Gestalt-Therapie

Gestalt-Therapie

Die Gestalttherapie gehört zu den hermeneutisch-phänomenologisch ausgerichteten erlebnisaktivierenden Psychotherapieverfahren und ist wichtige Vertreterin der humanistischen Psychologie. Als Begründer dieser Schule der Psychotherapie gelten die psychoanalytisch ausgebildeten Fritz Perls und Laura Perls, sowie Paul Goodman, ein Vertreter des philosophischen Anarchismus. Die Gestalttherapie entwickelt sich zu weiten Teilen aus der Psychoanalyse und in Kritik an und in Abgrenzung zu ihr, unter Rückgriff auf die Gestaltpsychologie und das holistische, phänomenologische, sowie existentielle Denken des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Der historische Ursprung der Gestalttherapie wird 1941 in Südafrika verortet, als Fritz und Lore Perls gemeinsam an dem Buch Das Ich, der Hunger und die Aggression arbeiteten. Beide betrachteten sich damals noch als Psychonanalytiker.

Von Gestalttherapie kann man seit dem Erscheinen des gleichnamigen Buches (Fritz Perls und Paul Goodman gemeinsam mit Ralph F. Hefferline) 1951 sprechen.
Innerhalb der Gestalttherapie haben sich nach der Gründungsphase in den USA und davon ausgehend in Europa unterschiedliche Varianten, Strömungen und Stile herausgebildet. Dazu hat zunächst einmal die theoretisch und praktisch sehr vielgestaltige und wenig kanonisierte Hinterlassenschaft der Gründungsphase wesentlich beigetragen. Die unterschiedliche therapeutische Arbeitsweise von Fritz Perls auf der einen und Laura Perls auf der anderen Seite kam in der Folge hinzu.
Fritz Perls trennte sich von seiner Frau Laura und zog an die Westküste der USA, während Laura ihre therapeutische Arbeit an der Ostküste fortsetzte. Fritz Perls entwickelte einen auf den ersten Blick eher harten, oft konfrontativen, „Westküstenstil“, während Laura Perls einen deutlich weicheren und integrativen „Ostküstenstil“ der Gestalttherapie praktizierte.

Zu den bedeutenden Gestalttherapeuten, die mit Laura Perls zusammenarbeiteten, gehört Isadore From, der auch an der Gründung des Gestalt-Instituts in Cleveland beteiligt war.

An der Westküste gründete Jim Simkin nach anfänglicher Zusammenarbeit mit Fritz Perls sein eigenes Ausbildungszentrum in der Nähe von Esalen. Erving und Miriam Polster arbeiteten von San Diego aus, und gaben 1973 mit “Gestalt Therapy Integrated” die erste systematisierte Gestalttherapie-Gesamtdarstellung heraus; parallel zu Joel Latner's ebenfalls systematisiertem “Gestalt Therapy Book”.

Barry Stevens, die 1969 mehrere Monate mit Fritz Perls in Perls' Gestaltgemeinschaft am Lake Cowichan, Vancouver Island, Kanada, verbracht hatte, widmete sich als erste in der Gestalttherapie verstärkt dem Körper-Aspekt des Organismus, und entwickelte ihre eigene Form gestalttherapeutischer Körperarbeit unter Betonung von Körper-Bewusstheit.

In Deutschland wurde die Gestalttherapie unter anderem durch Gerhard Heik Portele sowie durch Hilarion Petzold bekannt.

Heute wird die Gestalttherapie von niedergelassenen Therapeuten und daneben vor allem auch in Kliniken angewendet und weiterentwickelt. Gestalttherapie gehört derzeit zu den in Deutschland nicht abrechenbaren Therapieformen im Gegensatz zu Österreich und der Schweiz. Das Psychotherapeutengesetz, das im Jahre 2000 wirksam wurde, erkennt ausschließlich die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte sowie die Verhaltenstherapie an. Die Anerkennung als abrechenbares Verfahren ist allerdings auch ein politischer Prozess, der nicht ausschließlich von der Qualität der Therapieform abhängig ist. Die humanistischen Verfahren wie Gestalt- oder Gesprächstherapie kämpfen seitdem um ihre rechtliche Anerkennung. Ihre Wirksamkeit ist nach Klaus Grawe denen der anderen Therapieformen mit Ausnahme der Verhaltenstherapie ähnlich.

