Gedenkkultur

Gedenkkultur

Erinnerungskultur bezeichnet die Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen und sozial zugelassener oder erworbener Umgangsformen einer Gesellschaft oder Gruppe damit, Teile der Vergangenheit im Bewusstsein zu halten und gezielt zu vergegenwärtigen. Im Zentrum stehen dabei in erster Linie die kollektiven wie subjektiven Wahrnehmungen historischer Zusammenhänge aus einer aktuellen Perspektive, weniger die Darstellung historisch-objektiven Wissens. Es kann zwischen einer privaten und einer öffentlichen Erinnerungskultur sowie deren jeweiligen regelmäßigen und ereignisbasierten Elementen unterschieden werden. Markant für eine Kultur des Erinnerns ist, dass kollektive Wahrnehmungen die subjektiven Wahrnehmungen prägen. Einfluss auf die Erinnerungskultur haben gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Verhältnisse und Probleme.

Beispiele für eine private bzw. subjektive Ausformungen der Erinnerungskultur sind Familienalben, Ahnenforschung oder verschiedene Jubiläen mit persönlichem bzw. auch familiärem Bezug.

Inhaltsverzeichnis

Ausdruck und Formen

Ausdruck findet gerade die öffentliche Erinnerungskultur in einem vielfältigen Spektrum von Initiativen und Herangehensweisen, wozu in erster Linie die Archivierung der Informationen, deren wissenschaftliche Aufarbeitung und letztendlich die öffentliche Dokumentation sowie sonstige mediale Darstellung gehört. Neben diesen eher ereignisabhängigen Formen spielen auch Gedenkstätten, Gedenktage und Denkmale eine größere Rolle. Bestimmte Anlässe wie zum Beispiel der Historikerstreit geben jedoch immer wieder Impulse für in der Regel kurzfristige, aber dafür intensive gesellschaftliche Diskussionen um einzelne Themenbereiche. Diese berühren dabei sehr schnell Interessen der Politik und sind damit auch einer potenziellen Instrumentalisierung durch aktuelle Interessen unterworfen. Dabei sind Fragen der öffentlichen Erinnerung und somit Geschichtswahrnehmung eng mit Fragen der Legitimation von Machtansprüchen und jenen einer nationalen Identitätsstiftung verbunden. Dies führt in vielen Fällen zu einer staatlichen Ritualisierung der Erinnerungskultur und bedingt auch eine Reihe von gesellschaftlichen Tabus. Hieran ist insbesondere das Gelingen oder Versagen einer Geschichtsaufarbeitung geknüpft.

Beispiele

In Deutschland, Österreich und vielen anderen Ländern ist Erinnerungskultur im wesentlichen ein Synonym für die Erinnerung an den Holocaust[1] und die Opfer der Zeit des Nationalsozialismus. Völkermorde zeigen sich jedoch auch in vielen anderen Ländern als zentrale Aspekte der Erinnerungskultur mit teilweise erheblichem Konfliktpotenzial, insbesondere wenn dies auch heute noch benachteiligte Minderheiten betrifft. Beispiele hierfür sind Namibia (Aufstand der Herero und Nama), Armenien und Türkei (Völkermord an den Armeniern) und Ruanda (Völkermord in Ruanda). Auch andere Felder wie die Apartheid in Südafrika, die Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, die Taten Stalins in der Sowjetunion bzw. Maos in China oder die Kriegsverbrechen der japanischen Armee in Ostasien während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs haben noch heute eine große politische Bedeutung mit mehrheitlich stark ritualisierten Erinnerungsformen, sind aber dennoch in großen Teilen nur unzureichend aufgearbeitet.

Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion

Ein umfassender Bereich der Erinnerungskultur bleibt häufig aus dem Blick. Es ist die Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion von historischen Objekten, eine Aufgabe, für die insbesondere die Einrichtung Weltkulturerbe der UNESCO das Bewusstsein schärfen und die internationale Förderung sichern will.

Dazu zählen Schriftstücke (Gefahr des Zerfalls des Beschreibmaterials oder der Unfähigkeit, es noch zu lesen – insbesondere bei digital archivierten Texten, Rekonstruktion durch Entzifferung des Palimpsestes), Kunstwerke (Aufdecken des Entstehungsprozesses eines Kunstwerkes, aber auch Rekonstruktion eines hypothetischen Originalzustandes wie bei der Restaurierung der sixtinischen Kapelle), insbesondere aber eine Untergruppe der Kunstwerke, die Bauwerke.

Bild des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche März 2003. Die alten schwarzen Gebäudeteile sind deutlich erkennbar.

Gerade hier stehen viele divergierende Haltungen der Erinnerungskultur nebeneinander und gegeneinander. Zum einen kann strikte Konservierung eines vorgefundenen Zustandes versucht werden (im strengsten Sinne wäre das nach einem Bombenangriff die Beibehaltung des Trümmerhaufens, wie es bei der Dresdner Frauenkirche lange geschah) oder aber die Integration des Überlieferten in ein neues Gesamtbauwerk wie etwa bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin von Egon Eiermann oder der Pinakothek in München von Hans Döllgast. Dann kann man Restaurierung im Sinne Eugène Viollet-le-Ducs Herstellung eines ursprünglich gedachten, vollkommenen Zustandes vornehmen oder aber eine Rekonstruktion, wie sie in Warschau und Danzig mit ganzen Straßenzügen und ähnlich am Frankfurter Römerberg geschah, oder - recht problematisch – wie in der Wilhelminischen Epoche mit der römischen Saalburg. Während die Warschauer Rekonstruktion zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt wurde, wurde die Römerberg-Rekonstruktion im Geiste Georg Dehios von dem Architekten Rudolf Schwarz aus historischen und ethischen Gründen abgelehnt.

