Fühlen Sie sich alarmiert

Fühlen Sie sich alarmiert
Die Kulturredaktion des SR schlägt die Redner vor

Abiturreden ist eine seit 1999 jährlich publizierte Buchreihe, in der Reden bedeutender Schriftsteller an den jeweiligen Abiturjahrgang veröffentlicht werden. Die Reden, die auch im SR 2 Kulturradio gesendet werden, wurden jeweils auf der zentralen Abiturfeier des Saarlandes vor Abiturienten von den Autoren selbst gehalten und zum Teil als Hörbuch veröffentlicht.

Redner waren in aufsteigender chronologischer Reihenfolge Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke, Herta Müller, Guntram Vesper, Dieter Wellershoff, Raoul Schrott, Ulrike Kolb und Feridun Zaimoğlu.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Es handelt sich bei dem Gesamtprojekt um eine Zusammenarbeit des Saarländischen Rundfunks und des saarländischen Kultusministeriums. Während das Ministerium den Rahmen für die Veranstaltung auswählt, ist die Kulturredaktion des SR für den Vorschlag und die Gewinnung des Redners zuständig.

Die Buchreihe, in der die Reden im Druck erschienen, wird vom Gollenstein Verlag (Herausgeber Ralph Schock) als kartonierte Büchlein herausgegeben und über den allgemeinen Buchhandel vertrieben. 2006 erschien überdies ein Sammelband in bibliophiler Ausgabe.

Die ersten Veranstaltungen fanden nicht auf der zentralen Abiturfeier des Landes statt, sondern an einer ausgewählten Schule bzw. im Rahmen einer Einzelveranstaltung, zu der die Abiturienten mit dem besten Notendurchschnitt eingeladen wurden.

Die Redezeit für die jeweilige Abiturrede beträgt 30 Minuten. Thematisch werden keine Vorgaben gemacht.

Inhalte

Von der Kunst der geringen Abweichung

Von der Kunst der geringen Abweichung war die Rede des deutschen Dichters Feridun Zaimoğlu an die saarländischen Abiturienten des Jahrgangs 2007. Es ist die vorerst letzte Veröffentlichung der Reihe. Gehalten wurde die Rede am 27. Juli 2007 in der Modernen Galerie in Saarbrücken. Hernach wurde die Rede auch im Hörfunk gesendet.

„Sie haben es geschafft. Sie sind im Besitz einer Urkunde, mit der Sie sich ausweisen können“, so beginnt Zaimoğlu seine Rede, und „tatsächlich sagt dieses ihr Abschlusszeugnis ungeachtet der Noten viel über ein entscheidendes Talent aus: Sie haben durchgehalten. Sie sind vielleicht fast daran zerbrochen oder haben den Glauben daran verloren, dass es besonders sinnvoll sei, wie Zuchtkamele mit schlackernden Höckern die Rennstrecke abzutragen. Bestimmt sind Männer und Frauen unter Ihnen, die fast ihre ganzen Reserven aufgebraucht haben und denen jetzt besonders mulmig ist. Was wird kommen? fragen Sie sich – man hat mir meinen Erfolg bescheinigt, ich habe meinen Abschluss, und nun werde ich in das Leben da draußen entlassen, von dem es heißt, es sei die Wirklichkeit. Die Realität macht nicht stark, sie macht vor allem mürbe, und wer sich zu sehr dem wirklichen Leben aussetzt, wird nicht etwa wahr und wirklich: Er wird deformiert und verkrüppelt. Wenn es ihm gelingt, mit den harten Kräften irgendwie auszukommen, verwandelt er sich zu einem Zyniker. Zyniker sind – wenn sie sich denn nicht zu wichtig nehmen – schlaue Menschen. Sie haben sich auf dem dünnen Landstreifen zwischen Gott und Teufel angesiedelt, sie wollen keine Parteigänger sein, und sie haben erkannt, dass sie frei sind, kleine Entscheidungen zu treffen, und sonst stillzuhalten. Unter Ihnen, liebe Abiturienten, wird es ganz sicher auch Zyniker geben, Menschen eben, denen kein Dichter vorbeten muss, was die Stunde geschlagen hat. Es ist keine große Kunst, den Menschen jeden Mut zu nehmen, indem man sie zu Geschöpfen in einem System degradiert, ein System, das uns alle einverleibt und verdaut. Es liegt aber auch viel Falschheit darin, zu behaupten, dass für uns alle das ganz große Glück reserviert sei. Ich bin bei Zynikern in die Lehre gegangen, sie haben mich in einem Alter aufgenommen, in dem ich mir verbat, eine Meinung zu haben.“[1] Im Fortgang erläutert der Dichter, selbst einmal Abiturient, zum Teil autobiografisch die eigene Glücks- und Sinnsuche seitdem, um u. a. zu dem Fazit zu kommen: „Du weißt nun, dass du nur deine Jugend verjubelt hast, du bist Anfang vierzig, du hast dein Einkommen, deine Gewohnheiten, du klammerst dich an das bisschen Sinn, und nachts vor dem Einschlafen hast du das sichere Gefühl, dass du nichts weiter bist als ein Blödmann, und da draußen sind Millionen von Blödmännern.“

