Großbürgertum

Großbürgertum

Großbürger waren Bürger einer Stadt, die das große Bürgerrecht der Stadt erworben hatten. Heute werden zumeist auch jene Kreise als „großbürgerlich“ bezeichnet, denen man lediglich einen großen Wohlstand beimisst. Insoweit geht es dem Begriff des Großbürgers ähnlich dem des Patriziers, der nicht mehr nur eigentlich patrizische Familien bezeichnet, sondern auch auf solche Familien Anwendung findet, die in der Geschichte einer bestimmten Stadt Bedeutung erlangt haben.

Inhaltsverzeichnis

Erwerb des Großbürgerrechts

Das Großbürgerrecht wurde wie das Bürgerrecht entgeltlich erworben. Es musste ein Bürgergeld entrichtet werden, das ein Vielfaches des normalen Bürgergeldes zum Erwerb des Bürgerrechts ausmachte.[1] Das Großbürgerrecht ging – zumindest in Hamburg – automatisch auf die männlichen Nachkommen eines Großbürgers über. Diese brauchten also nicht erneut Großbürgergeld zu zahlen.

Rechtsnatur des Großbürgerrechts

Es ist umstritten, ob es sich bei dem Großbürgerrecht im eigentlichen Sinn um eine von der sog. kleinen oder normalen Bürgerschaft rechtlich verschiedene Bürgerstellung handelt oder lediglich um eine Handelskonzession. Denn jeder, der in den Städten Handel großen Umfangs betreiben wollte, bedurfte dazu des großen Bürgerrechts.[2] Anders lagen die Dinge in Hamburg. „In Hamburg wurde sehr genau zwischen dem großen und dem kleinen Bürgerrecht unterschieden, und nur wer dank seiner ökonomischen Verhältnisse imstande war, das große Bürgerrecht zu erwerben, verfügte über die uneingeschränkte Handels- und Gewerbefreiheit, durfte in den Senat, die Bürgerschaft und andere Ämter gewählt werden – und das waren nur wenige. Die vermögenden Großkaufleute gaben in den Hansestädten den Ton an.[3]Sie sicherten aus eigener Verfügungsgewalt die Macht ihres Standes und ihrer Klasse, grenzten sich in Rang und Habitus gegen die kleinen Kaufleute, die ‚Krämer‘ ab und betrachteten sich mit einigem Recht als Herrscher ihrer Stadt.“[4]

Rechte des Großbürgers

Großbürger waren regelmäßig zuvor Bürger einer Stadt. Als Großbürger behielten sie naturgemäß die allgemeinen Befugnisse eines Bürgers. Aufgrund ihrer Großbürgerstellung erlangten sie jedoch weitere Befugnisse. Regelmäßig mit dem Großbürgerrecht verbunden und der Auslöser für den Erwerb des Großbürgerrechts war die damit verbundene Berechtigung, einen umfangreichen Handel zu tätigen. In Hamburg durfte der Großbürger, wohl als Ausfluss der Befugnis, einen großen Handel führen zu dürfen, im Gegensatz zum einfachen Bürger Bankkonten unterhalten. Als vermutlich nicht ausschlaggebendes Sonderrecht hatte der Großbürger das freie Jagdrecht auf den Ländereien der Hansestadt.

Soziale Stellung des Großbürgers

Soziologisch können Großbürger und Stadtbürger unterschieden werden. Regelmäßig war der Bürger, der die große Bürgerschaft erlangte, schon zu einem gewissen Wohlstand gelangt, der es ihm erlaubte, das erhöhte Bürgergeld zu entrichten. Aus dem durch die große Bürgerschaft ermöglichten Großhandel wird er regelmäßig weiteren Wohlstand gezogen haben. So folgte aus den unterschiedlichen Geschäften, die den Bürgern einerseits und den Großbürgern andererseits möglich waren, eine fortschreitende Differenzierung nach auseinanderdriftenden wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Als Folge seines Wohlstands konnte der Großbürger einen nicht zuletzt der Repräsentation dienenden „großbürgerlichen Lebensstil“ führen, also ein aufwendiges Leben mit Stadt- und Landsitz, Personal und gesellschaftlichen Veranstaltungen. Seine finanziellen Möglichkeiten einerseits und der Niedergang des landgesessenen Adels andererseits ermöglichten es dem Großbürger, adelige Landsitze zu erwerben. Überhaupt glichen sich in dieser Schicht die Lebensweisen des Bürgers und des niederen Adels weitgehend an. Oft war das Bestreben, adeligen Grundbesitz zu erwerben auch mit dem Bestreben verbunden, selbst nobilitiert zu werden. Eine Ausnahme bilden insoweit die Hamburger, bei denen die Annahme von Adelstiteln bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verpönt war.

