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Aleviten (türkisch: Alevi, aus arabisch علوی für „Anhänger Alis“) sind eine auf das 13./14. Jahrhundert zurückgehende, in Anatolien entstandene Religionsgemeinschaft, die sich in ihrer Theologie, nicht aber in ihrem Verständnis des religiösen Rechtes, aus dem schiitischen Islam entwickelt hat. Man unterscheidet ethnisch türkische und kurdische Aleviten.
Inhaltsverzeichnis
Ethnonym
Der Begriff Alevi ist nahezu identisch mit dem Begriff Kizilbasch, den er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ersetzen begann, obwohl auch heute noch letzterer Terminus in bestimmten Kontexten gebräuchlich ist.[1]
Ethnogenese
Das Selbstbild der Aleviten beruht nicht alleine auf historischen Tatsachen, sondern auch auf einer in der Geschichte verankerten Erzähltradition [2]. Dabei kann man drei Komplexe unterscheiden: Historische Traditionen, kulturelle Marker und die für die alevitische Identität besonders bedeutende Religion, eine Sonderform des Islam.
Historische Traditionen
Entstehung
Der wichtigste Entstehungsmythos für Aleviten ist die Schlacht von Kerbela, in dem die als Schicksalsgemeinschaft konzipierte Gruppe erstmalig kollektiv Unrecht erfahren haben soll.[2]
Im Zuge der Nachfolgestreitigkeiten spaltete sich die islamische Urgemeinde in mehrere Gruppen. Die heute bekanntesten sind die Schiiten, die für Ali bin Abi Talib als rechtmäßigen Nachfolger plädierten, und die Sunniten, die sich dem entgegenstellten. Die Aleviten kann man weit gefasst in den schiitischen Kontext einbetten. Konkretisiert hat sich die alevitische Auffassung im 13. Jahrhundert aus der Verschmelzung der Schia (arab.: Partei, im Sinne der Partei Alis) in Gestalt der Verehrung von Ali ibn Abi Talib mit der mystischen Interpretation des Koran (Sufismus). Diese Entwicklung wird vor allem auf Hadschi Baktasch Wali und weitere Geistliche zurückgeführt.
Unterdrückung
Unter den Osmanen wurden die Aleviten als Häretiker verfolgt, insbesondere weil sie sich mit den iranisch-safawidischen Schahs gegen die Osmanen verbündeten.
Im 16. Jahrhundert führte der aus dem Sivas stammende Dichter Pir Sultan Abdal alevitische Aufstände für Gerechtigkeit und Glaubensfreiheit gegen die Osmanen an. Diese schlugen die Aufstände blutig nieder und henkten Pir Sultan Abdal, der bis heute hohes Ansehen unter den Aleviten genießt.
Wegen der Unterdrückung und der bedrohten Lage der Aleviten unter anderen Muslimen kam es im Laufe der Zeit immer wieder zu blutigen Aufständen. Erst seit der Gründung der modernen Türkei genießen sie Glaubensfreiheit. Die Aleviten unterstützten den von Kemal Atatürk den Türken verordneten Laizismus und die Demokratie. Die alevitische Bevölkerungsgruppe war eine der tragenden Kräfte bei der Gründung der türkischen Republik, weil sie sich insbesondere durch die Abschaffung der sunnitischen Rechtsordnung und die Einführung des Laizismus mit der Trennung von staatlichen und religiösen Angelegenheiten - bislang vergeblich - eine Gleichberechtigung mit der sunnitischen Glaubensrichtung erhoffte. Auch heute noch betrachten die Aleviten die laizistische Staatsform als Grundlage und Garantie ihrer Existenz.
Doch auch vom türkischen Staat sind sie bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt. Gegenwärtig haben sie sich aber in den Mittelschichten etabliert.
Religion
Einige Aleviten sehen sich als Muslime, andere hingegen nicht. Ein besonderes Merkmal der alevitischen Glaubensvorstellung ist die ausgeprägte Verehrung für Ali ibn Abu Talib (daher auch die Ableitung der Bezeichnung Alevite) bzw. für die auch von den Schiiten verehrten zwölf Imame, die – bis auf den zwölften – allesamt ermordet wurden; der 12. lebe im Verborgenen weiter bis zu seiner Wiederkehr. Aus diesem Grund werden sie dem schiitischen Zweig des Islams zugerechnet. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zu den Lehren der imamitischen Schia (zum Beispiel im Iran), insbesondere in theologischen Auslegungen, etwa zur Gottes- und Glaubensvorstellung, sowie in der Ausübung des Glaubens. Auch innerhalb des Alevitentums sind diesbezüglich Unterschiede festzustellen, die auf die sprachliche bzw. ethnische Zusammensetzung sowie die differenzierte Ausprägung des Alevitentums selbst (beispielsweise Bektaschi) zurückzuführen sind.
Das Alevitentum hat sich aus der islamischen Schia entwickelt. Es hat dazu viele Elemente aus den verschiedensten vorislamischen Religionen Mesopotamiens sowie aus dem Sufismus (islamische Mystik) in sich vereint. Von Religionswissenschaftlern und einer zunehmenden Zahl von Anhängern wird das synkretistische Alevitentum als eine eigenständige Religion aufgefasst.
Aleviten beten nicht in Moscheen und legen den Koran nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter den Offenbarungen. Sie leben nicht nach den „Fünf Säulen des Islam“, weil sie diese „Säulen“ als Äußerlichkeiten ansehen. Dem setzen sie ihren Mystizismus entgegen.
