Gründerzeitkrise

Gründerzeitkrise

Als Gründerzeit wird die wirtschaftliche Phase in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert bis zum großen Börsenkrach von 1873 bezeichnet. In dieser Zeit findet die Industrialisierung in Mitteleuropa statt, deren Anfänge in den 1840er-Jahren liegen. Daraus ergibt sich, dass für diese Periode kein genauer Anfangszeitpunkt angegeben werden kann, für Österreich wird meist die Märzrevolution als Ausgangspunkt genommen, deren wirtschaftliche Reformen im Unterschied zu den politischen Reformen im Allgemeinen nicht zurückgenommen wurden.

In den letzten Jahren vor dem großen Krach (in Deutschland nach dem gewonnenen Krieg von 1870/1871, in dessen Gefolge massenhaft französisches Kapital vor allem aus Reparationen ins Land strömte) gipfelte der wirtschaftliche Aufschwung dieser Periode in einem vorher nicht gekannten Boom, diese letzten Jahre gelten als Gründerjahre im engeren Sinne.

Die Gründerzeit ist die Periode in Mitteleuropa, in der das Bürgertum die kulturelle Führung übernahm – daher ist sie auch die große Zeit des klassischen Liberalismus, auch wenn dessen politische Forderungen nur teilweise und relativ am Ende dieses Zeitraumes umgesetzt wurden.

Die Industrialisierung stellte auch ästhetisch neue Aufgaben, vor allem in der Architektur und im Kunsthandwerk. Dies drückte sich allerdings in einer Weiterentwicklung vorhandener Formen aus. In der Umgangssprache ist mit Gründerzeitstil daher der Historismus gemeint. Da der Historismus aber bis nach 1900 der vorherrschende Stil blieb, ergibt sich daraus eine gewisse Unschärfe des umgangssprachlichen Gebrauchs. In stilgeschichtlichen Zusammenhängen wird daher oft auch von späteren Jahrzehnten als „Gründerzeit“ gesprochen.

Mit Gründerzeit werden daher manchmal sehr unterschiedliche Zeiträume bezeichnet, beispielsweise 1850–1873, 1871–1890, manchmal sogar 1850–1914 oder überhaupt nur die Jahre 1871–1873. Zeitgenössisch ist dieser Ausdruck aber nur für die Zeit um 1870 und ausschließlich im Zusammenhang mit dem damaligen Wirtschaftsaufschwung. Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew beschreibt diesen Aufschwung als die aufsteigende Phase des zweiten Kondratjew-Zyklus.

Inhaltsverzeichnis

Wirtschaft

Aufschwung

Der Ausdruck „Gründerzeit“ bezieht sich auf den ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem Unternehmensgründer scheinbar über Nacht reich werden konnten. Sehr wesentlich für diese rasante Wirtschaftsentwicklung war der Eisenbahnbau, der der bedeutendste wirtschaftliche Faktor dieses Zeitraums war. Typische "Gründer" sind daher Eisenbahnpioniere wie Bethel Henry Strousberg. Die Eisenbahn hatte auch eine bedeutende Impulswirkung auf andere Industriezweige, etwa durch die gestiegene Nachfrage nach Kohle und Stahl, so dass auch hier Industrieimperien, wie etwa das von Friedrich Krupp, gegründet wurden. Vor allem aber wurden Kommunikation und Migration enorm erleichtert. Massenhaft wanderten ländliche Unterschichten in die Städte ab, wo sie zum Bestandteil des sich formierenden Proletariats wurden – damals entstand auch die soziale Frage (zeitgenössisch auch Pauperismus genannt).

Mit der Eisenbahn wurde aber auch das Distributionswesen revolutioniert, so dass auch außerhalb des industriellen Sektors Massenproduktion möglich wurde. Zu bedeutenden Unternehmensgründern (von Lebensmittelkonzernen) wurden beispielsweise der Bierbrauer Ignaz Mautner und der Kaffeeröster Julius Meinl I..

Überdurchschnittlich war der Anteil von Personen jüdischen Glaubens an den "Gründern", die ihre nunmehrige Emanzipation und sozialen Aufstiegschancen zu nutzen wussten – in diesem Zusammenhang ist auch das Bankhaus Rothschild zu nennen, das als Financier des Eisenbahnbaus erhebliche Bedeutung hatte.

Gründerkrise

Dieser Aufschwung erlebte im großen Börsenkrach (Gründerkrach) 1873 ein jähes Ende, und ging in die etwa zwanzigjährige wirtschaftliche Stagnationsphase über, die als Gründerkrise bekannt ist. In Deutschland trugen auch die erwähnten französischen Reparationen zu einem Überhitzen der Konjunktur bei.