Marina Neubert sieht in der Rede 2008 in der Berliner Morgenpost bereits Motive des späteren Romans Liebesbrand des Autors anklingen. [2]

Werden Sie Akrobat

2006 beschäftigte sich Ulrike Kolb in ihrer Abiturrede mit „Idylle, Krieg und Gegenwart“ und riet Werden Sie Akrobat: „Die rasanten Entwicklungen unserer Zeit verlangen nach einem Perspektivenwechsel. Dem technischen Fortschritt und den daraus resultierenden Ausrufezeichen am Zukunftshimmel: Globalisierung, Pandemie, Terrorismus, Arbeitslosigkeit ist der Mensch mit seinen tradierten moralischen Gesetzen nicht mehr gewachsen. In dieser Situation ist der Dialog zwischen Jungen und Alten unverzichtbar geworden. Die Jungen müssen Fragen stellen, die Alten erzählen, was ihnen in der Vergangenheit eine Hilfe war. Wer nicht in der Masse untergehen und mit ihr den Weg ins Verderben nehmen will, sollte sich wie der Akrobat in der Zirkuskuppel aufschwingen und aus dieser Distanz das Kunststück der Selbsterkenntnis wagen.“[3]

Der wölfische Hunger

Raoul Schrott sprach 2004 in seiner Rede an den Abiturientenjahrgang mit dem Titel Der wölfische Hunger über das „Alter der Jugend“.

Das Alter der Jugend sieht Schrott in der Verwöhnt- und Trägheit der Abiturienten des Jahrgangs, die stellvertretend für eine ganze Generation stünden, die „unmündig und streberhaft, zeitgeistig und ohne Biss; entfremdet von der Natur, abgeschnitten von jeglicher Spiritualität, zugleich verhöhnt und vorgeführt von den Medien“ sei. „Viel halte ich nicht von Euch“, spricht er die Abiturienten an, „und beneide Euch auch nicht. Wenn ich nach einem Schlagwort suchen müsste, um Eure Generation auf einen Nenner zu bringen, würde ich Euch Konformisten schimpfen. Ein paar Jahre älter, und ich sehe Euch schon vollkommen eingegliedert“[4] beginnt Schrott seine Rede an die Schulabgänger. Er spricht im Fortgang aber auch über eigene Niederlagen und führt den Hörern das Scheitern als wesentliche Voraussetzung zur Bildung einer Persönlichkeit vor.

Die Frage nach dem Sinn

Die Frage nach dem Sinn stand im Vordergrund von Dieter Wellershoffs Rede an den Abiturjahrgang 2003. Damit meint Wellershoff vor allem die Frage nach dem Sinn des Lebens, im speziellen des eigenen Lebens. Insbesondere weist Wellershoff auf Probleme der Herausbildung von Lebenssinn in einer immer komplexer werdenden Lebenswelt hin.

Wer ertrinkt, kann auch verdursten

Guntram Vesper redete 2002 „Vom Überleben eines gelösten Rätsels“: Wer ertrinkt, kann auch verdursten.

Heimat ist das, was gesprochen wird

Heimat ist das, was gesprochen wird war die zentrale Botschaft der im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren Schriftstellerin Herta Müller an die Abiturienten des Jahrgangs 2001.

