Grotowski

Grotowski
Statue von Jerzy Grotowski in Opole

Jerzy Grotowski (* 11. November 1933 in Rzeszów, Polen; † 14. Januar 1999 in Pontedera, Italien) war ein polnischer Regisseur und Theatertheoretiker. Er gilt als einer der führenden Vertreter der Theateravantgarde und zusammen mit Henryk Tomaszewski als einer der größten Künstler des polnischen Theaters des 20. Jahrhunderts.

Inhaltsverzeichnis

Kindheit

Bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebte seine Familie in Przemyśl und wurde dann getrennt. Seine Mutter zog mit ihm in ein kleines Dorf und sein Vater wurde Offizier der polnischen Armee. Nach der Kapitulation Polens 1939 floh der Vater nach England und wurde Soldat einer polnischen Division innerhalb der britischen Armee.

Ausbildung

1955 beendete Grotowski ein Schauspielstudium in Kraków (Krakau) und ging dann nach Moskau. Dort lernte er die Theaterkunst der russischen Avantgardisten, aber auch die Schauspielertrainingsmethoden Stanislawskis, die „rhythmischen Übungen“ von Charles Dullin, das „bio-mechanische TrainingMeyerholds sowie Wachtangows Synthese kennen, die ihn ebenso beeinflussten wie Bertolt Brecht oder Antonin Artaud. 1956 kehrte er nach einer Reise nach Mittelasien und China, wo er die Peking-Oper, das indische Kathakali und das japanische No-Theater studierte, nach Polen an die Schauspielschule in Krakau zurück, um ein Regiestudium zu beginnen, das er 1960 mit dem Regie-Diplom abschloss.

Das Teatr Laboratorium

Noch während des Studiums übernahm er 1959 mit dem Literaturkritiker Ludwik Flaszen (* 1930) das Teatr 13 Rzędów, das Theater der 13 Reihen (34 Plätze) in Opole (Oppeln), das später in Teatr Laboratorium 13 Rzędów umbenannt wurde. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die Schauspieler Rena Mirecka, Antoni Jaholkowski und Zygmunt Molik, später dann noch Ryszard Cieślak und Zbygniew Cynkutis, die bis zum Ende des Laboratoriums mit Grotowski arbeiten sollten. Zuvor hatte er schon bei verschiedenen Bühnen und beim Polnischen Rundfunk Regie geführt. Zwischen 1961 bis 1968 beschäftigte sich Grotowski hauptsächlich mit der Ausbildung der Schauspieler. Einer seiner Schüler in dieser Zeit in Opole war Eugenio Barba, der auf den Grundlagen seiner Arbeit mit Grotowski später das Odin Teatret in Oslo gründete (siehe dazu auch: Straßentheater).

Am 2. Januar 1965 zog das Theater nach Wrocław (Breslau) um und bekam dort den offiziellen Status eines Instituts. Der vollständige Name war: Theater Laboratorium der 13 Reihen – Forschungsinstitut für schauspielerische Methode (ab 1966 wurden die dreizehn Reihen im Titel gestrichen, ab 1975 nur noch: Institut Laboratorium). Der o. g. Schauspielerstamm wurde um Elizabeth Albahaca, Andrzej Paluchiewicz und Stanisław Scierski erweitert, mit dem er seine Ideen von einem von allen Fesseln befreitem Theater umsetzen und neu erfinden konnte. Noch später kamen Irena Rycyk, Zbigniew Kosłowski, Teo Spychalski und Jacek Smisłowski hinzu, wobei zu bemerken ist, dass es eine gewisse Fluktuation unter den Schauspielern des Laboratoriums gab (alle auf dieser Seite genannten jedoch blieben von ihrem jeweiligen Zugang an über die gesamte Schaffensperiode und leiteten teilweise auch die nachfolgenden Institute).