In dieser nachfolgenden Krise verlor die Theorie des Wirtschaftsliberalismus an Boden und es wurden auch in der Praxis Kontrollmechanismen geschaffen und Schutzzölle eingeführt. Die in dieser Krisenperiode entstehenden kleinbürgerlichen und proletarischen Massenbewegungen waren erklärte Gegner des Wirtschaftsliberalismus.

Die verheerendste Folge des großen Krachs war psychologisch. Das Versprechen von Reichtum und Aufstieg für alle schien vorerst gescheitert, in Kreisen kleiner Handwerker und Geschäftsleute stand nunmehr die Angst vor dem sozialen Abstieg durch die industrielle Konkurrenz im Vordergrund, außerdem war durch den Krach auch massiv erspartes Kapital verloren gegangen. In diesen kleinbürgerlichen Kreisen verbreiteten sich rasch allerlei Verschwörungstheorien – insbesondere der Antisemitismus gewann massiv an Boden und wurde in den 1880er-Jahren zu einer breiten politischen Unterströmung.

Architektur und Design

Hauptartikel: Historismus

typischer Gründerzeitstraßenzug in Chemnitz

Im Zuge der Industrialisierung wuchs der Bedarf nach Wohnraum, es wurden ganze Stadtviertel auf die grüne Wiese gebaut. Noch heute gibt es in vielen mitteleuropäischen Städten eine große Zahl von Wohnbauten aus der Gründerzeit, die oftmals ganze Straßenzüge oder gar Stadtviertel umfassen.

Typisch für den Baustil der sogenannten Gründerzeitarchitektur ist die meist von privaten Wohnungsbaugesellschaften errichtete etwa vier- bis sechsgeschossige Blockrandbebauung mit ihren reich dekorierten Fassaden, deren Formen dem Historismus entsprechen (Neugotik, Neorenaissance, Deutsche Renaissance, Neobarock). Es entstanden nicht nur die Palais für das reich gewordene Bürgertum, sondern in erster Linie die späterhin so berüchtigten „Mietskasernen“ für die rasant wachsende Stadtbevölkerung.

Bedeutend in dieser Phase war auch die Integration neuer Technologien in Architektur und Design. Entscheidend war die Weiterentwicklung der Stahlerzeugung (Bessemer-Verfahren), die beispielsweise Stahlfachwerktürme ermöglichte. Der nur aus Stahl und Glas bestehende Crystal Palace auf dem Gelände der Londoner Weltausstellung von 1851 galt als revolutionär und wegweisend für spätere Jahrzehnte.

Die umfangreichste und zusammenhängendste Sammlung von Gegenständen aus der Gründerzeit befindet sich im Gründerzeitmuseum im Gutshaus Mahlsdorf der Charlotte von Mahlsdorf in Berlin-Mahlsdorf.

Auch die Innenarchitektur der Gründerzeit spielte mit den verschiedenen Elementen des Historismus. Die reich ausgestatteten Räume des gehobenen Bürgertums zeichneten sich aus durch die Aufnahme und Imitation älterer Kunststile und Dekors.

Gründerzeit in Österreich

Das neugotische Wiener Rathaus

Auch in Österreich begann die Gründerzeit nach 1840 mit dem Beginn der Industrialisierung des Raums Wien sowie in Böhmen und Mähren.

Der Liberalismus erreichte in der Österreich-Ungarischen Monarchie in einer äußerst kurze Periode von 1867 (Gewährung der Dezemberverfassung) bis in die frühen 1870er-Jahre seinen Höhepunkt.

Wien, die Haupt- und Residenzstadt von Kaiser Franz Joseph, wurde ab 1850 – nach der gescheiterten Märzrevolution – durch die Eingemeindung der Vorstädte und den Zuzug Hunderttausender, besonders aus Böhmen und Mähren, bis 1910 zur viertgrößten Millionenstadt der Welt. Die Ringstraße wurde an Stelle der alten Stadtmauer gebaut, Wohnbau und -spekulation blühten auf. Das durch die gestiegene Bedeutung von Gewerbe und Handwerk wohlhabend und – gegenüber dem eher agrarwirtschaftlich abhängigen Adel und der mittellosen Arbeiterschaft – mächtig gewordene Bürgertum setzte sich mit Prachtbauten des Historismus Denkmäler. Im kleineren Umfang wurden auch in Graz ganze Stadtteile neu errichtet, wobei im Gegensatz zu Wien die Grazer Altstadt größtenteils erhalten blieb, da die rege Bautätigkeit vor allem außerhalb stattfand.

Literatur

  • Hellmut Andics: Gründerzeit, Wien: Jugend und Volk 1981. ISBN 3-7141-6518-5
  • Rainer Haaff: Gründerzeit. Möbel und Wohnkultur, Westheim: Rhein-Verlag 1992. ISBN 3-9802812-1-3
  • Eberhard Roters: Aspekte der Gründerzeit. Ausstellungskatalog, Berlin: Akademie der Künste 1974

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