Das Buch erschien mit einem Nachwort des Herausgebers.

Ariel oder Sturm auf die weiße Wäsche

Birgit Vanderbeke nannte ihre 2000er Rede, die sie am Gymnasium am Stefansberg in Merzig / Saar hielt, Ariel oder Sturm auf die weiße Wäsche. Die Rezensentin Carina Becker entdeckt in dem Text „Betrachtungen zu Ästhetik und Moral ebenso (…) wie zu aktueller Geschichts- und Gedankenlosigkeit“.[5] Routiniert ironisch und im Tonfall betont jugendlich nähme sie „Aspekte des Kultur- und Medienbetriebs unter die Lupe“.

Die Rede wurde zusammen mit der Vorjahresrede als Hörbuch veröffentlicht und wurde in der Literaturzeitschrift Akzente, Heft 3, Juni 2001, abgedruckt.

Fühlen Sie sich alarmiert

Wilhelm Genazino wandte sich mit der ersten Rede der Reihe, die den Titel Fühlen sie sich alarmiert trug, an die Abiturienten des Jahrgangs 1999. Sie wurde am 28. Juni vor den saarländischen Abiturienten gehalten. Fühlen Sie sich alarmiert ist ein Plädoyer gegen Rechtsradikalität und aufkeimenden Faschismus und für Zivilcourage in Deutschland: „Die Öffentlichkeit über die Gewalt muss mindestens so unerträglich werden wie die Gewalt selber“[6] formulierte Genazino seine Kernaussage.

Die Rede erschien zusammen mit der 2000er Rede von Birgit Vanderbeke auch als Hörbuch im Verlag Audiobuch.

Bedeutung

Die Dichterrede auf der zentralen Abiturfeier des Saarlandes geht zurück auf eine Initiative des Saarländischen Rundfunks Ende der 1990er Jahre, die der Entlassung der Abiturienten des Landes ein stärkeres Gewicht geben wollte. Laut Ralph Schock wird mit der Dichterrede an den Abiturjahrgang die „Traditionslinie etwa zu Jean Paul und Herder (…) aufgegriffen, zu Autoren, die ihr Brot als Lehrer verdienten und in jedem Schuljahr eine große Rede hielten“.

Literaturkritik.de sah im Konzept der oft provokanten Abiturreden-Reihe zwar „gewisse Signale“, hinterfragte sie aber auch kritisch: „Der Frontalunterricht ist anderen pädagogischen Modellen gewichen – und da erzählt zu guter Letzt wieder jemand etwas vom Rednerpult herab. Wie sind die Abiturientinnen und Abiturienten eigentlich „drauf“, um es salopp zu formulieren. Wo hören sie hin? Wo hören sie weg?“[7]

Ernst Elitz sieht das Gesamtprojekt als sinnvoll an im Rahmen des Selbstverständnisses deutscher Rundfunkanstalten als Kulturvermittler.[8]

Primärliteratur (Auswahl)

  • Ralph Schock (hrsg.): Abiturreden – Rede an die Abiturienten der Jahrgänge 2000–2005. Sechs Bücher in bibliophiler Ausstattung. ISBN 3-938823-17-8
  • Ulrike Kolb: Werden Sie Akrobat. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2006. Hrsg. v. Ralph Schock, ISBN 3-938823-12-7
  • Feridun Zaimoglu: Von der Kunst der geringen Abweichung. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2007. Hrsg. v. Ralph Schock, ISBN 3-938823-28-3

Einzelnachweise

  1. Feridun Zaimoğlu: Von der Kunst der geringen Abweichung. Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 2007. Herausgegeben von Ralph Schock; Gollenstein 2007
  2. http://www.morgenpost.de/content/2008/03/07/feuilleton/950655.html?send=1
  3. http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=978-3-938823-12-5
  4. http://www.gollenstein.de/content/autoren/p_z/schrott/index.htm
  5. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5249&ausgabe=200209
  6. http://www.gollenstein.de/content/autoren/p_z/wellershoff/index.htm
  7. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5249&ausgabe=200209
  8. http://www.morgenpost.de/content/2007/10/25/beilage/927922.html

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