Grotowskis Ziele

Grotowski wollte ein von allem Überfluss des Theaterapparats (des „reichen Theaters“) gereinigtes Zurückbesinnen auf den Urgrund der Schauspielkunst erreichen. Er entwirft in seinem Plädoyer Für ein armes Theater ein Schauspiel, das „ohne Schminke, ohne eigenständige Kostüme und Bühnenbild, ohne abgetrennten Aufführungsbereich (Bühne), ohne Beleuchtungs- und Toneffekte usw. existieren kann“ (Grotowski 1994 und früher). Dabei versucht er den Schauspieler zu enthemmen, seine Physis zu lockern, seine Psyche aufzureißen und ihm „seine Maske zu nehmen“, sodass der Schauspieler dem Publikum, das er zu „Zeugen“ erhebt, quasi „nackt“ gegenübertritt. Dabei benutzt er ein hartes körperliches und psychisches Training, weil er vom Schauspieler ein „Sich-Überschreiten“ verlangt, sowie die genaue Analyse der einzelnen Prozesse durch Spezialwissenschaften. „Der Schauspieler ist zumindest in seiner Rolle Schöpfer, Modell und Schöpfung in einem“, so Grotowski. Diesem Anspruch entspricht die Arbeits- und Lebensform seines Ensembles: „freiwilliger Verzicht auf materielle Güter, sektenartiges Zusammenleben, kollektive Erfindung, hohes Ethos“ (Theaterlexikon, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1978).

Aufführungen

  • Orpheus nach Jean Cocteau (1959)
  • Kain nach Lord Byron (1960; gilt als erste bedeutsame Aufführung; enthält Mittel der Pantomime, der Satire und des Kabarett, Kämpfe mit Tennisschlägern, Ringen und Boxen)
  • Faust nach Goethe (1960 außerhalb des eigenen Theaters mit anderen Schauspielern)
  • Mysterium buffo nach Majakowski (1960; außerdem vom Text Das Schwitzbad des gleichen Autors inspiriert, gilt es als beißende Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kunst)
  • Schakuntala nach Kalidasa (1960; um Fragmente aus dem Kamasutra erweitert, mit nur wenigen Schauspielern besetzt: Merkmal waren künstliche Sprache und Gesten, die Kostüme wurden von Kindern einer Schule für bildende Künste entworfen)
  • Die Totenfeier nach Adam Mickiewicz (1961; zum ersten Mal wird zwischen dem Publikum gespielt, dem auch bestimmte Rollen übertragen werden)
  • Kordian nach Juliusz Słowacki (1962; der Handlungsort wird in eine psychiatrische Klinik verlegt, es gibt mehrere Etagenbetten, auf denen die Schauspieler inmitten des Publikums agieren und die Zuschauer sitzen)
  • Akropolis nach Stanisław Wyspiański (1. Fassung 1962; die Handlung wird in ein nazistisches Konzentrationslager verlegt, die Schauspieler bauen während der Aufführung ein absurdes Gerüst aus Rohren: „Arbeit macht frei!“, um danach geschlossen in eine symbolische Gaskammer zu verschwinden)
  • Akropolis (2. Fassung 1962)
  • Dr. Faustus nach Marlowe (1963; die Zuschauer sind Gäste beim Abschiedsessen des Faustus, sitzen an Tischen, auf denen die Schauspieler agieren)
  • Studie über Hamlet nach Shakespeare/Wyspiański (1964; wird in einem leeren Saal gespielt, die Zuschauer sitzen an den Wänden)
  • Akropolis (3. Fassung 1964)
  • Akropolis (4. Fassung 1965)
  • Der standhafte Prinz nach Calderón/Słowacki (1. Fassung 1965; die Handlung spielt hinter vier Holzwänden, die Zuschauer müssen über diese schauen wie in eine Art „Löwengrube“ hinein; die Paradefigur des Ryszard Cieślak)
  • Der standhafte Prinz (2. Fassung 1965)
  • Akropolis (5. Fassung 1967)
  • Der standhafte Prinz (3. Fassung 1968)
  • Apocalypsis cum figuris nach Texten aus der Bibel/Dostojewski/Słowacki/T. S. Eliot/Simone Weil (1. Fassung 1969; unter dem Arbeitstitel Evangelien entstanden, ebenso von Thomas Manns Doktor Faustus beeinflusst, kommt dem Zuschauer die Rolle als „Zeuge“ zu. Ein Kritiker schrieb: es gibt „sechs Schauspieler ... und die Zuschauer. Sonst gab es nur noch einen Laib Brot, einen Eimer Wasser, ein Messer, ein Handtuch, Kerzen und zwei Scheinwerfer. Das und nur das.“)

(Das „nach“ zeigt, dass Grotowski nie „vom Blatt weg“ inszenierte, sondern die Vorlagen durch z. B. freie Improvisationen und Assoziationen der Schauspieler völlig neu „erfand“; die verschiedenen Versionen zeigen, dass die Inszenierungen nie völlig abgeschlossen waren, sondern Teil eines „lebendigen Prozesses“, so Grotowski!)