Grundlagen einer Theorie der Gestalttherapie

Die Gestalttherapie hat ihre theoretischen Wurzeln unter anderem in der Psychoanalyse Freuds. Die Vorstellung von unbewussten, mentalen Prozessen, die alle Psychotherapien begleitet, finden auch in der Gestalttherapie ihre Ausprägung. Allerdings unterscheidet sich die Gestalttherapie differenziert und in einigen Aspekten sehr grundlegend von der Psychoanalyse, so dass es schwierig ist, die einzelnen Theorien, Konzepte und Hypothesen immer deutlich voneinander abzugrenzen[1]. Im Selbstverständnis der Gestalttherapie werden daher drei Hauptkonzepte der Erklärung menschlichen Lebens zur näheren Erläuterung angeführt: Psychoanalyse, Phänomenologie und Gestaltpsychologie. Diesen Theorien beigeordnet werden Konzepte wie Holismus, Humanismus, Feldtheorie (Psychologie) und Organismische Theorie nach Kurt Goldstein, sowie Ansätze wie der Konstruktivismus und die Kybernetik [2].

Das Problem einer vereinheitlichten gestalttherapeutischen Theorie liegt darin begründet, dass die oben genannten Theorien und philosophischen Konzepte zwar eng miteinander verwandt sind, vergleiche z. B. die Untersuchungen Goldsteins mit den Arbeiten von Merleau-Pontys, die Perls aber kein geschlossenes Theoriegebäude entworfen haben. Noch heute wird die Gestalttherapie aus unterschiedlichen Richtungen fundiert. [3]. [4]

Das Werk von Perls, Hefferline, Goodman Gestalttherapie bildet die theoretische Grundlage der Gestalttherapie. In ihr wird die Position der frühen Gestalttherapie gegenüber der damaligen Psychologie und Psychoanalyse dargestellt und ein eignes Profil entwickelt. Hier wird deutlich, dass die Gestalttherapie einen deutlichen Bruch zur Psychoanalyse vornimmt, der rechtfertigt, sie als eigenständige unabhängige Therapierichtung zu verstehen, und sie nicht wie die Objektbeziehungstheorie oder Selbstpsychologie der Analyse unterzuordnen. In Überlegungen zur Weiterentwicklung der Gestalttherapie wird zur Zeit auch der Ansatz der Erfahrungsorientierten Psychotherapie nach Leslie Greenberg [5] miteinbezogen. Dieser Ansatz böte die Möglichkeit einer Fundierung in der modernen psychologischen Grundlagenforschung sowie die Überprüfung der gestalttherapeutischen Methoden und Interventionen durch empirische Forschung.

Im Folgenden sollen daher die wichtigsten Begriffe und Konzepte der Gestalttherapie dargestellt und ihre Bedeutung für eine Theorie der Gestalttherapie herausgestellt werden.

Zentrale Begriffe und Konzepte

Zentraler Begriff ist für die Gestalttherapie der namengebende Begriff Gestalt. Fritz Perls hatte zunächst den Begriff Existentialtherapie im Sinn, sah aber die Nähe zur Philosophie Jean-Paul Sartres als problematisch und entschied sich für den Begriff Gestalt – eine andere Vorstellung war Konzentrationstherapie.

Die Wahl des Namens zeigt bereits, dass die anderen Begriffe und Konzepte ebenso wesentlich für die theoretische Konzeption gewesen sind. Aus den eben genannten Begriffen können die wichtigen Begriffe der Gestalttherapie abgeleitet werden:

  • Gestalt – Kontakt und Feld
  • Konzentration – Gewahrsein und Achtsamkeit
  • Existentialismus – Dialog und Ich-Du Beziehung

Diese Begriffe können wiederum bestimmten Theorien und Theoretikern zugeordnet werden:

Gestalt

Fritz und Lore Perls sahen in dem Begriff Gestalt den zentralen Grundgedanken ihrer Therapierichtung wiedergegeben. Wissenschaftlich fundiert sahen sie diesen Gedanken in dem Denken Edmund Husserls und Ehrenfels [6]

„Gestalt! Wie kann ich klar machen, dass es sich dabei nicht auch bloß um ein weiteres, vom Menschen ersonnenes Konzept handelt? Wie kann ich verdeutlichen, dass Gestalt – nicht nur in der Psychologie – etwas der Natur Innewohnendes ist? “