Ein zentrales Element ihrer Glaubensauffassung ist der in den Mittelpunkt gerückte Mensch. Diese Überzeugung ist besonders durch die Erinnerung an die Massaker geprägt, die an den Schiiten und Aleviten während der Alleinherrschaften sunnitischer Machteliten verübt wurden. Die Aleviten identifizieren sich, als sich der Islam in Mesopotamien ausbreitete, nur mit der Leidensgeschichte der Opposition im Islam, den Schiiten, weil diesen innerhalb des Islam Unrecht geschehen war. Gleichzeitig verehrten sie Ali als Schutzpatron gegen Anfeindungen des orthodoxen Islam. Zudem glauben die Aleviten wie die Imamiten an die zwölf Imame. Das Martyrium des dritten Imams Al-Husain ibn 'Alī ist eine Gemeinsamkeit bei Schiiten und Aleviten, an dem sich ihr kollektives Trauerbewusstsein manifestiert.
Aleviten gehen mit religiösen Vorschriften, die für orthodoxe Muslime als Pflicht und Voraussetzung gelten, dialektischer um. Nach alevitischem Verständnis ist die Scharia bzw. die Oberfläche, das Offensichtliche, in der Religion überwunden, da das Alevitentum die Mystik zum Fundament hat. Dennoch gibt es in der alevitischen Theologie vier „Tore“, von denen das erste die Scharia darstellt.
Die Aleviten lehnen generell eine dogmatische Religionsauslegung ab; das Ritualgebet (Salat) wird nicht in der konventionellen Form der Schiiten oder Sunniten verrichtet. Außerhalb des alevitischen Gottesdienstes (Cem) benötigt man für das Gebet keinen speziellen Raum oder eine spezielle Zeit. Viele Aleviten beten, wann und wo sie wollen und auf die Art, die ihnen persönlich entspricht, da sie glauben, der innere Bezug des Individuums zu Gott sei der einzig wahre, ohne einen normativen Rahmen hierfür zu benötigen. Wie die Schiiten halten sich die Aleviten an die Lehren der Imame, besonders die des sechsten Imams Dschaʿfar as-Sādiq, lehnen aber im Gegensatz zu den Schiiten die Scharia ab. Die Philosophie des Alevitentums kann in gewisser Weise dem Pantheismus zugeordnet werden, denn sie glauben, dass jedem Menschen die Wahrheit („das Göttliche“) innewohne.
Der heutige Glaube der Aleviten ist stark vom Humanismus und Universalismus bestimmt. Im Zentrum ihres Glaubens steht daher der Mensch als eigenverantwortliches Wesen. Wichtig ist ihnen das Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist demgegenüber für sie nebensächlich. In der alevitischen Lehre ist die Seele eines jeden Menschen unsterblich; sie strebt durch die Erleuchtung die Vollkommenheit mit Gott an.
Diese liberalen Auffassungen, vor allem die Ablehnung der (sunnitischen?) Scharia, unterscheiden Aleviten von den Sunniten. Darum haben viele Sunniten, vor allem die meisten islamischen Gelehrten, Vorurteile gegenüber Aleviten und betrachten sie meist nicht als Muslime.
Das Alevitentum beinhaltet ebenfalls relevante Elemente aus dem Zoroastrismus. „Rechtes Handeln, rechtes Denken, rechtes Sprechen“ - dies sind Worte aus dem Zoroastrismus, doch werden sie so auch im Koran erwähnt. Die vier heiligen Elemente bei den Aleviten (Feuer, Wasser, Erde, Luft) entstammen ebenfalls aus der Lehre des Zoroastrismus, jedoch sind diese Elemente auch bei den nicht-zoroastrischen Völkern Zentralasiens vorhanden. (vgl. Vier-Elemente-Lehre)
Kurdische und zazaische Aleviten haben neben vielen Gemeinsamkeiten auch unterschiedliche Glaubensrituale und Lebensweisen. So ist der Hizir-Glaube (s.u.) bei kurdischen Aleviten gerade in der Region Dersim viel ausgeprägter. Daneben praktizieren kurdische und Zaza-Aleviten das Gağan-(Kaland-)Fest, eine Art Knecht-Ruprecht/Nikolausfest, wie es auch in anderer Form im Christentum überliefert ist, jedoch mit denselben grundlegenden Motiven.
Die Hauptquellen des Alevitentums sind nicht allein der „Große Buyruk“ von Imam Dschafar ibn Muhammad as-Sadiq, wie häufig angenommen, sondern auch unzählige religiöse Gedichte und Lieder (Deyis, Beyt, Duaz-i Imam). Aleviten waren aufgrund ihrer Verfolgung und Unterdrückung gezwungen, ihre Glaubensinhalte mündlich durch Lieder und Gedichte zu tradieren. Die Symbiose aus verschiedensten religiösen und mystischen Strömungen macht verständlich, dass die Aleviten zwar im Islam ihren Ursprung sehen, jedoch nicht den allseits anerkannten islamischen Gruppierungen zugerechnet werden wollen.
