Alexandre Kojeve

Alexandre Kojeve

Alexandre Kojève (geboren als russisch Александр Владимирович Кожевников/ Alexander Wladimirowitsch Koschewnikow, wiss. Transliteration Aleksandr Vladimirovič Koževnikov; * 28. April 1902 in Moskau; † 4. Juni 1968 in Brüssel) war ein russisch-französischer Philosoph, der wesentlich zur Wiederentdeckung Hegels in Frankreich beitrug.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kojève wurde als Kind wohlhabender Eltern in Moskau geboren; sein Onkel war der Maler Kandinsky. Seit 1920 studierte er – zunächst Sanskrit und Chinesisch, später abendländische und fernöstliche Philosophie – in Heidelberg und Berlin. Zu seinen Kommilitonen zählten unter anderem Alexandre Koyré und Leo Strauss. Nach einer Dissertation über den russischen Mystiker Solowjew, die er bei Karl Jaspers 1924 ablegte, ging Kojève 1928 nach Frankreich (1937 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an), wo er fast sein gesamtes Vermögen durch unglückliche Finanzspekulationen verlor. An der Pariser École Pratique des Hautes Études gab er von 1933 bis 1939 Vorlesungen über Hegels Phänomenologie des Geistes (in Vertretung von Koyré) – ein Thema, das ihn zeitlebens begleiten sollte. In Rahmen dieser Vorlesungen erhielt er auch die französische Fassung seines Nachnamens. Die Lesungen erlangten schnell Berühmtheit; unter anderem wohnten ihnen Intellektuelle und Schriftsteller wie etwa Hannah Arendt, Raymond Queneau, Georges Bataille, Maurice Merleau-Ponty, Jacques Lacan, Pierre Klossowski, Jean Wahl, Eric Weil, Roger Caillois, Jean-Paul Sartre, und Raymond Aron bei.

Den Zweiten Weltkrieg überstand er zusammen mit Léon Poliakov in Marseille, wo er sich einer Widerstandsgruppe in der Nähe von Souillac anschloss. Hier entstand seine 1942 veröffentlichte Studie über die Autorität. Nach Kriegsende war Kojève eine Zeitlang arbeitslos bis er durch Robert Marjolin, einen seiner früheren Hörer, einen Posten in der DREE (Direction de la Recherche et des Études Économiques), und später im französischen Wirtschaftsministerium erhielt. Ab 1948 war er Sekretär für die OEEC; in dieser Funktion sollte er bis zu seinem Tode die französischen Regierungen europapolitisch beraten und wichtige Verhandlungen, etwa die zu den GATT, maßgeblich mitgestalten. Philosophisch blieb er in dieser Zeit nicht untätig; er sollte jedoch niemals zur universitären Philosophie zurückfinden.

Gerüchte, er habe für den russischen Geheimdienst KGB spioniert, haben sich bis heute hartnäckig gehalten.

1967 überraschte der vom SDS nach Berlin Eingeladene den Studentenführer Rudi Dutschke u. a. 68er mit dem Ratschlag, sie sollten Griechisch lernen.

Kojève starb 1968 in Brüssel während eines Vortrags an einem Herzinfarkt und ist dort auch begraben.

Werk

Im 19. Jahrhundert war durch Victor Cousin die Hegelianische Philosophie in Frankreich eingeführt worden. Die überragende Bedeutung, die Hegel in der französischen Philosophie, besonders der Politischen Philosophie, heute zukommt, ist ohne Zweifel Kojève zuzuschreiben - bis zu seiner Ankunft in Paris war Hegel eine Randfigur in den Philosophiegeschichten, es dominierte vor allem ein mathematisch inspirierter Neukantianismus. Seine Lesart Hegels gehört mittlerweile mit zu den einflussreichsten überhaupt, wenn sie auch nicht unumstritten ist. Beispielsweise haben Jacques Derrida, Jacques Lacan und Michel Foucault immer wieder auf den profunden Einfluss Kojèves auf ihr jeweiliges Denken hingewiesen; er gilt daher als einer der Vordenker der Postmoderne. Über seinen Freund Leo Strauss ist Kojève auch in den Vereinigten Staaten wirksam geworden, so hatte er beispielsweise Einfluss auf das Denken Allan Blooms.