Fritz Perls, Gestalt-Wahrnehmung. Frankfurt 1980 S. 64

und an anderer Stelle

„Auch Freud sah die Grundlage für die Gestaltbildung, und zwar in dem, was er das "Vorbewusste" nannte. Wir nennen es den Hintergrund, aus dem die Figur hervortritt.“

Fritz Perls, Gestalt-Wachstum – Integration. Paderborn 1980 S. 92

Der Gestaltbegriff kommt aus dem deutschen Verb gestalten und meint das Formen eines sinnvollen Ganzen. Eng verbunden sind mit diesem Begriff die Wörter Sinn und Struktur, die beide ebenfalls eine Gesamtheit beschreiben, die in sich kohärent ist. Das Bilden von Gestalten entsteht auf einem sogenannten Hintergrund, von dem sich die eigentliche Gestalt oder Figur abhebt. Diesen Prozess beschreibt die Gestalttherapie analog zu der Erklärung der Bildung von Wahrnehmung innerhalb der Gestaltpsychologie. So kann sich ein weißer Fleck nur auf dem Hintergrund einer farbigen Fläche abheben. Oder Linien werden entsprechend dem Hintergrund vervollständigt.

Die Kanten des Würfels sind imaginär; sie werden von unserem Gehirn nach dem Gesetz der guten Fortsetzung erzeugt

Grundsätzlich verneint die Gestaltpsychologie und analog eben auch die Gestalttherapie die Wirklichkeit von vereinzelten Sinnesqualitäten, die isoliert wahrgenommen werden können. Vielmehr ist Wahrnehmung, soziales Leben, Eigenexistenz immer Ausdruck einer komplexen Sinngebung. Das „Ganze“ ist mehr bzw. anders, als die Summe seiner Einzelelemente. In diesem Punkt besteht die größte Differenz der Gestalttherapie zu den empiristisch fundierten Therapien. Dieser Punkt kann als der eigentliche Paradigmenwechsel benannt werden.

Die Gestaltpsychologien unterschiedlicher Richtung leiten sich historisch aus einer einzigen Arbeit aus dem Jahre 1890 her, in der der Philosoph Christian von Ehrenfels seine Erkenntnis berichtete, die Wahrnehmung enthalte Qualitäten, die sich nicht aus der Anordnung einfacher Sinnesqualitäten ergeben. So sei die Melodie eine solche Gestaltqualität, denn die Töne als Elemente der Melodie könnten durch ganz andere Töne ersetzt werden, und es wäre dennoch dieselbe Melodie, wenn nur die Anordnungsbeziehung zwischen den Tönen erhalten bliebe.

Den Begriff Gestalt auf die Psychotherapie übertragen zu haben, ist das Verdienst der Perls.

Der Gestaltbegriff und das Konzept der Kontaktstörung

Ein Grundbegriff des Konzeptes ist das der „unabgeschlossenen Gestalt“, was bedeutet, dass der Anpassungsprozess des Organismus/der Psyche an die Umwelt (und umgekehrt) als Kontaktprozess aufgrund möglicher Störungen nicht vollständig geschehen konnte. Ergebnis ist eine Kontaktstörung. Damit konnte sich eine „vollständige (oder ‚geschlossene‘) Gestalt“ im Sinne einer abgeschlossenen Anpassungsleistung nicht ausbilden.

Ursprünglich stammt der Begriff der „Gestalt“ aus der Gestaltpsychologie, einer Psychologie der Wahrnehmung. Fritz und Laura Perls wenden ihn aber auf den ganzen Organismus an und orientieren sich dabei vornehmlich an der Gestalttheorie des Neurologen Kurt Goldstein und seiner ganzheitlichen Theorie des Organismus. Schöne Beispiele für Anpassungsleistungen und somit Schließen von Gestalten finden sich in den Veröffentlichungen von Oliver Sacks.

Das Konzept des Gewahrseins

Im Mittelpunkt der gestalttherapeutischen Methode steht die Entwicklung und Verfeinerung des Gewahrseins (deutsche Übersetzung oft auch: Bewusstheit; der englische Begriff lautet „awareness“) aller gerade vorhandenen und zugänglichen Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen des Klienten. Der Klient soll dadurch in die Lage versetzt werden, seine Kontaktstörungen als solche zu erkennen und zu erleben, die ihn daran hindern, mit seiner Umwelt in einen befriedigenden Austausch zu treten. Über die Reaktivierung emotionaler Bedürfnisse und der Wahrnehmung derselben soll es dem Klienten ermöglicht werden, seine Kontaktstörung zu überwinden.