Gebet
Aleviten beten in der Regel nicht in einer Moschee, sondern treffen sich zu Kulthandlungen, genannt Cem, in einem Cemevi (Versammlungshaus) zur Rezitation von Gedichten und zum rituellen Tanz (Semah). Dieser wird von Frauen und Männern gleichzeitig und gleichberechtigt ausgeführt und dabei vom Dede (»Großvater«) - gleichzusehen mit einem Imam, immer ein direkter Nachkommen der Ehlibeyt-Familie, der Familie bzw. dem Stamm des Mohammed, der den Koran genau kennen muss und dem auch der Besitz von besonderen Kräften (keramet) zugeschrieben wird - oder von der Ana (»Großmutter«) beaufsichtigt. Dedes und Anas sind Personen, die von Imam Alis Linie abstammen und sich mit den alevitischen Ritualen und Traditionen sehr gut auskennen. Sie verfügen über ein hohes Maß an Wissen, welches ihre geistige und menschliche Kompetenz auszeichnet. Sie genießen ein hohes Ansehen unter den Aleviten. Wenn jedoch kein Dede zur Verfügung steht, um ein Cem zu leiten, darf jeder andere Alevite, der sich mit den Ritualen auskennt, einen solchen Gottesdienst leiten.
Während der Cem früher (vor der zunehmenden Abwanderung weiter Teile der alevitischen Bevölkerung Ostanatoliens in den Westen der Türkei) unregelmäßig stattfand – in dörflichen alevitischen Gemeinschaften immer dann, wenn ein Dede ins Dorf kam – erlebte das alevitische Kongregationsritual im Zuge der zunehmenden Urbanisierung des Alevitentums, die sich seit mehreren Jahrzehnten beschleunigt vollzieht, eine gewisse Umgestaltung:
Der Cem wird nun in regelmäßigen Abständen, oftmals wöchentlich abgehalten. Ort für die religiös-mystischen Glaubenshandlungen sind: Versammlungshäuser, die von alevitischen Vereinigungen und Kulturvereinen zur Verfügung gestellt werden; aus den Dörfern mitgebrachte heterogene Ritualelemente werden dabei vereinheitlicht. Auf diesem Wege ist der Cem in den letzten Jahren zu einem prominenten Mittel der bewussten Neubestimmung alevitischer Identität in der Türkei geworden, die sich seit dem Militärputsch von 1980, in dessen Folgezeit ein gewisses Wiedererstarken sunnitischer politisch-religiöser Kräfte verzeichnet werden konnte, in einem konstanten Prozess der Wiederentdeckung und Neuverortung kultureller, religiöser und geschichtlicher Art befindet.
Der Semah ist ein wichtiger ritueller Tanz und gehört zu den 12 Pflichten in der Cem-Veranstaltung. Sein Sinn ist das Einswerden mit Gott und der Natur. Er ähnelt einem Reigentanz, der aber nicht als folkloristisches Element betrachtet werden sollte, damit er nicht seines religiösen Charakters entkleidet werde. Der Semah ist vielmehr ein Gebetsritual, der nur in der Cem-Zeremonie vorgetragen werden sollte. Der Semah wird von Frauen und Männer unterschiedlichen Alters (ohne Kinder unter vierzehn) gleichzeitig praktiziert – was den Aleviten von sunnitischen Gegnern ihrer Glaubensrichtung jahrhundertelang den Vorwurf des „Inzests“ eintrug.
Die Semah-Mitglieder bewegen sich in einer kreisförmigen Figur. Dabei drehen sie sich zusätzlich um die eigene Achse. Die Handinnenfläche der rechten Hand zeigt nach oben und die linke Handinnenfläche ist auf den Boden gerichtet. Es finden keine körperlichen Kontakte, wie zum Beispiel Hände halten, zwischen den Teilnehmern statt. Die dabei dargestellte Figur, also das Drehen in einer „Kreisbahn“ und das Drehen um die eigene Achse, symbolisiert nicht nur das Universum (Evren) mit den Planeten des Sonnensystems und der Galaxie, also wie die Planeten in einer Umlaufbahn um die Sonne und um ihre eigene Achse kreisen. Durch den Kreistanz werden darüber hinaus die ewigen Kreisläufe des Lebens und der Natur symbolisiert. Seit dem 12. Jahrhundert, vielleicht auch schon früher, diente dieser heilige Tanz zur geistigen Annäherung an Allah. Darum sollte er nach alevitischer Auffassung nicht öffentlich vorgeführt werden.
Die Verschleierung der Frau ist bei Aleviten nicht vorgeschrieben, denn nach alevitischen Wertvorstellungen sind Männer und Frauen gleichgestellt. Frauen sollten sich nicht verdecken müssen, um ihre Reize zu verstecken, die Gott ihnen geschenkt hat.
Hizir (Xizir)
Aleviten glauben, dass die heiligen Brüder Hizir und Ilyas als Propheten gelebt und das sogenannte „Wasser der Unsterblichkeit“ getrunken haben. Diesem Glauben zufolge kommen die Brüder ähnlich dem Dioskuren-Brüderpaar des Altertums, Castor und Pollux, Hilfsbedürftigen zu Hilfe. Hizir kommt den Hilfsbedürftigen zu Lande und Ilyas ihnen zur See zur Hilfe. Sie würden für diejenigen bereit sein und sie retten, die in Not geraten sind und „aus tiefem Herzen“ Hilfe erflehen. Sie bringen den Menschen Glück und Besitz. Nach einer Erzählung soll Hizir das erste Mal von Gefolgsleuten Noahs zur Hilfe gerufen worden sein und sein mit Menschen und Tieren vollbeladenes Schiff gegen ein Unwetter geschützt haben. Nachdem das Schiff drei Tage einem Unwetter widerstand, sollen die Geretteten drei Tage lang gefastet haben, um Hizir ihre Dankbarkeit zu beweisen.
In Anatolien wurde Hizir als ein charismatischer, weiser, auf einem Schimmel reitender Mann von Generation zu Generation mündlich tradiert. Er wird zu Hilfe gerufen; „Eile schnell herbei, lieber Hizir!“ („Yetis ya Hizir“)! Im Volksmund wird er „Hizir mit Schimmel“ genannt, und es werden über ihn zahlreiche Geschichten erzählt.
