Existenzialistisches Schriftverständnis

Existenzialistisches Schriftverständnis

Existentiale Interpretation ist in der Theologie ein hermeneutisches Verfahren zur Interpretation der "mythischen Redeweise" neutestamentlichen Verkündigung auf das in ihr enthaltende Seinsverständnis des Menschen hin. Entwickelt wurde das Verfahren von dem deutschen evangelischen Theologen Rudolf Bultmann aufgrund seiner Rezeption der Existenzphilosophie Martin Heideggers.

Bultmann stellt das Verfahren der existentialen Interpretation in seinem Aufsatz „Neues Testament und Mythologie" aus dem Jahr 1941 vor. Er geht davon aus, dass die mythische Redeweise in der neutestamentlichen Verkündigung dem modernen Menschen Verstehensschwierigkeiten bereitet, da dieser von dem wissenschaftlichen Weltbild derart geprägt ist, dass er in den Kategorien des Mythos gar nicht mehr denken kann und alles Mythische, weil nicht wissenschaftlich verifizierbar, für falsch hält. Insbesondere in Anbetracht der politischen Situation in Deutschland im und um das Jahr 1941 - der Nationalsozialismus bekämpfte das Christentum, was zu einer hohen Zahl von Kirchenaustritten führte - sah Bultmann es als erforderlich an, die neutestamentliche Verkündigung für den modernen Menschen wieder verstehbar zu machen.

Dabei geht Bultmann davon aus, dass der Mythos durchaus von einer Wahrheit spricht, aber in einer nicht adäquaten Weise. Der Mythos verobjektiviert das Jenseitige zum Diesseitigen, indem er von jenseitigen Vorgängen wie von diesseitigen spricht. In Bezug auf die neutestamentliche Verkündigung heißt das, dass durch die mythische Redeweise Gott aus seiner Transzendenz ins Diesseits geholt wird. Nach Bultmann ist aber eben wegen der Transzendenz Gottes jedes Reden über Gott unmöglich. Von Gott kann nur gesagt werden, wie er an den Menschen handelt, aber nicht, wie er an sich ist.

Bultmann interpretiert nun die mythische Redeweise des Neuen Testaments auf das in ihr enthaltende Seinsverständnis des Menschen hin. Im mythischen Denken sieht sich der Mensch existentiell abhängig von transzendenten Mächten, wohingegen im wissenschaftlichen Denken niemand mit dem Eingriff transzendenter Mächte in das Weltgeschehen rechnet. Dieses Empfinden der Abhängigkeit von einer transzendenten Macht - hier Gott - findet sich im Neuen Testament wieder. In Rezeption der Existenzphilosophie Martin Heideggers sieht Bultmann ein Problem in der Weltverfallenheit des Menschen. Dieses Problem findet sich schon im Neuen Testament, wo von der Möglichkeit des Lebens gemäß dem Fleisch und des Lebens gemäß dem Geist (z. B. Gal 6,8) die Rede ist. Das Leben gemäß dem Fleisch ist das uneigentliche Leben, das Verfallensein an das "Man", das Aufgehen im alltäglichen Besorgen und der Versuch, sein Leben aus dem Verfügbaren heraus zu sichern. Das Leben gemäß dem Geist hingegen ist ein Leben, das nicht im alltäglichen Besorgen und im Verfügbaren aufgeht, sondern aus dem Glauben an Gott offen für dessen sich schenkende Zukunft lebt.

Aufgrund dieser Feststellungen führt Bultmann dann die existentiale Interpretation des Christusereignisses (Tod und Auferstehung Jesu Chritsti) durch. Möglich wird ein eigentliches Leben nach der Vorstellung des Neuen Testaments erst durch ein Handeln Gottes. Hier findet sich die Vorstellung der Abhängigkeit von einer transzendenten Macht wieder. Und dieses erforderliche Handeln Gottes ist das Christusereignis, das sich innerhalb Raum und Zeit in der Geschichte ereignete. Das befreiende Heilshandeln Gottes gründet also in einer historischen Person, in Jesus von Nazaret. Dass er gelebt hat, kann wissenschaftlich verifiziert werden, ebenso dass er gekreuzigt wurde. Die mythische Rede von Leben und Tod dieser historischen Person soll nun dessen Bedeutung für den Glauben herausstellen, die in anderer als der mythischen Darstellungsweise nicht vermittelt werden kann. Deshalb ist Glauben an die Auferstehung Jesu Christi nach Bultmann nicht Glaube an einen Mythos, sondern das Ergreifen der Möglichkeit eines neuen Lebens. Nur weil das Heilshandeln Gottes in der Geschichte stattfand, kann es eine Auswirkung auf das Leben des Menschen haben und ist nicht abgesondert von Raum und Zeit und für das Leben auf der Erde bedeutungslos wie die Mythen um die antiken Götter.

Ein Hauptkritikpunkt an der existentialen Interpretation ist, dass Bultmann Aussagen über Gott an sich unmöglich macht. Einige Theologen sind der Ansicht, dass der Mythos als Mittel zur Rede über Gott beibehalten werden muss, da jeder anderen Redeweise die nötigen Begrifflichkeiten fehlen. Ein weiterer Kritikpunkt von Theologen z.B. Fritz Buri und Philosophen z.B. Karl Jaspers (illustrativ in der Schrift Die Frage der Entmythologisierung) ist, dass Bultmann den Mythos aus der neutestamentlichen Verkündigung nicht konsequent genug eliminiert habe, da er an der Auferstehung Christi als Heilsereignis festhalte.

Literatur

  • Hans Hübner: Was ist existentiale Interpretation? (1991), in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1995, 229-251

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