Bewusstheit bzw. Gewahrsein kann sowohl eine absichtslose, aktive, innere Haltung der Aufmerksamkeit/Achtsamkeit, als auch eine mehr gerichtete Form der Aufmerksamkeit/Achtsamkeit bezeichnen, und sich auf alle Phänomene der Wahrnehmung und des Erlebens richten. Daraus folgt eines der wichtigsten Arbeitsprinzipien der Gestalttherapie, das Prinzip des Hier-und-Jetzt: Die gegenwärtige Situation, auch die zwischen Klient und Therapeut, wird als der entscheidende „Ort“ betrachtet, wo Veränderung geschieht. Vergangenheit und Zukunft kommen auch in dieser gegenwärtigen Situation ins Spiel: z. B. als Erinnerung oder als Planung. Methodisch geschieht die Förderung des Gewahrseins u. a. durch die direkte Rückmeldung des Therapeuten oder durch den Einsatz von Übungen, oder von Experimenten, die aus der konkreten Therapiesituation heraus entwickelt werden.

Das dialogische Prinzip

Durch die direkte und konkrete Arbeit an aktuellen Situationen und an der Beziehung zwischen Klient und Therapeut soll der Kontakt des Patienten zu sich selbst und zu seiner Umwelt gefördert und unterstützt, und bestehende Kontaktstörungen überwunden werden. Auf diese Weise werden die Selbstheilungskräfte des Patienten freigelegt und neue Einsichten, Erfahrungen und Verhaltensmöglichkeiten erschlossen. Die Gestalttherapie betrachtet die Selbstheilungskräfte als Teil der organismischen Selbstregulation, also der Fähigkeit des Organismus, sich in seiner Umgebung zu erhalten. Durch verschiedene Übungen und methodische Grundhaltungen soll die Selbstregulation gefördert werden.

Die therapeutische Beziehung in der Gestalttherapie – verstanden als Dialogische Gestalttherapie – orientiert sich an den Grundsätzen der existentiellen Beziehungsphilosophie Martin Bubers, der ‚dialogischen Haltung‘. Buber unterscheidet zwischen dem Handeln aus einer sog. Ich-Es-Haltung („sachlich“, auf ein Objekt bezogen, auch wenn das Gegenüber ein Mensch ist), und dem Handeln aus einer sog. Ich-Du-Haltung heraus, einer Hinwendung zum anderen Menschen auf gleicher Ebene, bei der die Person in ihrer Einzigartigkeit wertgeschätzt wird, ohne einen Zweck zu verfolgen. Beide Haltungen stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, und werden je nach Erfordernis der Situation gewählt. Diese Haltung, in der die Therapiesituation als eine besondere Begegnung im Sinne Bubers verstanden wird, die ein hohes Maß an Authentizität und Wahrhaftigkeit erfordert, ist grundlegend für die Gestalttherapie.

Kontaktfunktionen

Zu den sogenannten Kontaktfunktionen gehören Projektion, Introjektion, Retroflektion, Konfluenz und Deflektion. Sie werden auch als „Kontaktstörungen“, oder als „Kontaktunterbrechungen“ begriffen. Entgegen einem häufigen Missverständnis haben sie zwei Seiten, eine eher störungsschaffende und eine „normale“, die u. a. zumindest zeitweise Problemlösungscharakter besitzt, oder schlichtweg Teil der organismischen Selbstregulierung ist. Die gegenwärtige Gestalttherapie spricht daher in der Regel von „Kontaktfunktionen“.

Konfluenz („Zusammenfluss“ – manchmal werden auch die Begriffe „Verstrickung“ oder „Verschmelzung“ gebraucht), als ein Beispiel, bezeichnet in der Gestalttherapie die fehlenden Kontaktgrenzen gegenüber der Umwelt. Die Differenz zwischen Subjekt und Objekt werden negiert. Wer sich immer nach den Erwartungen anderer richtet, jeden Konflikt vermeidet, Harmonie und Nähe um jeden Preis herstellen will, ist »konfluent«. Er grenzt sich nicht von anderen ab. Die Kontaktfunktion der Aggression - wie bei der Deflektion - fehlt . Aber das Mittel der Konfliktvermeidung ist Gleichklang mit der Umgebung (also nicht Ausweichen), »Schwimmen mit dem Strom«.