Jedes Jahr wird unter den Aleviten in der zweiten Februarwoche das Fest des Hizir gefeiert. Von Dienstag an wird nach dem Abendmahl bis zum nächsten Abend drei Tage lang gefastet. Viele Nachbarn und Bekannte kommen zusammen und erzählen Geschichten über Hizir. Begleitet vom Saiteninstrument Saz werden schöne und beruhigende Lieder mit meditativem, tiefem Inhalt vorgetragen. Am Freitagabend schließlich werden auf den Friedhöfen die Verstorbenen besucht und Kerzen angezündet; den Kindern werden zu Hause zahlreiche Geschichten über Hizir erzählt.
Am letzten Fastentag wird in und außerhalb der Wohnung sauber gemacht, was einer rituellen Reinigung gleichkommt. Am Abend bereitet man eine spezielle Speise (gavul) aus Weizenmehl vor, die die ganze Nacht offen ausgelegt wird. Jedes Familienmitglied wünscht sich dann etwas Besonderes. Man glaubt, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen, falls Hizir vorbeikommt und von der Speise probiert. Die Speise wird am nächsten Tag in und vor heiligen, symbolträchtigen Gedenkstätten an Nachbarn und Reisende verteilt. Jeder versucht, Speisen von allen Familien zu kosten, damit sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, jene Speise zu erwischen, von der Hizir probiert haben könnte.
Hizir als Begriff nimmt einen wichtigen Platz im Alltag der Aleviten ein. Viele Aleviten geben ihre Gelöbnisse im Namen Hizirs und bitten oder erflehen etwas in seinem Namen. „Hizir sei Dank“, „Hizir möge kommen“, „Es möge mal von Hizir sein“ u.a sind einige bekannte Redewendungen. In manchen Gegenden wird Kindern, Bergen, Seen, Wegen u.a. der Name Hizir verliehen. Es gibt sogar einen religiösen Tanz namens „Hizir semahı“.
„Hizir auf dem Schimmel möge allen Menschen helfen und er möge alle bewachen“.
Vorschriften
Die alevitische Glaubenslehre basiert auf der Entscheidungs- und Glaubensfreiheit des Menschen. Niemand hat eine Verpflichtung, etwas tun oder glauben zu müssen.
Die Grundpfeiler der alevitischen Vorschriften sind in diesem einen Satz eline beline diline sahip ol vereint. Er besagt Folgendes:
- eline sahip ol: Beherrsche deine Hände. Es steht für das negative Potenzial, wozu Hände im Stande sind, also: Begehe keinen Diebstahl, zerstöre nicht und nutze Deine Hände für etwas Sinnvolles.
- beline sahip ol: Beherrsche deine Lende. Die Lende steht als Synonym für Triebe, insbesondere sexueller Natur.
- diline sahip ol: Beherrsche deine Zunge. Die Zunge steht für Kommunikation und dass sie oft durch Unwahrheiten, aber auch durch unbedacht gewählter Wortwahl missbraucht wird und letztendlich eventuell mehr Leid erzeugen kann als vielleicht ein Schwert (z. B. Meineid, Verleumdung, Rufmord).
Die Verbote des Tötens, des Diebstahls, der Verleumdung und des Ehebruchs gelten für Aleviten gegenüber allen Menschen. Damit wollen sie die Menschlichkeit und das Zusammenleben aller Menschen fördern. Hinzu kommen alltägliche Vorschriften der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und weitere. Jede Alevitin und jeder Alevit sollte diese Vorschriften anwenden.
Vier Tore, vierzig Pforten
- Das erste Tor ist die Scharia, d. h. die Annahme der Gesetze und Pflichten der Gemeinschaft, in der man lebt.
- Das zweite Tor ist die Kenntnis der individuellen Rechte und Ansprüche, die man selber hat und stellt; d. h. was begehre ich, was ist mein?
- Das dritte Tor ist die Erkenntnis des Nächsten; d. h. was begehrt der Mitmensch, was gehört dem Mitmenschen?
- Das Erreichen des vierten Tores setzt die Beschäftigung mit den Rechten und Pflichten der Gemeinschaft voraus. Ab diesem Tor hat das jeweilige Individuum das Recht und die Möglichkeit, die Pflichten und Rechte der Gemeinschaft aus „Tor 1“ mitzugestalten, was die weitere Entwicklung und Modernisierung des ersten Tores sichert.
Kulturelle Marker
Auch bei Aleviten gibt es eine mehr oder weniger starke Diskrepanz zwischen den religiösen Vorschriften und dem tatsächlich gelebten Leben in der Gemeinschaft. Abgesehen von der Tradition der alevitischen Sippen (Asiret), sind Toleranz und Verständnis stark vertreten. Kurdische, zazaische und türkische Aleviten unterscheiden sich dabei nicht wesentlich. Oft haben männliche Familienmitglieder eine Vormachtstellung, was aber eher in Traditionen denn in der Religion begründet liegt. Heiraten zwischen Aleviten und Nicht-Aleviten sind in der Regel nicht erwünscht, da man dadurch eine Distanzierung vom Alevitentum befürchtet. Ferner spielt die Überzeugung der meisten Aleviten eine Rolle, dass man als Alevit geboren werde und man von daher mit einem nicht-alevitischen Elternteil folglich nicht dem Alevitentum angehören könne. Hingegen ist in großen Städten heutzutage eine zunehmende Verschmelzung der religiösen Gruppen zu beobachten, was nicht zuletzt auf eine zunehmende Toleranz zurückgeführt werden kann. Generalisierende Aussagen über die Lebensweise der Aleviten sind selten möglich, da die Handhabung der religiösen Vorschriften sehr unterschiedlich ist.
