Turing notierte in einer erkenntnistheoretischen Wendung bereits in den 1950ern das Problem, auf das die Entwicklung zuschreitet, auf Seiten des Beobachters: Wissen wir, ob der Mensch, mit dem wir kommunizieren, mit einem Bewusstsein ausgestattet ist (so wie wir)? Wir denken es uns, um mit ihm angemessen umgehen zu können. In dem Moment, in dem eine Maschine uns konsistent auf Fragen antworten wird, werden wir (lange bevor wir die Antwort auf die Frage haben, ob Maschinen denken können oder nicht) schlicht nicht mehr sagen können, ob ein Denken hinter den Antworten liegt, oder ob hier nur dauernd nur überzeugende Reaktionen auf Fragen geliefert werden - „ohne Bewusstsein dahinter“. Seit 1990 ist der Loebner-Preis auf den ersten erfolgreichen Turing-Test ausgesetzt. Noch gelang es keinem Computer, einen Menschen in seinen Antworten erfolgreich auch nur nachzuahmen. Es sieht so aus, als ob ein bestimmtes Weltwissen nötig ist, wo sinnvoll auf Fragen reagiert werden oder angemessen übersetzt werden soll. Man kann im Moment noch darüber streiten, in wiefern dieses Wissen mehr ist, als ein Spiel nach Regeln, in dem Antworten mit möglichen Fragen zu vorab definierten Gegenständen der Erkenntnis verknüpft sind.

Renaissance der Philosophie des Geistes

In der Philosophie des Geistes werden die Strömungen zusammengefasst, die auf die Biologie, die Linguistik oder die klassische idealistische, den Geist gegenüber der Materie voraussetzende Philosophie rekurrierend der Frage nachgehen, wie Geist und Körper, Leib und Seele, Sprache und Denken zueinander stehen. Der gesamte hier bestehende Forschungsbereich verknüpft historische Debatten der Körper-Geist-Debatte mit aktuellen Fragestellungen aus Naturwissenschaften und Technik, und entwickelte sich in dieser Kooperation in den letzten Jahren weitgehend unabhängig von der entschieden politischer und ideologiekritischer ausgerichteten Diskurstheorie.

Die auf die Theorie der Wissenschaften ausgerichtete Diskussion

Die Vertreter des Pragmatismus, des „anything goes“, des Methodenpluralismus und der sogenannten postanalytischen Philosophie setzten in einer vor allem angloamerikanischen, zum geringeren Teil auch deutschen Traditionslinie die mit dem klassischen Positivismus eröffnete Debatte des frühen 20. Jahrhunderts fort. Wichtige Namen sind hier William James, Ferdinand Canning Scott Schiller, George Herbert Mead und John Dewey, Richard Rorty als Philosophen des Pragmatismus und Paul Feyerabend und Thomas Kuhn als Vertreter einer eher methodenpluralistischen relativistischen Erkenntnistheorie.

Wissen muss handhabbar bleiben: Pragmatismus

Pragmatisten können wie John Dewey biologistisch-darwinistisch argumentieren: Erkenntnisse „setzen sich durch“, sie tun dies nicht so sehr als „wahre“ denn als „nutzbare“ (darum das Wort „Pragmatismus“), Vorteile verschaffende. Sie können ebenso der analytischen Erkenntnistheorie des späten Positivismus nahestehen und Fragen über Geist und Materie zurückstellen gegenüber einer Suche nach mathematisch handhabbaren Modellen der Realität.