Vom Stand zur Klasse

Ein Beispiel für die im Laufe der Zeit durch die unterschiedlichen Bürgerrechte entstandene gesellschaftliche Differenzierung ist die „Freie und Hansestadt Hamburg“. Hamburg war stets eine rein bürgerliche Stadt, in welcher der Adel keine Rechte haben durfte. Ursprünglich handelte es sich um ein probates Mittel, von vornherein möglichen Konflikten mit den Adeligen und ihren Herren im Umland der Stadt vorzubeugen. Im Laufe der Zeit wurde die Distanz zu Adel und Orden Bestandteil des hanseatischen Wesens Hamburger Ausprägung. Eine Auswirkung dieses Prinzips war beispielsweise, dass Bürger, die ungeachtet dieses Grundkonsenses auswärtige Standeserhebungen entgegennahmen, keine städtischen Ehrenämter mehr ergreifen durften. Dies führte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, dass sich Bürger, die nicht in städtische Ämter gewählt werden wollten, in die Nobilitierung flüchteten, denn die Übernahme städtischer Ehrenämter war mit der Aufgabe der kaufmännischen Tätigkeit verknüpft. Auch durfte ein Wahlamt nicht abgelehnt werden. Die Weigerung, das Amt anzunehmen, war mit dem Zwang gekoppelt, die Stadt zu verlassen. Die Bürgerlichkeit der Stadt ging soweit, dass der Oberkommandierende des Militärs lediglich den Rang eines Obersten bekleiden durfte, weil die Bürger der Stadt keine höheren Militärchargen mit ihrem gesellschaftlichen Geltungsanspruch in der Stadt haben wollten.

Ungeachtet dieses auf den ersten Blick egalitären Ansatzes war Hamburg tatsächlich eine ungleiche Gesellschaft schärfster Ausprägung. Es wurde strengstens darauf geachtet, so z.B. bei der Heirat, dass die drei Stände „Handelsadel“ (Großbürger, Patriziat), wohlhabende Industrielle und kleine Kaufleute (Kleinbürger) und der regelmäßig arme Rest der Bevölkerung (Plebs) auf das Strengste getrennt waren.[5]

Im 19. Jahrhundert wandelte sich das Hamburger Patriziat.[6] zu einer Klasse des Handelskapitals. Ihr Stil unterschied sich von jenem des jüngeren Industriekapitalismus. Kaufleute sind zwar harte Verhandler, aber kompromissfähig, was in der Folge eine in Deutschland unübliche Bündnisfähigkeit „des Kapitals“ mit der Sozialdemokratie erlaubte.[7] Nicht zuletzt deswegen unterscheidet sich die politische Entwicklung Hamburgs nach den beiden Weltkriegen deutlich von jener der deutschen Binnenländer.

Andere Länder, andere Entwicklungen

Die Entwicklung in anderen Ländern ist nicht mit der Entwicklung in Deutschland identisch. In Südeuropa spielte der wieder stadtsässig gewordene Adel in Handel und Gewerbe eine beträchtliche Rolle. In England bildeten die jüngeren Adelssöhne mit dem gehobenen Bürgertum die Middle class aus.

Großbürgertum als Bourgeoisie

Der aus Frankreich stammende Klassenbegriff „Bourgeois“ wurde schon von Diderot negativ gebraucht. Nach Karl Marx ist die als kapitalistisches Großbürgertum definierte Bourgeoisie die im Kapitalismus herrschende der beiden Grundklassen Bourgeoisie (Großbürgertum) und Proletariat (= abhängig beschäftigte Arbeiterschaft). Historisch habe sie sich aus dem 3. Stand der Feudalgesellschaft heraus entwickelt (Handwerker, Händler, freie und landbesitzende Großbauern). Ein Teil der Handwerker wurde nach Marx zu Fabrikbesitzern. Nach der Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus beuten die mit Bourgeoisie gemeinten Kapitalisten die Arbeiterklasse (das Proletariat) aus. Während unter Citoyen das emanzipatorische Bürgertum der Französischen Revolution verstanden wird, ist mit Bourgeoisie oder Juste Milieu das Bürgertum als Herrschaftsinstanz gemeint.

Niedergang des Großbürgertums

Zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise zwischen den Kriegen sowie der fortschreitende Industrialismus – als Abkehr vom individualistischen Wirtschaftsstil des bürgerlichen Unternehmers – und der damit einhergehende Konzentrationsprozess in der Wirtschaft haben die wirtschaftlichen Grundlagen des Großbürgertums soweit zerstört, dass es als gesellschaftlich unterscheidbare Gruppe nicht mehr vorhanden ist, als Milieu jedoch noch heute (2007) existiert. Großbürgerlicher Lebensstil findet sich heute insbesondere noch bei Industriellenfamilien, die ihr Vermögen bewahren konnten, obwohl diese Schicht, da regelmäßig aus dem Handwerkerstand hervorgegangen, nicht zu den im engeren Sinne großbürgerlichen Kreisen gehörte und von Großbürgern, die sich als Handelsadel verstanden, ausgegrenzt wurde.

