- Aktion roter Punkt
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Roter-Punkt-Aktion oder Aktion Roter Punkt, auch Rote-Punkt-Aktion, nannten sich eine Reihe von Protestaktionen in vielen Städten der Bundesrepublik, vorwiegend in den Jahren 1968–1971, bei denen gegen Fahrgelderhöhungen im öffentlichen Nahverkehr demonstriert wurde. Die wohl bekannteste und folgenreichste Aktion Roter Punkt fand im Juni 1969 in Hannover statt.
Inhaltsverzeichnis
Zielsetzung und praktischer Ablauf
Ausgangspunkt war in der Regel eine Fahrpreiserhöhung, oft um 10 Pfennig pro Fahrschein, bei Bussen und Straßenbahnen, gegen die sich die Aktion Roter Punkt wehrte. In erster Linie riefen Studenten, Schüler, Gewerkschaften und in Verbänden und zumeist linken Parteien organisierte Jugendliche zu Protesten und Demonstrationen auf. Zusammen mit engagierten Mitbürgern blockierten sie Busse und Straßenbahnen und sorgten gleichzeitig mit Hilfe der Aktion Roter Punkt für einen alternativen, weitgehend selbstorganisierten öffentlichen Nahverkehr, um so die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung zu erreichen.
Das Logo der Aktion war der Rote Punkt, der als Aufkleber auf Windschutzscheiben von Privatautos, die den alternativen Verkehr ermöglichten, aber auch auf Plakaten und Transparenten, zu sehen war. Eingeleitet und organisiert wurden die Protestaktionen in der Regel von Aktionskomitees Roter Punkt. Zum Beispiel gehörten dem Aktionskomitee in Dortmund (1971) u.a. Schüler, Lehrlinge, Jugendsprecher, Mitglieder der dortigen SPD und DFU, der DGB-Jugend, der Freien Sozialistischen Jugend und Jungsozialisten an.
Im Verlauf der Roter-Punkt-Aktionen kam es mitunter, als konkrete Utopie, zur Forderung nach einem Nulltarif bei öffentlichen Verkehrsmitteln.
Zielsetzung und praktischer Ablauf von Rote-Punkt-Aktionen seien anhand von Auszügen aus Flugblättern in Dortmund und Bochum skizziert:
- Wir geben den Roten Punkt an Autofahrer, die mit uns Solidarität üben.
- Wir üben praktische Demokratie, indem die Meinung der Betroffenen, der Straßenbahnbenutzer, laut wird.
- Wir fahren ohne Bezahlung mit Bus und Straßenbahn. In Gruppen. Und sagen den Fahrgästen, warum dieser Protest notwendig ist.
- Wir diskutieren mit den verantwortlichen Politikern.
- Bitte bringen sie den Roten Punkt gut sichtbar in ihrem Auto an, als Zeichen dafür, daß sie bereit sind, Fahrgäste mitzunehmen!
(aus einem Flugblatt des Dortmunder Aktionskomitee Roter Punkt, 1971)
Mit Hilfe der Aktion Roter Punkt wurde versucht, bis zur Rücknahme der Fahrpreiserhöhung, den Bus- und Straßenbahnverkehr durch Bildung von Fahrgemeinschaften und Anbieten von Mitfahrgelegenheiten zu ersetzen:
WIE SIEHT EIN AUTOBAHNHOF AUS?
1. 30-50 m vor dem Autobahnhof ein Schild: 'Autofahrer, die mitnehmen wollen, bitte rechts ran!' (2-3 Helfer).
2. Auf den Verkehrsinseln die Fahrtziele der Autofahrer sammeln und an die Megaphon-Sprecher weitergeben (5 Helfer).
3. Fahrtziele der Passanten sammeln (5 Mann).
4. Auf jedenfall Stockungen vermeiden! Eine Fahrspur freilassen.
(Aktionskomitee Roter Punkt, Bochum)
Rote-Punkt-Aktionen fanden insbesondere in den Städten Bremen, Buxtehude, Darmstadt, Dortmund, Duisburg, Essen, Esslingen am Neckar, Gelsenkirchen, Hannover, Heidelberg, Leverkusen, Mannheim, Schweinfurt, Stuttgart und Wuppertal statt.