Schwerer zu erkennen ist die gegenteilige Form der Konfluenz, die sich als (scheinbare) Abgrenzung darstellt. Das »Dagegensein um des Dagegenseins Willen« ist nämlich keine wirkliche Grenzziehung im gestalttherapeutischen Sinne. Denn der Handelnde handelt immer in starrer Abhängigkeit von der Umwelt, nur nicht im Gleichklang, sondern im Widerspruch. Damit aber verharrt er in Abhängigkeit und handelt nicht autonom.

Beschreibung bei Perls, Hefferline, Goodman: »Konfluenz ist der Zustand der Kontaktlosigkeit (ohne Grenze des Selbst)« (PHG, Band »Grundlagen«, S. 244).

Erst seit kurzer Zeit wird Konfluenz in der Gestalttherapie auch als positive Erscheinung betrachtet, die die Basis für Empathie (in der Folge auch gemeinschaftliche Kreativität) ist oder sein könnte. Pathologische Konfluenz wird dann als negative Erscheinung eines grundsätzlich positiven Strebens angesehen und behandelt, indem die negativen Auswirkungen von Konfluenz analysiert werden und die gleichen Kräfte zugunsten eines positiven Strebens anzuwenden erlernt wird.

Ganzheit, Feld, Prozess

Der ganzheitliche Ansatz der Gestalttherapie besteht nicht nur darin, den Menschen (als Organismus) als untrennbare Einheit von Körper, Geist und Seele zu betrachten, sondern er bezieht sich auch auf die Ganzheit des Organismus im Feld; d. h. dass das Individuum nie isoliert von seiner Umgebung gesehen und verstanden werden kann. Die Gestalttherapie spricht hier vom „Organismus-Umwelt-Feld“ als grundlegender Kategorie.

Zwischen Organismus und Umwelt befindet sich die „Kontaktgrenze“, die sowohl trennt als auch verbindet. Genaugenommen bewegt sie sich im konkreten Kontakt des Organismus mit der Umwelt. Kontakt und Kontaktgrenze sind Prozesse, mit denen der Organismus, d. h. der einzelne Mensch, im Austausch mit der Umwelt sich erhält, Neues assimiliert und wächst.

Im Kontakt fließen Bewußtheit/Gewahrsein, Bewegung, Handeln, Denken, Fühlen etc. zusammen zur Orientierung im Feld.

Auch das „Selbst“ wird in der Gestalttherapie als umfassender Prozess verstanden. Perls, Hefferline und Goodman definieren es als „das System der ständig neuen Kontakte“. Das „Ich“ stellt dabei nur eine Teilfunktion des „Selbst“ dar: es unterscheidet zwischen „zu mir gehörend“ und „fremd“. Damit hebt sich die Gestalttherapie grundlegend von der Psychoanalyse ab, die die Psyche eher als einen „Apparat“ begreift, mit dinghaften Einzelteilen.

Verwandte Richtungen

Neben der Gestalttherapie gibt es zwei zu nennende Therapieformen, die begrifflich oder historisch eng mit dem Ansatz der Perls verbunden sind, allerdings eigenständige Richtungen darstellen. Eine völlig eigenständige Entwicklung stellt die von Hans-Jürgen Walter begründete Gestalttheoretische Psychotherapie dar, die sich unmittelbar auf die Gestaltpsychologie bzw. Gestalttheorie stützt. Ebenfalls zu nennen ist die von Hilarion Petzold begründete Integrative Therapie, die die Gestalttherapie stark miteinbezieht, aber nur als einen von mehreren therapeutischen Ansätzen.

Gestalttherapieforschung

Hauptartikel: Psychotherapieforschung

In einer Fülle von Einzeluntersuchungen (Experimentelle und statistische Studien, Fallstudien u. a.) wurde die Wirksamkeit unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren überprüft. Hier ist insbesondere Klaus Grawe zu nennen, der den verhaltenstherapeutischen/kognitiven Therapieformen eine signifikant höhere Wirksamkeit zugesprochen hat. Allerdings ist die Debatte nicht als beendet zu betrachten. Vielen der großen Meta-Analysen zur Wirksamkeit von Psychotherapie zufolge steht die Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer, psychodynamisch/psychoanalytischer und humanistischer/gesprächspsychotherapeutischer Verfahren bei einer Vielzahl von psychischen Störungen inzwischen außer Frage.