Im 20. Jahrhundert wurden die Formen des Honorationen-Bürgertums preisgegeben, weil sie in einer auf einen Durchschnittsstil ausgerichteten Gesellschaft als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Diese Entwicklung hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer mehr oder weniger bewussten Antibürgerlichkeit radikalisiert, teilweise wird der Lebensstil des Jet-Set heute bevorzugt.

Der moderne Wohlfahrtsstaat mit seiner nivellierenden Funktion und hohen Besteuerung, verbunden mit dem Streben vieler Frauen nach Selbstverwirklichung im Erwerbsberuf sowie der Ersatz von Mäzenatentum und karitativem Wirken Einzelner durch öffentliches Handeln oder das von Unternehmen, ist ein weiterer Grund für das Zurückweichen „großbürgerlicher“ Lebensform, die gemeinhin voraussetzt:

Die unverminderte Attraktivität großbürgerlicher Attribute – ohne allerdings von einem in eigentlichen Sinn großbürgerlichen Lebensstil begleitet zu sein – belegen die Bestrebungen neu aufgestiegener Mitglieder der Gesellschaft, einzelne großbürgerliche Lebenselemente zu imitieren.

Literatur

  • D. Augustine: Patricians and Parvenues. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany., Oxford 1994 (englisch)
  • D. Blackbourn und R.J. Evans (Hg.): The German Bourgoisie; London 1991 (englisch)
  • Michael Hartmann (2002): Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt a. M./New York
  • Oskar Köhler: Bürger, Bürgertum, in: Staatslexikon , Band 1, Sp. 1040 ff., Freiburg im Breisgau 1985, ISBN 3-451-19301-9 (mit weiterführenden Literaturangaben)
  • Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot: Voyage en grande bourgeoisie, in: Journal d'enquête, Paris 2002 (französisch)
  • Reinhard Rürup: Jüdisches Großbürgertum am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Rüdiger Hohls, Iris Schröder und Hannes Siegrist (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 134-138
  • Dieter Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer, 2000, ISBN 352535682X - Auszüge online

Siehe auch

Weblinks

Rezension (Deutsch) zu: Michel Pinçon, Monique Pinçon-Charlot: Voyage en grande bourgeoisie, in: Journal d'enquête, Paris 2002

Quellen

  1. Matthias Wegner: Hanseaten, Berlin 1999, S. 34: „In Hamburg wurde sehr genau zwischen dem großen und dem kleinen Bürgerrecht unterschieden, und nur wer dank seiner ökonomischen Verhältnisse imstande war, das große Bürgerrecht zu erwerben, verfügte über die uneingeschränkte Handels- und Gewerbefreiheit, durfte in den Senat, die Bürgerschaft und andere Ämter gewählt werden – und das waren nur wenige.“; Robert Steimel: Mit Köln versippt Band II, Einleitung
  2. H. Pesch: Bürger und Bürgerschaft in Köln, Marburg 1908, S. 35
  3. Matthias Wegner: Hanseaten, Berlin 1999, S. 34
  4. Wegner, S. 35
  5. Meyer's Conversations-Lexicon, 1840ff, 14. Band, S. 922: Dort herrschte „eine altmodische Oberservanz in Beziehung auf die strengste Sonderung der verschiedenen Klassen ..., wo die drei Stände: der Handelsadel, der wohlhabende Industrielle oder kleine Kaufmann und der Plebs auf das Schärfste getrennt“ waren.
  6. anders Hildegard von Marchthaler: Die Bedeutung des Hamburger Geschlechterbuchs für Hamburgs Bevölkerungskunde und Geschichte, in: Hamburgisches Geschlechterbuch, Bd. 9, Limburg an der Lahn 1961, S. XXVI, danach hat es in Hamburg nie ein geschlossenes Patriziat wie in den süddeutschen Reichsstädten gegeben. Die Senatorenwürde war nie fest an bestimmte Familien gebunden. Die großen Familien des Mittelalters in Hamburg waren schon in der späthansischen Zeit fast sämtlich ausgestorben.
  7. anders Arne Cornelius Wasmuth: Hanseatische Dynastien - Hamburger Familien öffnen ihre Alben, Hamburg 2001; S. 48 zur Kandidatur von Mathias Petersen für die Sozialdemokraten - „Nur durch eine winzige Kleinigkeit unterscheidet sich sein Programm von dem seiner Vorfahren - er ist nicht in derselben Partei. ... Eine pikante Wahl für den Sohn einer alten Hamburger Familie. Sind doch die traditionellen Hamburger Großbürger dafür bekannt, dass sie sich vor drei Dingen besonders fürchten: vor nassen Füßen, vor Zugluft und vor Sozialdemokraten.“

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