Großbulgarisches Reich

Großbulgarisches Reich
Map of Old Great Bulgaria.svg
Das Großbulgarische Reich (vor 650) und das Donaubulgarische Reich (um 900)

Das Großbulgarische Reich (bulgarisch Велика България, aus dem griechischen Η παλαια μεγαλη Βουλγαρια; megale Boulgaria) war das Reich der turkstämmigen[1] Protobulgaren (auch als Hunno-Bulgaren bezeichnet) in Südrussland und dem Nordkaukasus. Im Gegensatz zu den späteren bulgarischen Großreichen (1., 2. und 3. Bulgarenreich) erstreckte es sich nicht auf die Balkanhalbinsel, sondern lag nördlich des Schwarzen und Asowschen Meeres. Der Name des Reiches entstammt von byzantinischen Gelehrten. Hauptstadt des Reiches war die Hafenstadt Phanagoria.

Die vom 7. bis zum 13. Jahrhundert ebenfalls in Russland ansässigen Wolgabulgaren waren der an der Wolga verbliebene Teil der Protobulgaren nach der Zerschlagung des Großbulgarischen Reiches.

Inhaltsverzeichnis

Einordnung als Turkvolk

Sie waren überwiegend als ein Turkvolk anzusehen, das aus den Resten der Hunnen, verwandten turkstämmigen Volksgruppen entstanden ist. Nach überwiegender Auffassung sollen die Wolgabulgaren aus den Stämmen der Onoguren entstanden sein, zu denen sich noch andere turkstämmige Völkerschaften, wie Sabiren und die Vorfahren der Chasaren, freiwillig anschlossen bzw. von ihnen unterworfen wurden. Sie sprachen zu jener Zeit eine der sogenannten oghurischen Sprachen, waren also als Oghuren aufzufassen. Ihr ethnisches Gepräge änderte sich jedoch, als sie weitere Völkerschaften unterwarfen, wie z. B. Slawen und Finno-Ugren. Als Alternativbezeichnung für die Wolgabulgaren liegt uns auch aus der überwiegend turkvölkischen Turkologie Törk Bolğar (tatarisch), Turk Bolğar bzw. Türk Bulğar vor. Diese Bezeichnung stammt vom alttürkischen Türük-Bolqar/Turuk-Bulkha ab und hatte die Bedeutung: „vermischte Turuk“. Das weist eindeutig darauf hin, dass schon die Vorfahren der Wolgabulgaren ein ausgesprochenes Mischvolk darstellten. Doch heute wird „Türük-Bolqar“ vielfach mit Türk-Bulgaren oder Turk-Bulgaren übersetzt. Dieses hat zwar eine gewisse Berechtigung, doch diese Übersetzung kam erst im Zuge des Panturkismus des 19. Jahrhunderts bei den Tataren Russlands auf.

Die Hunnen waren 454 aus Ungarn in die Schwarzmeer-Steppe (Altyn Oba Horde) abgezogen. Dabei standen sie unter der Herrschaft von zwei Familien-Klans (Kutriguren und Utriguren), die ihre Herkunft auf Attila und dessen Söhne zurückführten. Um 558-60 lösten sie sich im inneren Streit auf und wurden von den Awaren besiegt, die aber weiterzogen. Die besiegten Reste der Hunnen vermischten sich allmählich mit bereits benachbarten wie auch neu ankommenden türkischen und ersten slawischen Stammesgruppen, so dass sich das Volk der Protobulgaren bildete.

Großbulgarisches Reich

Ende des 6. Jahrhunderts bildeten sie unter Orchan das so genannte Großbulgarische Reich im Bereich der Flüsse Don und Wolga mit der Hauptstadt Phanagoria, das im Westen von Awaren und im Osten von den Westtürken Tardus bevormundet wurde. Orchan hatte als Onogur-Hunne noch einen traditionell „geschorenen Kopf“, wird jedoch heute als der erste Fürst jener „Protobulgaren“ betrachtet. (Der geschorene Kopf symbolisierte bei den frühen Steppenvölkern ursprünglich nur einen einfachen Krieger, denn nur der Stammesfürst besaß das Recht, sein Haupthaar lang zu tragen!)