Kojèves Hegelinterpretation war maßgebend für Sartre, Bataille und Lacan. Kojève war ebenso Mitglied des 1937 von Georges Bataille, Roger Caillois und Michel Leiris gegründeten Collège de Sociologie, an dem er einen Vortrag hielt (vgl. Moebius 2006). Er stand aber den "sakralsoziologischen" Bestrebungen des Collège kritisch gegenüber und bezeichnete die Gründer des Collège als "Zauberlehrlinge", da sie bestrebt waren, den in den 30er Jahren sich ausbreitenden Faschismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Die Vorlesungen über die Phänomenologie des Geistes, die als das Hauptwerk Kojèves gelten, wurden 1947 unter dem Titel Introduction à la Lecture de Hegel veröffentlicht, jedoch weitestgehend ohne Kojèves eigentliches Zutun - die redaktionelle Hauptarbeit hatte Raymond Queneau auf sich genommen, der die Vorlesungsnotizen der übrigen Hörer versammelte und zusammenführte (ein Verfahren, das frappierend dem Zustandekommen einiger Schriften Hegels selbst, etwa den Vorlesungen über die Ästhetik, ähnelt).

Durch die Kombination der Gedanken von Hegel, Marx und Heidegger entwickelt Kojèves Hegellektüre eine ausführliche Interpretation der Dialektik von Herrn und Knecht aus der Phänomenologie, wobei er den Begriff der Anerkennung als zentral für die gesamte Sozialtheorie Hegels sieht. Dieser ist in der Phänomenologie selbst relativ gering entwickelt, war jedoch in Hegels Jenenser Frühschriften von eminenter Bedeutung. Die Fähigkeit, nach Anerkennung zu verlangen, ist ein Kennzeichen einer spezifisch menschlichen Begierde - im Gegensatz zum natürlichen Begehren der Tiere nach Selbsterhaltung. Die Begierde ist ursprünglich ein Nichtseiendes, das nach Seiendem verlangt, etwa der Hunger nach Nahrung. Um sich über das Sein zu erheben, muss man ein Nichtseiendes begehren, nämlich ein anderes Begehren - und dieses erhält man nur in der Anerkennung. Um gegenüber anderen Menschen die begehrte Anerkennung zu erhalten, riskiert der Mensch permanent sein Leben - die Erfüllung seiner Begierde findet er in der Negation der Begierde der Anderen. Es kommt zu Kämpfen zwischen den Menschen, in denen zwar das Leben aufs Spiel gesetzt, aber nicht genommen werden darf: der Tod des Anderen verhindert ja gerade die Möglichkeit, von ihm anerkannt zu werden. Daher muss der Gewinner der Kämpfer den Verlierer nur mit dem Tod bedrohen, und zwar zeitlebens - dadurch wird er zum Herrn, der andere zum Knecht. Diese Form des "Prestigekampfs" ist nach Kojève ebenfalls ein typisch menschliches Verhalten, das keine Entsprechung im Tierreich habe.

Die wechselseitigen Anerkennungskrisen zwischen Herrn und Knecht führen, so Kojève, zu einem Verschwinden des Herrn, während der Knecht sich allmählich zum Herrn über die Natur aufschwingt. Wie Hegel sieht Kojève das Ende der Geschichte mit dem Napoleonischen Europa erreicht, einer universellen und homogenen Zivilgesellschaft, die gänzlich auf wechselseitiger Anerkennung gleichberechtigter Citoyens fußt. Im Hegelschen Modell endet die Geschichte mit dem Sieg der Ideen der Französischen Revolution in der Schlacht bei Jena. Seither gibt es keine neuen politischen Ideen mehr, sondern nur noch ihre Verbesserung und Vertiefung. Das Zeitalter des historischen Menschen und des politischen Handelns im starken Sinne ist zu Ende. Fortan verwirklicht sich der Mensch nur mehr in der Kunst, der Liebe und im Spiel, und kann darin zu seiner ursprünglichen, durch die Zivilisation geläuterten Tierhaftigkeit zurückkehren. Im Gegensatz zu Marx ist der Endzustand der geschichtlichen Entwicklung nicht sozialistisch oder kommunistisch, sondern liberal-kapitalistisch - eine These, die neuerdings durch die an Kojève geschulte Hegel-Lektüre Francis Fukuyamas aktualisiert und kontrovers diskutiert wurde.

Weniger bekannte Schriften Kojèves behandeln unter anderem die Vorsokratiker, Kant, und die Zusammenhänge von Christentum, Marxismus und Hegelianismus. Posthum veröffentlicht wurde seine Esquisse d'une phénomenologie du droit (Umrisse zu einer Phänomenologie des Rechts), die aristokratische und bürgerliche Rechtskonzepte einander gegenüberstellt. Großen Raum nimmt auch die Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie seines Freundes und ehemaligen Kommilitonen Leo Strauss ein.