Paul Feyerabend und Thomas Kuhn teilen einige Intuitionen des Pragmatismus und haben sich besonders für Wissenschaftsgeschichte und Theorienwandel interessiert: Wissen ordnet sich in große Formationen, Paradigmen. Der Begriff „Paradigma“ bezeichnet dabei anscheinend nicht nur eine spezifische Theorie, sondern alles, was diese unmittelbar ermöglicht, plausibilisiert, spezifiziert, anwendbar macht. Paradigmen werden so lange als möglich beibehalten. Erst wenn zu viele Phänomene auftreten, die sich nicht in ein bestehendes Paradigma fügen, werden neue Paradigmen bereitgestellt. Die Entscheidung für das eine oder andere Paradigma ist dann keine Sache von besseren oder schlechteren Gründen, denn zwei Paradigmen seien nicht vergleichbar, nur ihre Rhetorik[30]. Später will Kuhn sein Hauptwerk anders verstanden wissen: es liefere implizit Kriterien für gute Theorien: Akkuratheit, Reichweite, Einfachheit, Fruchtbarkeit[31]. Im Regelfall jedenfalls hat ein neues Paradigma auch neue Formulierungen auf anderen oder allen etablierten Gebieten des Wissens zur Folge. So setzte etwa die moderne Atomtheorie in einem Paradigmenwechsel die alte Theorie der vier Elemente außer Kraft – es wurden im selben Moment ganz neue Forschungen in allen Bereichen der Naturwissenschaften und der Medizin nötig. Falls sich die Mehrheit der Forscher einem neuen Paradigma anschließt, ist ein Paradigmenwechsel vollzogen.

Hinsichtlich etwa der Erweiterung des Untersuchungsgegenstands um vordiskursive, nicht explizite Möglichkeitsbedingungen und der Betonung der Abhängigkeit von Wissensproduktion von diesen wird ähnlich gedacht wie bei einigen französischen Theoretikern. Für viele Vertreter des Pragmatismus unterliegen Wissen und Theoriebildung wesentlich der Nutzung. Die Wandlung von Wissen unterliege daher dem Kriterium der Nützlichkeit. Letztere Größe wird allerdings kaum selbst Gegenstand pragmatischer Theorien. Aus der Sicht dieser Theoretiker ließe sich daher einwenden: Nützlichkeit wird in historischen Prozessen bestimmtem Wissen zugeschrieben, ist also selbst nur Ergebnis von Diskursen über das Wissen um Nützlichkeiten.

In diesem Zusammenhang ist auch auf die pragmatistische, durch Wittgenstein geprägte Argumentations- und Wissenschaftstheorie Stephen Toulmins hinzuweisen, der zugleich einer der bekannteren Kritiker Kuhns ist. In jüngeren Debatten ist der amerikanische Pragmatismus in der von William James, Charles Sanders Peirce und John Dewey vertretenen Form zu neuer Bedeutung gelangt. Entscheidend dabei war besonders die - deutlich unterschiedlich akzentuierte - Rezeption durch Hilary Putnam und Richard Rorty. Der interne Realismus Putnams ist nach üblichen Kategorisierungen als Antirealismus zu bezeichnen, hält aber an Konzepten wie Wahrheit, Referenz, Intentionalität und dergleichen fest, wenngleich er Fragen wie „welches Begriffsschema ist das richtige?“ für sinnlos erachtet. Die leitende Intuition dabei ist, „dem Realismus ein menschliches Gesicht zu geben“, was etwa meint, die richtigen Einsichten realistischer Traditionen gegen eine Fixierung zu schützen, wie sie aus Putnams Sicht mit dem metaphysischen Realismus analytischer Theoretiker einherging. Diese verliere jeden Kontakt mit demjenigen Leben, welches wir mit unseren Begriffen führen. Rorty dagegen ist Antirealist und vertritt, dass etwa „Wahrheit“ nur eine Abschlussvokabel sei, um Diskussionen für beendet zu erklären und jede Argumentation letztlich Rhetorik sei - und dies auch theoretisch einzusehen sei der erste Schritt zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität. Dem manchmal so genannten „Neopragmatismus“ wird auch Jason Stanley zugerechnet, der eine pragmatistische gegen semantische Formen des Kontextualismus verteidigt.

Anything goes: Optionen des Methodenpluralismus

Eigenen Rang gewannen die Vertreter des „anything goes“ und des Methodenpluralismus mit dem Plädoyer für eine Vielfalt, wenn nicht Anarchie der gleichberechtigten Erklärungsmodelle. Man kann in einem bestimmten Kontext ein Modell anwenden, in einem anderen Kontext ein anderes, das womöglich mit dem ersten vollkommen unvereinbar ist. Hat man sich mit Paradigmen, Grundlagen von Wissensformationen, befasst, dann kann man im nächsten Schritt das Nebeneinander verschiedenster Theorien propagieren und als Vielfalt der Ansätze feiern. Warum sollte man, wenn Nützlichkeit Wissen auszeichnet, zu inflexiblen großen geschlossenen System durchdringen? – Effizienter könnte ein Nebeneinander lokal funktionierender Wissensbestände sein. Hier fand ein Brückenschlag in die Ästhetik der Postmoderne in den 1980ern statt.