Musik
Die Musik besitzt im Alevitentum eine überaus wichtige Funktion. Eine Cem-Zeremonie ohne Musik ist unvorstellbar und für die Ausübung der religiösen Pflichten unverzichtbar, so z. B. der Semah-Tanz. Für viele Aleviten gilt die auf der Bağlama gespielte Musik als eine göttliche Offenbarung. Ohne dieses Instrument hätte das Alevitentum womöglich eine fundamental andere Entwicklung eingeschlagen.
Musik schafft eine hypnotische Atmosphäre, durch sie kann das Individuum einen spirituellen Einblick, eine Erkenntnis erlangen. Nicht nur die Dedes (alevitische Geistliche) inspirieren ihre Gemeinde durch vorgetragene Lieder, sondern ebenso der Asik (auch Zakir genannt) und Ozan (Volksmusiker). Asik heißt soviel wie „der vorbehaltlos Liebende“ und ist eine Bezeichnung, die die Beziehung des Musikers zu Gott zum Ausdruck bringt.
Mit ihren Klängen und teilweise religiösen Textinhalten über Ali, Schah Ismail, Pir Sultan Abdal etc. drücken sie ihre Sehnsucht nach einer besseren Welt aus, teilen mit anderen das Leid, das sie durch die Staatsmacht erleiden mussten oder müssen, und können den alevitischen Glauben an die nächste Generation mündlich weitervermitteln.
Viele ihrer Lieder scheinen die Sorgen der Aleviten widerzuspiegeln. Im Augenblick des Zuhörens vereinen sich Mensch und Musik. Gerne hören sich ältere Aleviten im geselligen Kreis die traurigen Lieder an und weinen gemeinsam. Dieses kollektive Trauern ist eine typisch alevitische Bewältigung ihrer Situation und eint die Menschen, es führt zur Erfahrung von Transzendenz.
Der Asik (arab. aschiq, „der Liebende“) von heute singt und spielt mit seiner Bağlama nicht mehr wie früher auf dem Dorfplatz, sondern ist vielmehr in Musikcafés anzutreffen. Es ist die alevitische Musik, die die Gemeinschaft im Ganzen zusammenhält, ihr ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt und dem Individuum zur Identitätsbildung verhilft. Die Musik verleiht dem Alevitentum eine gewisse Mystik, aus der viele Aleviten ihre Kraft schöpfen.
Symbole
Ähnlich wie schiitische Glaubensgemeinschaften tragen auch viele Aleviten Ketten mit einem gebogenen Schwert (Zülfikar) als Anhänger. Damit zeigen sie ihre Anerkennung und Ehrfurcht gegenüber Ali ibn Abu Talib, dem man den Besitz eines gebogenen Schwertes mit Doppelspitze nachsagt.
Diese Anhänger sind eher eine neue Erscheinung im Alevitentum. Ältere Aleviten kennen dies aus ihrer Jugend meist nicht. Als Angehörige einer unterdrückten Gemeinschaft war es nicht üblich, sich offen zu erkennen zu geben.
Alljährlich findet vom 16.-18. August Hacı Bektaş-ı Veli zu Ehren ein Festival statt. Wichtige Vertreter aus Politik und Kultur präsentieren sich gerne dabei als Fürsprecher der alevitischen Kultur. Aus der ganzen Türkei reisen unzählige Pilger an, feiern und opfern gemeinsam mit ihren Glaubensgenossen. Zu jenen Tagen wird aus dem kleinen Ort Hacibektas ein Wallfahrtsort mit mehr als 100.000 Besuchern.
Politische Lage
Die größte alevitische Gemeinschaft existiert in der Türkei. Außerhalb dieser bildet die Federation of Alevite Unions in Europe eine alevitische Interessenvertretung in Europa.[3]
Aleviten in der Türkei
Genaue Angaben über die Zahl der Aleviten in der Türkei gibt es nicht; sie stellen schätzungsweise 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung.[4]
Der türkische Staat subsumiert die Aleviten unter die islamischen Glaubensrichtungen. Deshalb weist die offiziell-staatliche Statistik 99,8 % Muslime aus. Die Aleviten leben in allen Provinzen in der Türkei. Traditionell vor allem in den Provinzen Erzurum, Erzincan, Sivas, Tunceli (Dersim), Malatya, Corum, Tokat, Kahramanmaraş, Amasya, Varto und Hatay (insbesondere Antakya). Doch durch Binnenmigration findet man sie heutzutage mehr in Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir und Bursa.
Geschichte
Aufgrund ihrer Unterdrückung im Osmanischen Reich wurden die meisten Aleviten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst Unterstützer Kemal Atatürks, da ein laizistische Staat ohne Kalifat den Aleviten mehr Freiheiten gab als vorher.[5] Durch die neuen Gesetze des Staates wurden aber auch alle alevitischen Orden und Sekten geschlossen. So wurde das Haci-Bektas-Veli-Tekke in Nevşehir zu einem Museum umgebaut.