Kojèves politischer Radikalismus hat zu verschiedenen, sich eigentlich ausschließenden Positionierungen geführt. Einerseits steht sein Denken in der Tradition des 'linken' Spektrums des Existenzialismus (mit starken Bezügen zu Sartre, Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir und anderen) - was sogar zu seiner Selbstbezeichnung als dem "einzigen echten Stalinisten" leitet. Andererseits führt er eine lebhafte Korrespondenz mit dem konservativen Historiker Leo Strauss und dem konservativen, zeitweise dem Nationalsozialismus nahestehenden Rechtswissenschaftler Carl Schmitt.

Sein Schüler Raymond Queneau hat Kojève in seinem Roman Le dimanche de la vie (1951) ein literarisches Denkmal gesetzt.

Schriften

Philosophische Schriften

  • Die Philosophie Wladimir Solowjews. Heidelberg 1924
  • La Notion d'autorité. Paris (Gallimard) 1942
  • Introduction à la lecture de Hegel. Paris (Gallimard) 1947 (dt.: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Herausgegeben von Iring Fetscher. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1975).
  • Kant. Paris (Gallimard) 1973.
  • Histoire raisonnée de la philosophie païenne. Paris (Gallimard), 3 Bände: 1971-1973
  • Tyrannie et Sagesse, in: Leo Strauss, De la Tyrannie. Correspondance avec Alexandre Kojève 1932-1965. Paris (Gallimard) 1997 (dt.: Über Tyrannis. Luchterhand 1963)
  • L'empereur Julien et son art d'écrire. Paris (Fourbis).
  • Esquisse d'une phénomenologie du droit. Paris (Gallimard) 1981.
  • Le concept, le temps et le discours. Paris (Gallimard) 1991
  • Les peintures concrètes de Kandinsky (dt.: Die konkrete Malerei Kandinskys. Gachnang & Springer)
  • L'athéisme
  • Hegel, Marx et le Christianisme. In: Critique 3-4 (1946). Deutsche Übersetzung in Fetscher (1975), Anhang.
  • Les romans de la sagesse. In: Critique 60 (1952); deutsch in: Alexandre Kojève, Überlebensformen, Berlin (Merve) 2007.
  • Le dernier monde nouveau. In: Critique 111-112 (1956); deutsch in: Alexandre Kojève, Überlebensformen, op. cit.

Politische Schriften

  • Esquisse d’une doctrine de la politique française (27. August 1945). Veröffentlichung in La regle du jeu 1 (1990). Deutsche Übersetzung: Helmut Kohlenberger, Walter Seiter: Alexandre Kojève. Das lateinische Reich. In: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 15 (1991), S. 92-122. Englisch durch Erik De Vries: Outline of a Doctrine of French Policy. In Policy Review 2004, p. 3-40, online [1].
  • Alexandre Kojève: Düsseldorfer Vortrag: Kolonialismus in europäischer Sicht. In: Piet Tommissen (Hg.): Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts. Band 6, Berlin 1998, S. 126-143. Englische Übersetzung und Kommentar, incl. dem Schmitt-Kojève Briefwechsel: Erik De Vries: Alexandre Kojève — Carl Schmitt Correspondence and Alexandre Kojève, “Colonialism from an European Perspective”. In: Interpretation, 29/1 (2001), p. 91-130.

Weitere Literatur

  • Dominique Auffret: Alexandre Kojève. La philosophie, l'Etat, la fin de l'histoire, Librairie Generale Française, Paris 2002, ISBN 2-253-94320-7
  • Judith Butler: Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth Century France, Columbia University Press, New York 1999, ISBN 0-231-06450-0
  • Barry Cooper: The End of History. An essay of modern Hegelianism, UTP, Toronto 1984, ISBN 0-8020-5625-3
  • F. Roger Devlin: Alexandre Kojeve and the Outcome of Modern Thought, University Press of America, Lanham, Md. 2004, ISBN 0-7618-295-9-8
  • Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1987, ISBN 3-518-27946-7
  • Shadia B. Drury: Alexandre Kojeve. The Roots of Postmodern Politics, Palgrave MacMillan, Basingstoke 1994, ISBN 0-333-62211-1
  • Joseph Juszezak: L'anthropologie de Hegel à travers la pensée moderne. Marx-Nietzsche, A. Kojeve, E. Weil, Ed. Anthropos, Paris 1977, ISBN 2-7157-0278-7
  • Raymond Queneau: Sonntag des Lebens, Fischer, Frankfurt/M. 1986, ISBN 3-596-25892-8 (französ.: "Le dimanche de la vie")
  • Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie 1937-1939. Konstanz: UVK, 2006. ISBN 3896695320

Weblinks


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