Zwischen dem wissenschaftstheoretischen Relativismus eines Thomas Samuel Kuhn oder Paul Feyerabend und der, auf "traditionelle" philosophisch-weltanschauliche Grundannahmen verzichtenden, französischen Wissenschafts- und Erkenntnistheoretischen Schule der Épistémologie bestehen methodische Parallelen.

Die klarer auf Interessen ausgerichtete Forschung, die in den letzten Jahren in den Gender-, Postcolonial- oder Postsecularism-Studies innerhalb des Paradigmas der Cultural Studies fortlief, fand ihre Anknüpfungs- und Gegenpositionen bislang eher in der französischen Diskurstheorie als in den wissenschaftstheoretischen Relativismen, wie sie vor allem in den 1970-80er Jahren populär waren.

Zitate

  • „Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu“ („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“) (John Locke)
  • „Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu, nisi intellectus ipse.“ („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, außer dem Verstand selbst.“) (Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand)
  • „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B75)
  • Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. (Charles S. Peirce Collected Papers 5.181)

Siehe auch

Literatur

Klassiker
Sekundärliteratur und historische Einführungen
  • Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes bis Wittgenstein, Schöningh, Paderborn, 2. Aufl. 1998 (Zum Einstieg besonders geeignet. Historisch orientiert. Endet bei Wittgenstein. Ergänz sich daher sehr gut mit Norbert Schneider.)
  • Gerold Prauss: Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1993, 3. Auflage.
  • Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, ISBN 978-3-88506-636-1 (Betont kontext- und epochenspezifische Bedingungen dafür, dass etwas als Wissensobjekt in Betracht kommt. Geht kurz ein auf Gaston Bachelard, Ludwik Fleck, Alexandre Koyré, Georges Canguilhem, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Ian Hacking und Bruno Latour.)
  • Norbert Schneider: Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998 (Nützliche historische Einführung, relativ leicht zu lesen, mit einem breiten Spektrum moderner klassischer Positionen, darunter Jean Piaget und der Materialismus in Russland.)
Systematische Einführungen

Philosophiebibliographie: Erkenntnistheorie – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema

  • Peter Baumann: Erkenntnistheorie, Verlag Metzler, Stuttgart 2006 Standardwerk in deutscher Sprache.
  • Roderick Chisholm; Haller, R. (1979): Erkenntnistheorie. München: dtv. ISBN 3-423-04296-6
  • Kurt Eberhard: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte und Praxis konkurrierender Erkenntniswege, Kohlhammer, 2. Aufl. Stuttgart 1999 (Sehr empfehlenswert als Zweitlektüre, da z.T. überraschende, aber plausible Betrachtungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht vorgenommen werden.)
  • Gerhard Ernst: Einführung in die Erkenntnistheorie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007 (Sehr empfehlenswerte Einführung, mit Übungen.)
  • Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, De Gruyter: Berlin / New York 2008, ISBN 3-11-017622-X
  • Peter Janich: Was ist Erkenntnis. Eine philosophische Einführung, Beck, München 2000 (Viele kritische Fragen an die klassische Erkenntnistheorie mit einem weiten Erkenntnisbegriff aus Sicht des methodischen Konstruktivismus. Als Einführung empfehlenswert, als Zweitlektüre sehr wichtig.)
  • Alan Musgrave: Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, Mohr, Tübingen 1993 (Lädt zum Denken ein. Kritischer Rationalismus, aber eher mit Schwerpunkt zur Erkenntnis als zur Wissenschaftstheorie. Empfehlenswert)
  • Hans Günther Ruß: Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und die Suche nach der Wahrheit. Eine Einführung, Kohlhammer, Stuttgart 2004 (klassische Position des Kritischen Rationalismus. Relativ leicht zu verstehen.)
  • Herbert Schnädelbach: Erkenntnistheorie zur Einführung, Junius, Hamburg 2002 (Sprachanalytisch pragmatischer Ansatz mit einer knappen historischen Einleitung. Zum Einstieg nicht ganz einfach, aber sehr empfehlenswert)
  • Matthias Steup; Ernest Sosa (Hgg.): Contemporary Debates in Epistemology, Oxford, Blackwell Publishing 2005.
  • Gerhard Vollmer: Was können wir wissen?. Beiträge zur modernen Naturphilosophie, 2 Bde.,Hirzel 3. Aufl. Stuttgart 2003, Bd.1 Die Natur der Erkenntnis: ISBN 3-7776-0443-7, Bd.2 Die Erkenntnis der Natur: ISBN 3-7776-0444-5 (Aufsatzsammlung. Interessant aufgrund unterschiedlicher Perspektiven, die bei den meisten Alternativen so nicht vorkommen. Nicht nur Anthropologie, sondern auch Erkenntnistheorie, in der Karl Popper und Konrad Lorenz zusammengeführt werden.)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Lit.: Wittgenstein, Über Gewissheit (1951), § 467.
  2. Lit.: Wittgenstein, Über Gewissheit (1951), § 185.
  3. Die Problematik der diesbezüglichen Quellenlage ist dargestellt im Hauptartikel zu Sokrates.
  4. Lit.: Berkeley, Principles (1710), § 3.
  5. Lit.: Berkeley, Principles (1710), § 20.
  6. Lit.: Berkeley, Principles (1710), § 35.
  7. Lit.: Berkeley, Principles (1710), § 38.
  8. Lit.: Berkeley, Principles (1710), § 41
  9. Lit.: Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), 2. Buch, 2. Hauptst., 3 Abschn., §.4
  10. Lit.: Systemprogramm (1796/97).
  11. Lit.: Systemprogramm (1796/97).
  12. Lit.: Systemprogramm (1796/97).
  13. Lit.: Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. (1844).
  14. Lit.: Philosophisches Wörterbuch der DDR (1975), „Abbild“
  15. Für Informationen zum aktuellen Theoriestand nebst kurzem historischem Abriss vgl. Michael Bradie / William Harms (2004) Evolutionary Epistemology; sowie zum damit verwandten Komplex naturalistischer erkenntnistheoretischer Konzeptionen Richard Feldman (2001) Naturalized Epistemology
  16. Proceedings of the Rethinking Popper Conference, September 10th–14th 2007, Prague, Czech Republic (noch nicht veröffentlicht)
  17. David Miller: Critical Rationalism (1994), Kapitel 3
  18. Karl Popper: Die Quantentheorie und das Schisma der Physik, zitiert nach Hans-Joachim Niemann: Lexikon des Kritischen Rationalismus, Mohr/Siebeck, Tübingen 2004, Stichwort „Realität“ (S. 311)
  19. Karl Popper: Alles Leben ist Problemlösen (1984), S. 129f
  20. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse (Suhrkamp, 1968), S. 22
  21. David Stove: Popper and After: Four Modern Irrationalists (Oxford: Pergamon, 1982)
  22. Jahn M. Böhm: Kritische Rationalität und Verstehen (2005), 1.6.2
  23. A. Sokal, J. Bricmont: Intellectual Impostures (1998), Kapitel 4.
  24. Weitere siehe David Miller: Conjectural Knowledge. In Paul Levnison (Hrsg.): In pursuit of truth (1982), Anmerkung 4
  25. David Miller: Conjectural Knowledge. In Paul Levnison (Hrsg.): In pursuit of truth (1982), Abschnitt 1
  26. David Miller: Falsifiability: More than a convention? Out of error (2006), 4.0
  27. David Miller: Sokal & Bricmont: Back to the Frying Pan. Pli 9 (2000), S. 156-73.
  28. David Miller: A critique of good reasons. Critical rationalism (1994), 3.1
  29. David Miller: Some hard questions for critical rationalism. (noch nicht veröffentlicht)
  30. Kuhn, T. S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1999, 106 spricht von „Methoden der Massenüberredung“
  31. Kuhn, T. S.: Reflections on My Critics, in: Lakatos, I. / Musgrave, A. (Hgg.): Criticism and Growth of Knowledge, Cambridge 1970, 231-278, hier 231.

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