Trotz der gesetzlichen Besserung kam es aber in der jüngeren Geschichte der Türkei zu Pogromen gegen Aleviten. So zum Beispiel 1978 in den Städten Çorum und Kahramanmaraş. 1993 wurden bei einem alevitischen Kulturfestival in Sivas ein Brandanschlag auf ein Hotel verübt, bei dem 37 Menschen meist alevitische Künstler und Sänger ums Leben kamen. Die Teilnehmer hatten sich dorthin zurückgezogen, nachdem Gegner das Fest angegriffen und die Teilnehmer massiv bedroht hatten. Ziel der Attacken war der Schriftsteller Aziz Nesin, der zuvor das Buch „Satanische Verse“ Salman Rushdies ins Türkische übersetzt und die zunehmende Islamisierung und allgemein die Zustände in der Türkei kritisiert hatte. Die Duldung dieses aggressiven Massakers und die nur sehr zögerlichen Rettungsaktionen ließen den Verdacht aufkommen, dass örtliche und staatliche Organe Partei für die Mehrheitsbevölkerung genommen hatten. Religiöse Extremisten bewerteten die Einladung von Aziz Nesin als Ehrengast zu einem alevitischen Fest als eine „politische und bewusste Provokation“ und als „Zeichen der Ablehnung der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft“.[6]
Politische Rahmenbedingungen
Die Europäische Kommission hat die Diskriminierung der Aleviten in der Türkei im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union mehrfach kritisiert: zuletzt in der „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom 4. Oktober 2004. Ein Beitritt der Türkei zur EU ohne Anerkennung der Aleviten als muslimische Minderheit ist aufgrund der alle EU-Staaten verpflichtenden Religionsfreiheit daher undenkbar.
Diskriminierung
Konservative und nationalistische Aleviten behaupten, dass das Alevitentum den „wahren“ Islam der Türkei geschaffen habe, ihr Islam entspreche den Eigenheiten der Türken mehr als die den Arabern entlehnte Orthodoxie.
Ein beträchtlicher Teil der Sunniten hat kaum eine relevante Vorstellung von den Aleviten und ihren Ritualen, da der türkische Staat lange Zeit die Existenz der Aleviten leugnete und Kinder alevitischer Eltern in den Schulen zwang, einzig den sunnitischen Glauben zu lernen. Die Unkenntnis über die Aleviten, ihre bewusste Ausgrenzung und der staatliche Assimilierungsdruck gegen sie hat seine Wurzeln im Osmanischen Reich und führte dazu, dass latente Vorurteile gegen Aleviten erhalten blieben.
Die Situation der Aleviten ist auch gegenwärtig von starken Spannungen mit Sunniten bestimmt. Zwar dürfen die traditionellen alevitischen Feste inzwischen in der Türkei offen gefeiert werden, allerdings offiziell nicht als religiöse, sondern lediglich als Folkloreveranstaltungen. Dies ist in der recht speziellen Form der Trennung von Staat und Religion in der kemalistischen Türkei begründet und bereitet auch sunnitischen Muslimen große Probleme bei ihrer Religionsausübung.
Die Herabsetzung von Ritualen wie dem Cem, die für den alevitischen Glauben zentral sind, wird von Aleviten als Diskriminierung empfunden. Trotz der staatlichen Religionsfreiheit in der Türkei gab und gibt es dort seitens der Bevölkerung starken Druck auf ihre Anhänger, sich dem sunnitischen Islam zuzuwenden oder ihren Glauben zumindest nicht offen zu leben. Dies begründet sich in erster Linie in politischer Einflussnahme seitens der Aleviten gegen die Mehrheitsbevölkerung und deren religiöse Gefühle.
Schon seit Jahren werden traditionell alevitische Siedlungen erzwungenermaßen „sunnitisiert“. Selbst in mehrheitlich alevitischen Dörfern wurden sunnitische Moscheen gebaut. Dies zeigt, dass die Aleviten bis heute von den Mehrheits-Muslimen nicht als eigenständige und gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt werden. Es ist aber auch zu erwähnen, dass die alevitische Gemeinschaft, die fast ein Viertel der türkischen Bevölkerung ausmacht, im Gegensatz zur kurdischen Minderheit keine offizielle Partei besitzt, die die Rechte der Aleviten verteidigen könnte.
Eine Hauptforderung der Aleviten ist die Anerkennung der Cem-Stätten als Ort der Religionsausübung und damit eine Gleichstellung mit den Moscheen. Moscheen haben unter anderem das Privileg, dass Strom und Wasser von den Behörden beglichen werden, während Cem-Stätten privat betrieben werden müssen. Außerdem bekommen Vorbeter in der Moschee einen Beamtenlohn, während dies die alevitischen Vorbeter nicht bekommen. In einem Vorstoß erkannte das Bürgermeisteramt des Bezirkes Kuşadası der Provinz Aydın im September 2008 und das Bürgermeisteramt der Stadt Tunceli im Oktober 2008 die Cem-Stätten als gleichberechtigte Kultstätten an.[7][8]
Aleviten in Deutschland
Der prozentuale Anteil der Aleviten an den aus der Türkei stammenden Immigranten in Deutschland ist höher als der Anteil der Aleviten an der türkischen Bevölkerung. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass türkische Einwanderer zu einem großen Anteil aus Gebieten in der Türkei kamen, die hauptsächlich von Aleviten bewohnt waren. Andererseits erfolgte in den 80er Jahren eine verstärkte Einwanderung als Asylsuchende, da die meisten Aleviten vor dem Militärputsch auf der Seite der Opposition standen. Obwohl die Aleviten in Deutschland eine recht homogene Gruppe bilden, kann man mehrere „Richtungen“ erkennen.