Aktion Roter Punkt in Hannover 1969
In Hannover wurde die "Aktion Roter Punkt" im Juni 1969 von Studenten- und Schülerorganisationen (z.B. dem AStA der damaligen Technischen Universität) sowie anderen vorwiegend linken Gruppen initiiert. Sie richtete sich gegen Fahrpreiserhöhungen bei den hannoverschen Verkehrsbetrieben (ÜSTRA). Die Fahrpreise sollten von 70 auf 80 Pfennig für die einfache Fahrkarte und von 80 auf 90 Pfennig für die Umsteigefahrkarte erhöht werden.
Nach anfänglich kleineren Protesten und Versuchen der Polizei, Straßenbahn- und Busblockaden zu verhindern, gab es schon nach wenigen Tagen eine breite Solidarisierung der Einwohner von Hannover, der sich unter anderem Betriebsräte, Gewerkschaften, lokale Parteien und schließlich auch die lokalen Tageszeitungen anschlossen: An mehreren Tagen, vom 12. Juni bis 19. Juni 1969, fuhren keine Straßenbahnen und Busse in der Großstadt. Dennoch gab es kein Verkehrschaos: Die von vielen freiwilligen Mithelfern getragene Aktion Roter Punkt regelte komplett und reibungslos den innerstädtischen Verkehr, indem sie Bus- und Straßenbahnhaltestellen als Aufnahmepunkte für "Roter-Punkt-Mitfahrer" nutzte. Zahlreiche Flugblätter und Radioberichte im NDR informierten die Hannoveraner über die Absichten der Demonstranten und deren Reaktionen auf erste Angebote der Stadt.
Erst als die Stadt Hannover und die Verkehrsbetriebe einen gegenüber dem bisherigen Fahrpreis drastisch reduzierten Einheitsfahrpreis von 50 Pfennig pro Fahrt sowie eine Kommunalisierung der bis dato privaten ÜSTRA zusagten, hörten Blockaden und Demonstrationen auf. Solche Umstrukturierungsüberlegungen hatte es in der Stadtverwaltung wohl bereits vor den Aktionen gegeben, die Ideen waren aber nicht umgesetzt worden. Die Aktion Roter Punkt wurde eingestellt, nachdem die Ziele erreicht waren, und die ÜSTRA konnte am 20. Juni 1969 den Bus- und Straßenbahnbetrieb ungehindert wiederaufnehmen.
Nach der Protestaktion wurde der Großraum-Verkehr Hannover gegründet, ein Verkehrsverbund mit einem zunächst einheitlichen, später gestuften Tarifsystem in der heutigen Region Hannover.
Roter Punkt und Ton Steine Scherben
1971 brachte die Rockband Ton Steine Scherben eine Foliensingle heraus, auf der einen Seite der Song "Mensch Meier" über die hohen Fahrpreise der BVG. Auf der B-Seite der Track "Nulltarif". Dies war ein Zusammenschnitt von Interviews mit den Fahrgästen zu den Fahrpreiserhöhungen der BVG.
Auf der Rückseite dieser Single stand:
- Herr Blödke zahlt die neuen BVG-Preise. Mensch Meier fährt mit seinen Kollegen umsonst. Man fährt besser mit der BVG schwarz. Null Tarif! Die BVG-Preise wurden erhöht. Warum? Weil der Senat unser Geld nicht für uns ausgibt, sondern für Sachen, die uns nicht nutzen. Der Senat lügt uns vor, daß die BVG ein Defizit hätte, aber gerade soviel kostet die "Freiwillige Polizeireserve". Für die Starfighter der Bundeswehr könnten wir in ganz Berlin 10 (zehn) Jahre umsonst fahren. Wir sollen zahlen, zahlen, zahlen, bis wir schwarz werden. Da fahren wir lieber gleich schwarz. Deshalb: Gar nicht zahlen - SCHWARZFAHREN!!!!!
Siehe auch
- Beförderungserschleichung, Recht auf Mobilität
- Deutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre, Streik, Boykott
- Do it yourself, Selbstorganisation
Weblinks
Literatur
- Anna Christina Berlit: Notstandskampagne und Rote-Punkt-Aktion. Die Studentenbewegung in Hannover 1967-1969. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte; Band 20), 2007 (S. 125-143: Ein Hauch von Anarchie: Die Rote Punkt-Aktion im Sommer 1969), ISBN 978-3-89534-720-7
- GIM Esslingen/RKJ Esslingen: Roter Punkt in Esslingen. Dokumente über die Aktion Juni/Juli 1971. o.O. 1971 (als pdf-Datei hier)
- Agnes Hüfner et al.: Aktion Roter Punkt. Hannoveraner Chronik: Interviews, Analysen, Dokumente. Damnitz-Verlag (Kürbiskern-Reihe), München 1969
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