Eine ganz besondere Art von Rekonstruktion liegt vor, wenn ein historisches Gebäude, das eine Geschichtsepoche repräsentiert, wie etwa der Palast der Republik in Berlin, durch eine Rekonstruktion des vorher vorhandenen Schlosses ersetzt werden soll. Hier soll die damnatio memoriae, die mit der Zerstörung des Berliner Stadtschlosses durch Walter Ulbricht betrieben wurde, durch eine zweite damnatio memoriae beantwortet und damit ungeschehen gemacht werden.

Ein aktuelles Beispiel von Rekonstruktion liegt bei der Frauenkirche in Dresden vor. Hier spricht man von archäologischer Rekonstruktion, weil für viele noch vorhandene Steine ihre genaue Position im alten Bau berechnet wurde und diese alten Teile im neuen Bau deutlich abgesetzt erhalten bleiben. (Aufgrund der charakteristischen Patinaentstehung des Sandsteins aus dem Elbsandsteingebirge ist freilich damit zu rechnen, dass in zwanzig bis dreißig Jahren kaum noch ein Unterschied sichtbar sein wird.)

Der Dresdner Lyriker Durs Grünbein kennzeichnet diesen Versuch der Rekonstruktion mit kritischer Distanz unter dem Titel Chimäre Dresden: Einen tragischen Untergang hatten andere Städte auch, keine jedoch "kultivierte die Erinnerung an die Zeit vor der Zerstörung mit soviel schmerzvoller Nostalgie, keine lebte so sehr vom Phantombild ihrer einstigen weltstädtischen Silhouette."

Siehe auch

Literatur

  • Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit.Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.In: Schriftenreihe 633, Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2007, ISBN 978-389331-787-5
  • Dauber, Heinrich: Erinnern und Gedenken (Mnemosyne und sachor) in der griechischen und jüdischen Tradition. Bad Heilbrunn 2002
  • Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003/2004, ISBN 3-596-15219-4. 
  • Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff - Methoden - Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 2003, S. 548–563.
  • Mihran Dabag, Kristin Platt (Hrsg.): Generation und Gedächtnis - Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, ISBN 3-8100-1233-5
  • Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Fotografien von Monika Zucht. 24 Texte u.a. von Edgar Hilsenrath, Heinz Berggruen, Ruth Klüger, Alfred Grosser, Ralph Giordano, Elie Wiesel, Saul Friedländer. DVA, München 2006 ISBN 9783421042071 ISBN 3421042071 Als Audio-CD: Lasker-Wallfisch, Anita; Reinerová, Lenka ; u.a. Berlin: Audio Verlag, 2006 ISBN 3898135748 (Leseprobe, Einleitung, einige Fotos, Beginn des Appelfeld-Gesprächs: [1])
  • Elisabeth Domansky, Harald Welzer (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Tübingen 1992
  • Volkhard Knigge, Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München: C.H. Beck 2002, ISBN 3-406-48204-X
  • Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit. Münster: Unrast Verlag 2004, ISBN 3-89771-811-1
  • Avishai Margalit: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3596147174
  • Manfred Osten: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt, 2004
  • Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Die politisch-justizielle Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur nach 1945. Bonn 2003.
  • Heidemarie Uhl (Hrsg.): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts. Innsbruck/Wien 2003
  • Heidemarie Uhl: Zwischen Versöhnung und Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem "Anschluß". Wien/Köln/Weimar 1992
  • Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, ISBN 340649336X
  • Harald Welzer (Hrsg.): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-17227-6. 
  • Thorsten Gubatz, Erinnerung (kulturwissenschaftlich). In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Stuttgart/Weimar 2005 (2. Aufl). S. 371-374. ISBN 3-476-02108-4
  • Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006. Nettersheim 2006, ISBN 3939045020
  • Sophie Wahnich, Barbara Lášticová, Andrej Findor (Hrsg.): Politics of Collective Memory. Cultural Patterns of Commemorative Practices in Post-War Europe. LIT Verlag, Wien 2008, ISBN 978-3-8258-0226-4 (Rezension von R. Fritz)

Fußnoten

  1. Im Zusammenhang mit der in der Europäischen Union angestrebten einheitlichen Gesetzgebung zur Bekämpfung der Holocaustleugnung haben französische Historiker in einem gemeinsamen Appell an der Strafandrohung für das Bestreiten von Tatsachen Kritik geübt: "In einem freien Staat ist es nicht die Aufgabe irgendeiner politischen Autorität zu definieren, was die historische Wahrheit sei, geschweige denn darf sie die Freiheit des Historikers mittels der Androhung von Strafsanktionen einschränken. Wir fordern die Historiker auf, in ihren Ländern ihre Kräfte zu sammeln und sich diesem Appell anzuschließen, um der Vermehrung von Erinnerungsgesetzen Einhalt zu gebieten. Die politisch Verantwortlichen bitten wir zu begreifen, dass es zwar zu ihren Aufgaben gehört, das kollektive Gedächtnis zu pflegen, dass sie aber keinesfalls per Gesetz Staatswahrheiten institutionalisieren sollen, die schwerwiegende Konsequenzen für die Arbeit des Historikers und für die intellektuelle Freiheit insgesamt haben können."Appel de Blois der Vereinigung Liberte pour L'Histoire (deutsche Übersetzung zit. n. Frankfurter Rundschau vom 23.10.08

Weblinks


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