Die Gruppe der „modernen Aleviten“ sieht das Alevitentum als Teil des Islams. Dieser Gruppe ist bewusst, dass das Alevitentum nicht so wie vor mehreren Jahrzehnten in türkischen Dörfern praktiziert werden kann. Statt einer Isolierung vertreten diese Aleviten die Öffnung hin zur Gesellschaft, beispielsweise durch die Forderung, den alevitischen Glauben gesetzlich anzuerkennen und eigenen Religionsunterricht erteilen zu dürfen. Nach dieser Ansicht ist das Alevitentum eine Religion unter vielen in einer multireligiösen Gesellschaft, und es ist deswegen auch selbstverständlich, dass Menschen dem Alevitentum beitreten können.
Eine sehr kleine Gruppe von Aleviten mit politischer Unterstützung durch islamisch geprägte Interessengemeinschaften sieht sich in erster Linie als Muslime und nicht als Aleviten. Sie versuchen deswegen auch eine Annäherung an die Sunniten zu erreichen, indem sie z. B. neben dem Cem-Gottesdienst auch das sunnitische Gebet in einer Moschee verrichten. Gleichzeitig will diese Gruppe aber das ursprüngliche Alevitentum bewahren und lehnt jede „Modernisierung“ ab.
Eine weitere Gruppe sieht das Alevitentum als eine eigenständige Religion an und beharrt, wie die erste Gruppe, auf den Unterschieden zwischen Sunniten und Aleviten. Sie lehnen einen Beitritt zur sunnitischen Gemeinschaft ab und wollen das Alevitentum nicht einer breiteren Öffentlichkeit bekanntmachen, sondern weiter als eine Art „Geheimlehre“ praktizieren. Erklären lässt sich dies durch die Erfahrung der Unterdrückung und Verfolgung durch Sunniten.
Es ist festzustellen, dass die Aleviten in Deutschland einen für Aleviten (und Moslems) sehr hohen Grad an Organisierung (z. B. durch Gründung von Verbänden und Gemeinden) erlangt haben. So wurde z. B. das Kulturzentrum Anatolischer Aleviten im Jahr 2002 durch den Berliner Senat als Religionsgemeinschaft anerkannt und erhielt dadurch die Möglichkeit, alevitischen Religionsunterricht in den Berliner Grundschulen zu erteilen. Ein wesentliches Ziel der Alevitischen Gemeinde in Deutschland ist es, alevitischen Religionsunterricht auf Deutsch in weiteren Bundesländern abhalten zu dürfen.
Viele Aleviten leben wegen der garantierten Religionsfreiheit gerne in Deutschland. Anders als im sunnitischen oder schiitischen Islam spielt die islamische Rechtsordnung Scharia im Alevitentum keine Rolle. Deshalb stelle sich für Aleviten in Deutschland auch nicht die Frage, ob Scharia oder Grundgesetz vereinbar seien. Daher sind sie besser in die deutsche Gesellschaft integriert als konservative Sunniten. Zur Alevitischen Gemeinde Deutschland mit Hauptsitz in Köln gehören bundesweit 107 lokale Mitgliedsvereine. Mehr als 60 Prozent der eingeschriebenen Mitglieder haben Ali Ertan Toprak, dem Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF), zufolge mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft.
Nach Ali Ertan Toprak, dem Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland, sei die Nichtanerkennung als Religionsgemeinschaft in der Türkei „unwürdig für einen Beitrittskandidaten“ der Europäischen Union. [9]
Organisationen in Deutschland
Der erste gegründete und eingetragene Verein in Deutschland ist Ahlen Haci Bektas Alevi Kültür Birligi e.V. welcher 1996 nach Hamm Westfalen umgezogen ist und nun den Namen Hamm Alevitischer Kulturverein, (tr: Hamm Alevi Kültür Birligi - HAKBIR) trägt. Danach wurde 1987 der zweite alevitische Kulturverein gegründet. Nach und nach vermehrten sich diese, wie z.B. Mainz-Wiesbaden-Rüsselsheim Alevi-Bektasi-Kultur e.V. (1988) mit Sitz in Gustavsburg.
Die größte alevitische Dachorganisation ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. mit Sitz in Köln. Es gibt Gemeinden in Augsburg, Köln, Stuttgart [10], Mainz, Duisburg usw. Für die Jugend ist der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland zuständig.
Schulunterricht
In Nordrhein-Westfalen begann im Schuljahr 2008/09 in den Städten Bergkamen, Köln und Wuppertal an insgesamt 4 Grundschulen der alevitischen Religionsunterricht. In Duisburg startete nach den Herbstferien 2008 ebenfalls der Unterricht.[11] Andere Städte planen ebenfalls alevitischen Religionsunterricht einzuführen.