Sein Nachfolger war sein Neffe Kubrat Dulo, zu dessen Zeit (ca. 626) der Druck der Chasaren zunahm, die sich mit dem Tod des Khan Tung Sche-hu 630 (Ziebil?) langsam von den Westtürken ablösten. Kubrat hielt sich in seiner Jugend einige Zeit als Geisel oder Gast in Konstantinopel auf, so dass ihm gern byzantinische, zivilisierte Sitten nachgesagt werden. Zumindest galt er als "Freund" des damaligen byzantinischen Kaisers und soll Johannes von Nikiu zufolge in seiner Kindheit als Christ getauft worden sein.[2]

Aufspaltung

Die Wanderung der bulgarischen Stämme

Mit dem Tod von Kubrat Khagan (668) aus der Dulo-Dynastie folgte der Niedergang des Großbulgarenreiches. Mit dessen Auflösung in Südrussland, erfolgte die Abwanderung der bulgarischen Stämme unter der Führung der fünf Söhne Kubrats.

Ein Teil unter Kubrats ältestem Sohn Khan Batbajan (bzw. Vatbajan) blieb an den unteren Verlauf der Wolga und unterwarf sich den Chasaren. Seine Gruppe, die „Schwarzen Bulgaren“ (Khara Bulkhar/Qara Bolqar) wurden noch eine Weile in russischen Inschriften erwähnt und verschwanden dann aus der Geschichte. Nachfahren dieser Bulgaren sind die im Norden des Kaukasus lebende Balkaren.

Ein Teil unter dem zweitältesten Sohn Khan Kotrag wanderte nach Norden und gründete in der Folge an der mittlere Wolga ein Bulgarisches Reich (in arabischen Quellen spricht man von den „Weißen Bulgaren“/Akh Bulkhar/Aq Bolqar), das zunächst noch von den Chasaren abhängig war. Zur Hauptstadt wurde die wichtige Handelsmetropole Bolgar, am Zusammenfluss von Wolga und Kama. Zu Unterscheidung von anderen bulgarischen Stämmen, spricht man hier von den Wolgabulgarien, bzw. Wolgabulgaren.

Wolgabulgarien nahm unter Khan Alamusch (Almush, Almas, Almış reg. 895-925) um 922 den Islam an (vgl. Ibn Fadlan) und entwickelte sich bald zu einer bedeutenden Handelsmacht, die insbesondere den Fernhandel (Luxusprodukte) zwischen der Kiewer Rus und den islamischen Ländern im Süden vermittelte. Diplomatische Beziehungen reichten unter Ibrahim (reg. 1006-1025) um 1024 bis Chorasan. Man betrieb in dem dicht besiedelten Land erfolgreich Ackerbau und gründete mehrere Städte wie Bolgar (beim heutigen Kasan), die Moscheen, Karawansereien und öffentliche Bauten besaßen. Zahlreiche Dörfer und kleine Festungen werden verzeichnet.
Schon im 12. Jahrhundert kam es zu mehreren militärischen Konflikten mit russischen Fürsten, die den Bestand des Staates bedrohten. Im Jahr 1236 wurde das Reich der Wolgabulgaren von der Goldenen Horde zerstört, kurz bevor diese die Rus unter ihre Herrschaft brachte. Das Volk der Tschuwaschen sieht sich als Nachfolger eines Teils der Wolga-Bulgaren, ein anderer Teil verschmolz mit den Kasan-Tataren, die sich noch bis ins späte 19. Jahrhundert als "Bolgarları" (Bolgaren = Bulgaren) und nicht als "Tatarlar" (Tataren) bezeichneten.