Danach machte Grotowski, hauptsächlich mit dem Schauspieler, der seine Prinzipien am meisten verkörperte: Ryszard Cieślak, weite Reisen, um seine Theorie und Praxis in Vorträgen, Seminaren, Tourneen und Theaterfestivals auf der ganzen Welt (z. B. dem Theater der Nationen 1967 in Paris und 1975 in Warschau oder im Kulturwettbewerb, der 1972 die Olympischen Spiele in München begleitete) vorzustellen. Beide erhielten zahlreiche

Auszeichnungen (eine Auswahl):

Jerzy Grotowski

  • Staatspreis 1. Klasse der Volksrepublik Polen auf dem Gebiet der Kunst,
  • Ordentlicher Professor der Ecole Supérieure d’Art Dramatique in Marseille,
  • Ehrendoktortitel der Universität in Pittsburgh,
  • Verdienstdiplom des Nationalmuseums der USA/Smithsonian Institute in Washington „für den hervorragenden Beitrag zur Entwicklung des Welttheaters“.

Ryszard Cieślak

  • Bester Schauspieler des Off-Broadway der Saison 1969/70 in zwei Kategorien (zum ersten Mal an einen Schauspieler, der nicht in Englisch spielt!).

Die „Special Projects“

1975 vollzog Grotowski den einschneidendsten Schritt in seiner Entwicklung: Er wandte sich von Theater im Sinne einer Aufführung konsequent ab und vollführte nur noch so genannte „Special Projects“, also paratheatralische Experimente und Selbsterfahrungspraktika, in denen die Teilnehmer auf unerwartete Aufgaben und Situationen gestoßen werden und die meist über mehrere Tage in freier Natur gingen.

Wirkung

Nach dem Ende des Theaterlaboratoriums gründete Grotowskis zeitweilige Assistentin Teresa Nawrot 1984 eine Schule für Schauspiel, in dem das, was als seine Methode propagiert wurde, versucht wird zu praktizieren. Andere Schauspieler eröffneten verschiedene Institute, die sich mit Aspekten der Theater- und Schauspielerarbeit Grotowskis beschäftigten und diese verbreiteten.

Grotowskis Charisma ließ ihn schnell zu einem neuen Theater-Guru heranwachsen, der bei konventionellem Theaterpublikum zwar Ablehnung und sogar Ekel hervorrief, jedoch folgten ihm die jungen Schauspieler im Geiste der Jugendbewegungen von 1968 wie Jünger. Grotowski schuf auch die theoretische Grundlage für seine Arbeit durch seine Schriften, die ein „armes Theater“, also ein von allen überflüssigen Requisiten befreites und nur auf den Schauspieler und seine Kunst beschränktes Theater forderten.

Seine Lehre übt immer noch einen großen Einfluss auf viele Schauspieler, Regisseure (hier vor allem: Peter Brook!) und freie Theatergruppen aus.

Literatur und Quellen

  • Literatur von und über Jerzy Grotowski im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek .
  • Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1982, ISBN 3499162903 (enthält mehrere Kapitel von und zu Grotowski.)
  • Brook, Peter, Carrière, Jean-Claude, Grotowski, Jerzy: Georg Iwanowitsch Gurdjieff, Alexander-Verlag, Berlin 2001
  • Burzyński, Tadeusz und Osiński, Zbigniew: Das Theater Laboratorium Grotowskis, Verlag Interpress, Warszawa 1979 (in Polen auf Deutsch erschienen, bietet es den besten Einblick von Außenstehenden in die gesamte Arbeit Grotowskis und sehr viele Fotos.)
  • Grotowski, Jerzy: Für ein armes Theater, Friedrich, Velber 1970, Orell Füssli, Zürich und Schwäbisch Hall 1986, und Alexander-Verlag, Berlin 1994 (das „Standardwerk“ Grotowskis.)
  • Richards, Thomas: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, Alexander-Verlag, Berlin 1996
  • Shawn, Wallace und Gregory, André: Mein Essen mit André. Ein Drehbuch, Alexander-Verlag 2003, ISBN 3895811033 (das Drehbuch des gleichnamigen Films von Louis Malle, in dem zwei Männer, einer davon besuchte gerade ein „Special Project“ Grotowskis, über den Sinn des Lebens sprechen. Der Film selbst ist natürlich auch äußerst interessant.)

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