Die Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt"
Am 23. Dezember 2007 lief im Fernsehsender „Das Erste“ (ARD) die Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt“, die eine Inzestsituation in einer in Deutschland lebenden alevitischen Familie zum Thema hatte. Der Fernsehfilm löste Proteste der alevitischen Gemeinde Deutschlands aus, da durch die Darstellung der inzestuösen Beziehung innerhalb einer alevitischen Familie eine in der Türkei seit Jahrhunderten übliche Verunglimpfung der Aleviten durch fundamentalistische Sunniten nun auch über das deutsche Fernsehen verbreitet würde.[12] Der Ethnologe Martin Sökefeld verglich den Tatort zur Verdeutlichung des klischeehaften Inhalts mit einem Film in dem ein geiziger jüdischer Kaufmann der Kindermörder ist.[13]
Aleviten in Österreich
In Österreich ist der prozentuale Anteil der alevitischen Bevölkerung an der türkischen aus den oben genannten Gründen auch höher als der Anteil in der Türkei. Alevitische Kinder müssen derzeit als muslimische Kinder den großteils sunnitisch-islamischen Religionsunterricht besuchen. Eine Abmeldung vom Religionsunterricht ist aber möglich. Nach mehreren Anläufen, die alevitische Gemeinschaft in der Islamischen Glaubensgemeinschaft zu integrieren, hat man sich jetzt auf die Gründung einer unabhängigen alevitischen Glaubensgemeinschaft geeinigt. Davon erwarten sich sowohl Aleviten als auch Muslime Erleichterung und den Abbau von Spannungen zwischen Aleviten und Muslimen. Den Muslimen sind die Unterschiede in der Religionspraxis und in den Glaubensgrundsätzen zu groß. Gleichzeitig empfinden die meisten Aleviten die Bezeichnung als „Muslim“ als unkorrekt. Nur eine eigene Bezeichnung, Identität und Religionsgemeinschaft würde der kulturellen und religiösen Vielfalt gerecht werden. [14]
Literatur
- Ali Duran Gülçiçek: Der Weg der Aleviten (Bektaschiten) - Menschenliebe, Toleranz, Frieden und Freundschaft. Köln 1996, 2003 (3. Aufl.). ISBN 3-935832-00-1
- Ismail Kaplan: Das Alevitentum - Eine Lebens- und Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Hrsg.v.d. Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu. AABF, Köln 2004. ISBN 3-00-012584-1
- Markus Dressler: Die alevitische Religion - Traditionslinien und Neubestimmungen. Ergon, Würzburg 1999, 2002. ISBN 3-89913-229-7
- Aynur Sahin: Die Rechtsstellung alevitischer Gemeinden in Europa. Dissertation, Wien 2007.
- Alevilerin Sesi (Die Stimme der Aleviten, monatlich erscheinende zweisprachige Zeitschrift der AABF -Alevitische Gemeinde Deutschland)
- John Kingsley Birge: The Bektashi order of dervishes. Luzac, London 1937.
- Dimitri Kitsikis, Multiculturalism in the Ottoman Empire: The Alevi Religious and Cultural Community, in P. Savard & B. Vigezzi eds. Multiculturalism and the History of International Relations Milano: Edizioni Unicopli, 1999. ISBN 88-400-0535-8
- Irène Mélikoff, Hadji Bektach: Un mythe et ses avatars. Genèse et évolution du soufisme populaire en Turquie. Islamic History and Civilization, Studies and Texts. Bd 20. Brill, Leiden 1998. ISBN 9004109544
- Karin Vorhoff: Zwischen Glaube, Nation und neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart. Schwarz, Berlin 1995. ISBN 3-87997-214-1
- John Shindeldecker: Türkische Aleviten Heute. Verlag Şahkulu Sultan Külliyesi Vakfi, Istanbul 2001. ISBN 975-94441-1-9
- Ahmet Terkivatan: Was ist das Alevitentum? Über die alevitische Mystik., in: Sic et Non 10/2008.
Siehe auch
- Tahtacı
- Nusayri (auch „Alawiten“ genannt)
- Drusen
- Buyruk
- Alevilerin Sesi, eine alevitische Zeitschrift
Weblinks
- Bücher über Aleviten in der DNB
- Alevis are against being singled out as a minority (englisch)
- Informationen auf der Seite der Alevitische Gemeinde ATAG
- Bilinguale Site mit dem Schwerpunkt Alevitentum sowie Übergriffe auf Aleviten
Einzelnachweise
- ↑ Hans-Lukas Kieser: Muslim Heterodoxy and Protestant Utopia. The Interactions between Alevis and Missionaries in Ottoman Anatolia. In: Die Welt des Islams, New Series. 41, Nr. 1, März 2001, S. 89-111, S. 89f (http://www.jstor.org/stable/1571378).
- ↑ a b Karin Vorhoff: * "Let's Reclaim Our History and Culture!": Imagining Alevi Community in Contemporary Turkey". In: Die Welt des Islams, New Series. 38, Nr. 2, Juli 1998, S. 220-252, S. 221 (http://www.jstor.org/stable/1570745).
- ↑ Yasemin Nuhoǧlu Soysal: Changing Parameters of Citizenship and Claims-Making: Organized Islam in European Public Spheres. In: Theory and Society. 26, Nr. 4, S. 509-527, S. 526 (http://www.jstor.org/stable/pdfplus/657859.pdf).
- ↑ Peter Alford Anders, Rüdiger Benninghaus (Hrsg.): Ethnic Groups in the Republic of Turkey. L.Reichert Verlag, Wiesbaden 1989, ISBN 3882264187, S. 48, 57.
- ↑ Aliza Marcus: "Should I Shoot You?": An Eyewitness Account of an Alevi Uprising in Gazi. In: Middle East Report. 199, 1996, S. 24-26, S. 25 (http://www.jstor.org/stable/3012888).
- ↑ Der Kampf der Aleviten. NDR - Weltspiegel v. 27.07.2008 (ARD-Studio Istanbul)
- ↑ Su ücreti cami tarifesinden alınacak Artikel aus der Milliyet vom 04. September 2008
- ↑ Tunceli'de cemevlerine ibadethane statüsü Artikel aus der Milliyet vom 13. September 2008
- ↑ FAZ: Appeasement an dieser Stelle wäre Verrat 8. Juni 2007
- ↑ Gemeinde in Stuttgart
- ↑ Alevitischer Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen gestartet Meldung der Seite www.bildungsklick.de
- ↑ Offizielle Stellungnahme der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V.
- ↑ „Die Auferstehung der Aleviten“, Spiegel online
- ↑ "Aleviten wollen eigene Glaubens-Gemeinschaft", Die Presse 7. April 2009
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