In der Wirksamkeitsforschung der Gestalttherapie sind die Studien von Willi Butollo und Leslie S. Greenberg zu nennen. Greenbergs Untersuchungen bezogen sich auf einzelne Techniken und deren Effektivität, Butollo untersuchte die Wirksamkeit der Gestalttherapie bei Angststörungen. Beide kommen zu dem Schluss, dass die Gestalttherapie eine hohe Effizienz aufweise. [7]

Eine Übersicht über den Forschungsstand der Gestalttherapie legt Strümpfel (2006) vor. Die Systematisierung dokumentiert 432 empirischen Arbeiten, von Einzelfalldarstellungen und -analysen bis zu kompletten Studien. Inhaltlich dargestellt werden 113 veröffentlichte wissenschaftlichen Studien, die über Einzelfallanalysen hinausgehen, sowie eine weitere Anzahl unveröffentlichter Arbeiten wie Dissertationen und Forschungsberichte. In die klinisch relevanten Wirksamkeitsuntersuchungen gehen die Daten von insgesamt mehr als 4500 Personen ein. Dokumentiert wird die Wirksamkeit von Gestalttherapie bei verschiedenen, auch schweren psychischen Störungsbildern, wie sie sich bei psychiatrischen Patienten z. B. mit der Diagnose Schizophrenie findet, aber auch bei weiter verbreiteten Problemen wie depressiven, Angst-, Abhängigkeits- und psychosomatischen Störungen. Studien, in denen Gestalttherapie mit kognitiver Verhaltenstherapie verglichen wird, zeigen vergleichbare Verbesserungen unter beiden Behandlungen für die untersuchten Gruppen für die meisten Symptome, aber stärkere positive Effekte unter Gestalttherapie für die sozialen Kompetenzen der Patienten, insbesondere was die Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten betrifft.

Ausbildung

Die Ausbildung zum Gestalttherapeuten ist, wie bei den meisten Psychotherapieformen, über freie Institute organisiert, die sich zum Teil in Verbänden organisiert haben (siehe weiter unten: „Gestalttherapie-Verbände“), die Ausbildungsstandards vorgeben. Hierbei muss bedacht werden, dass es jedoch keine Notwendigkeit gibt, diese Standards auch umzusetzen, da der Begriff Gestalttherapeut selber nicht geschützt ist. Der Standard der DVG sieht einen Umfang von 1.450 Zeitstunden vor, die in einem Zeitraum von 3 bis 5 Jahren durchgeführt werden sollen, die wie folgt gegliedert sind:

  • Selbsterfahrung – Gruppe 170 Zeitstunden
  • Einzellehrtherapie – 80 Zeitstunden
  • Theorie und Praxis – 375 Zeitstunden
  • Theorie/Praxis-Seminare und Kongresse und kollegiales Tutorium – 275 Zeitstunden
  • Supervision – 130 Zeitstunden
  • Einzelsupervision – 20 Zeitstunden
  • Behandlungspraxis – 400 Zeitstunden

Hiermit werden die Europäischen Standards der EAGT (European Association for Gestalt Therapy) erfüllt. Erst mit dieser Ausbildung kann ein Gestalttherapeut die Zusatzbezeichnung DVG führen. Die Gründe für die zur Zeit geltenden Bestimmungen liegen letztlich auch in der anarchistischen Vergangenheit der ursprünglichen gestalttherapeutischen Bewegungen, die sich ja nicht zuletzt auch als Gegenbewegung zum damaligen psychoanalytischen Establishment gebildet hatten. Deshalb sind auch heute Institute, die nicht als Ausbildungsinstitute der DVG gelten, in der Ausbildung der Gestalttherapeuten tätig und allgemein anerkannt.