Kuver (Kuber) und Alzek, die beiden jüngsten Söhne Kubrats, zogen mit ihren Reitern und kleineren Stammesverbänden nach Pannonien (Ungarn) weiter, wo sie sich mit den übrigen Bulgaren unter avarischer Herrschaft vereinen.. Nach einer misslungene Revolte gegen die Awaren trennten sich ihre Wege. Khan Alzek zog weiter westlich, überquerte die Alpen und zog durch Nord- nach Süditalien. Dort bekam Alzek schließlich die Erlaubnis, sich im Herzogtum Benevent niederzulassen. Der Historiker Paulus Diaconus berichtet, dass dort Khan Alzek von den langobardischen König Grimoald empfangen wurde. Alzek wurde die Region Molise zugesprochen, unter der Voraussetzung, dass er auf seinen Titel dux und Herrschaftsanspruch verzichtet, da Grimoald selbst dux von Benevent war. Noch heute tragen in ganz Italien Berge, Regionen, Dörfer, Flüsse und Familien bulgarische Namen oder die Bezeichnung „Bulgaren“ (bulg. Bulgari). Beispiele dafür sind der italienische Hersteller von Luxusartikeln Bulgari, Bartolomeo Bulgarini, Kardinal Pietro Bulgaro, der Name del Bulgaro oder die Gemeinde Bulgarograsso.

Khan Kuver zog um 680 Richtung Süden mit Teil der Sermesianoi(Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung auf dem Balkan), erreichte das heutige Mazedonien und errichtete in der Landschaft Pelagonien ein Khaganat. Die Bezeichnung dieses Reiches als Westbulgarisches Reich ist jedoch umstritten. Das Khaganat ging in das Donaubulgarische Reich auf. Bis heute sehen viele Bulgaren die Mazedonier nicht als eigenes Volk, sondern als Westbulgaren.

Die bulgarische Reiche um 800 n. Chr.

Ein weiterer Teil unter dem dritten Sohn Asparuch (oder Isperich; 641-702) wanderte auf den Balkan aus und gründete 678 das heutige Bulgarien, bzw das Erste Bulgarische Reich. Slawische Stammesgruppen schlossen sich Asparuch an, als seine Bulgaren gegen 680 die Donau überschritten. Es kam zu Kämpfen mit dem Heer und der Flotte des byzantinischen Kaisers Konstantin IV. im sumpfigen Donaudelta. Sie endeten mit einem Erfolg der Bulgaren, so dass sich das Byzantinische Reich zu jährlichen Tributzahlungen entschloss. Asparuch selbst fiel 700/01 in einem Gefecht mit den Chasaren.

Ihre älteste Herrscherliste führt jedoch weit zurück und führt Attilas Sohn Ernak als Begründer.
Die Macht des protobulgarischen Reiches erreichte unter dem Khan Krum um 811 einen Höhepunkt, als dieser aus dem Haupt des byzantinischen Kaisers Nikephoros I. eine Trinkschale machte und beinahe Konstantinopel eroberte. Im 9. Jahrhundert traten die Donaubulgaren zum orthodoxen Christentum über. Die hunnischen und türkischen Volksgruppen vermischten sich mit den slawischen Gruppen, so dass z. B. die slawische Schrift und alttürkischer Tierkreiskalender nebeneinander bestanden. Das Volk der Bulgaren (in arabischen Quellen spricht man von den „Blauen Bulgaren“ /Khökh Bulkhar/Qöq Bolqar) entstand.

Belege

  1. I. Dujcev: Bulgarien, Artikel in: Lexikon des Mittelalters, Stuttgart/Weimar 2000; Harald Haarmann: Protobulgaren, in: Lexikon der untergegangenen Völker, München 2005, S.225
  2. Johannes von Nikiu, 120, 47. Daniel Ziemann: Vom Wandervolk zur Großmacht: die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter. Köln u.a. 2007, S. 145, hält dies zumindest für möglich.

Literatur

  • The New Cambridge Medieval History. Bd. 2. Cambridge 1995, S. 915ff. (ausführliche Bibliographie zum Thema Bulgaren und Slawen)
  • Veselin Beševliev: Die protobulgarische Periode der bulgarischen Geschichte. Verlag Adolf M. Hakkert, Amsterdam 1981, ISBN 90-256-0882-5.
  • Daniel Ziemann: Vom Wandervolk zur Großmacht: die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter. Böhlau, Köln u.a. 2007 (fachwissen. Besprechung).

Weblinks


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