Siehe auch

Literatur

Periodika

Gestalttherapie – Einführungen

  • Albrecht Boeckh: Die Gestalttherapie. Eine praktische Orientierungshilfe. Kreuz-Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-7831-2826-9
  • Erhard Doubrawa u. Stefan Blankertz: Einladung zur Gestalttherapie. Eine Einführung mit Beispielen. Hammer, Wuppertal (4) 2005, ISBN 3-87294-847-4
  • Erhard Doubrawa: Die Seele berühren. Erzählte Gestalttherapie. Hammer, Wuppertal (2) 2004, ISBN 3-87294-908-X
  • Frank-Matthias Staemmler u. Werner Bock: Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie. Hammer, Wuppertal 2004, ISBN 3-87294-780-X
  • Bruno-Paul de Roeck: Gras unter meinen Füßen. Eine ungewöhnliche Einführung in die Gestalttherapie. Rowohlt, ISBN 3-499-17944-X

Gestalttherapie – Weiterführende Literatur

  • Stefan Blankertz u. Erhard Doubrawa: Lexikon der Gestalttherapie. Hammer, Wuppertal 2005, ISBN 978-3-7795-0018-6
  • Reinhard Fuhr u. a. (Hrsg.): Handbuch der Gestalttherapie. Hogrefe, Göttingen 1999, ISBN 3-8017-1286-9
  • Hans Peter Dreitzel (u. Mitarb. v. Brigitte Stelzer): Gestalt und Prozess. Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter. EHP, Bergisch Gladbach 2004, ISBN 3-89797-031-7
  • Lotte Hartmann-Kottek: Gestalttherapie. Springer, 2. erweiterte Auflage, Berlin 2008, ISBN 3-540-75743-0
  • Markus Hochgerner (Hrsg.): Gestalttherapie. Facultas, Wien 2004, ISBN 3-85076-643-8
  • Erving und Miriam Polster: Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. Hammer, Wuppertal 2001, ISBN 3-87294-872-5
  • Portele, Gerhard: Autonomie, Macht, Liebe. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989, ISBN 3-518-38094-X
  • Margherita Spagnuolo Lobb / Nancy Amendt-Lyon: Die Kunst der Gestalttherapie. Eine schöpferische Wechselbeziehung. Springer, Wien 2006, ISBN 3-211-27091-4
  • Uwe Strümpfel: Therapie der Gefühle. Forschungsbefunde zur Gestalttherapie. EHP, Köln 2006, ISBN 3-89797-015-5. siehe auch die Buch-HP.: http://www.therapie-der-gefuehle.de
  • John O. Stevens: Die Kunst der Wahrnehmung. Übungen der Gestalt-Therapie . GTB, Gütersloh (17) 2006, ISBN 3-579-02278-4
  • Frank-M. Staemmler: Therapeutische Beziehung und Diagnose. Pfeiffer, München 1993, ISBN 3-7904-0610-4
  • Jochen Waibel: Ich Stimme. Das Stimmhaus-Konzept für die Balance von Stimme und Persönlichkeit EHP, Köln 2000, ISBN 3-9804784-3-2
  • Joseph Zinker: Gestalttherapie als kreativer Prozess Junfermann Verlag, Paderborn, ISBN 978-3-87387-189-2

Einzelnachweise

  1. Peter Rumpler spricht hier sogar von einem Kategorienfehler innerhalb der Gestalttherapie Peter Rumpler, in Hochgerner, Hoffmann-Widhalm, Nausner, Wildberger (Hrsg.) Gestalttherapie Wien 2004 S. 77
  2. vergl. Hartmann Kottek: Gestalttherapie, Springer 2002, S. 52ff
  3. vergl. Hartmann Kottek: Gestalttherapie. Springer 2002, S. 61ff
  4. Peter Rumpler, in Hochgerner, Hoffmann-Widhalm, Nausner, Wildberger (Hrsg.) Gestalttherapie Wien 2004 S. 77
  5. Greenberg, Watson, Lietaer (1998): Handbook of Experiential Psychotherapy. New York: Guilford Press.
  6. Fritz Perls, Gestalt-Wahrnehmung. Frankfurt 1980 S. 31
  7. Butollo, W., Krüsmann, M., Maragkos, M. & Wentzel, A. (1995b): Kontakt zwischen Konfluenz und Isolation: Gestalttherapeutische Ansätze in der Angsttherapie. Vortrag gehalten auf der Tagung „Wege aus der Angst – Möglichkeiten und Chancen der Therapie bei Angststörungen“, veranstaltet von MASH (Münchner Angst-Selbsthilfe), November 1995

Weblinks

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  • gestalt-thérapie — [ gɛʃtaltterapi ] n. f. • v. 1960; angl. gestalt therapy, de l all. Gestalt « forme » ♦ Psychol. Thérapie de groupe permettant à l individu de reconnaître et d accepter les parties antagonistes de son corps et de sa personnalité. ● gestalt… …   Encyclopédie Universelle

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