Gustav Gratz

Gustav Gratz

Gustav Adolf Gratz [ˈɡustaːv ˈɡrɒʦ] (* 30. März 1875 in Gölnicbánya, Ungarn (heute Gelnica, Slowakei); † 21. November 1946 in Budapest) war ein Publizist, Journalist, Politiker, Geschichtsschreiber, Wirtschaftsfachmann.

Leben

Er wurde geboren in einer deutsch und ungarisch sprechenden deutschen evangelischen Pfarrerfamilie, die aus Nordwestungarn in die Zips übersiedelt war, besuchte das sächsische Gymnasium in Igló, dann, als sein Vater der Einladung der Klausenburger evangelischen Gemeinde nachgekommen und die Familie nach Klausenburg umgezogen war, das unitarische Obergymnasium in Klausenburg bzw. ein Jahr lang das sächsische Gymnasium in Bistritz.

Nach dem Abitur in Klausenburg studierte er Jura an den Universitäten Klausenburg und Budapest und schloss seine Studien 1898 in Klausenburg ab.

Ab 1896 war er Mitarbeiter des Pester Lloyd, ab 1898 Korrespondent der Kölnischen Zeitung, gleichzeitig Budapester Berichterstatter der Wiener Zeitung Die Zeit, ab 1906 wechselte er zur Neuen Freien Presse. 1900 war er Mitbegründer der Zeitschrift Huszadik Század (Zwanzigstes Jahrhundert), für die er bis 1903 als Redakteur zeichnete. 1901 gründeten Gratz und seine Gleichgesinnten das Társadalomtudományi Társaság (Gesellschaft für Soziologie). Die Zeitschrift und die Gesellschaft setzten sich zum Ziel, die rückständigen sozialen Verhältnisse Ungarns zu beseitigen und für die Agrarreform bzw. für die Ausbreitung des Wahlrechts zu plädieren. Bald entstanden aber Gegensätze zwischen den konservativen und den radikalen Elementen. 1903 trat Gratz aus der Redaktion aus und 1906 brach mit dem radikalen Kreis der Gesellschaft für Soziologie. 1906 erwarb er das Parlamentsmandat des Wahlkreises Leschkirch in Siebenbürgen, und war bis zum Zusammenbruch im Jahre 1918 in der Abgeordnetengruppe der Siebenbürger Sachsen tätig.

Ab 1912 bekleidete er den Posten des geschäftsführenden Direktors des Landesverbandes der Ungarischen Industriellen (Gyáriparosok Országos Szövetsége). Während des Ersten Weltkrieges war er Mitglied von mehreren Kriegswirtschaftszentralen. Als liberaler Wirtschaftsfachmann setzte er sich entschlossen für den Gedanken eines Wirtschaftsbündnisses zwischen dem Deutschen Reich und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ein. 1917 wurde Gratz zum Chef der handelspolitischen Sektion im gemeinsamen Außenministerium ernannt. Von Juni bis September 1917 bekleidete er das Amt des ungarischen Finanzministers, dann wiederum leitete er als Sektionschef seitens der Monarchie die Wirtschaftsverhandlungen in Brest-Litowsk und in Bukarest, was ihm großes politisches Prestige einbrachte. Nach der Oktoberrevolution von 1918 in Ungarn ging er nach Wien und schloss sich dem ungarischen antibolschewistischen Comitee an. Von November 1919 bis Januar 1921 war er der ungarische Gesandte in Wien, danach übernahm er bis April 1921 den Posten eines ungarischen Außenministers. Er befürwortete die Restauration der Habsburger Monarchie und die Zusammenarbeit der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns. Als überzeugter Legitimist nahm er 1921 an beiden missglückten Rückkehrversuchen Karls I. als Kaiser von Österreich und als König Karl IV. von Ungarn aktiv teil; deshalb wurde er verhaftet, nachdem der König das Land für immer hatte verlassen müssen. Obwohl er nach zehn Wochen Haft wieder auf freien Fuß gesetzt wurde und es im gegen die Teilnehmer des Restaurationsversuchs eingeleiteten Prozess wegen des Verbrechens der Aufruhr nie zu einem Urteil gekommen war, bedeutete der unglückliche Ausgang des zweiten Rückkehrversuches König Karls eine Unterbrechung in seiner politischen Karriere. Den Anschluss an das politische Leben und die Öffentlichkeit hatte er auch danach nicht verloren; er schrieb regelmäßig Leitartikel für den Pester Lloyd und nahm an der Arbeit der Internationalen Handelskammer teil. Er war für mehrere Industrieunternehmungen tätig, die ungarischen Interessenten gehörten. Von der Mitte der 1920er Jahre an war er Vorsitzender oder Direktionsmitglied von mehr als 40 Banken bzw. Industrieunternehmen. 1924 übernahm er den Vorsitz des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins (UDV), den er bis 1938 innehatte. Geschäftsführender Vizepräsident des UDV wurde Jakob Bleyer, der eigentliche spiritus rector der Deutschen in Ungarn, der aber das Vertrauen der ungarischen Regierung nicht besaß. Die Wahl von Gratz zum Präsidenten galt als seine politische Rehabilitierung.

Der Verein hing gänzlich von der ungarischen Regierung ab. Er betrachtete seine Aufgabe an der Spitze des Vereins in der Vermittlung zwischen der Regierung und der deutschen Minderheit in Ungarn. In diesem Sinne trat er für den muttersprachlichen Unterricht und die Bildungsmöglichkeiten der deutschen Volksgruppe in Ungarn ein, bekämpfte aber jeden Versuch, das Deutschtum in Ungarn politisch zu organisieren, was ab Mitte der 1930er Jahre zu harten Gegensätzen zwischen ihm und der im Volkstumsgedanken erhitzten jungen Generation führte. Als die ungarische Regierung 1938 die volksdeutsche Richtung mit der Genehmigung des Volksbundes der Deutschen in Ungarn salonfähig machte, trat er von der Spitze des UDV zurück. Ab 1926 war er Abgeordneter, zunächst regierungsfreundlich, dann ab 1936 mit einem Mandat der Bürgerlichen Freiheitspartei. Er beanstandete im Abgeordnetenhaus und in seinen Artikeln die antiliberalen und antidemokratischen Tendenzen seiner Zeit. Im Juni 1939 wurde er Chefredakteur des liberalen Tagesblattes Pesti Napló. In den letzten Kriegsjahren wurde er einer geheimen Kommission, die die Vorbereitungen auf die künftige Friedenskonferenz vornehmen sollte, hinzugezogen. Im April 1944 (nach der Besetzung Ungarns durch das Dritte Reich im März 1944) wurde er von der Gestapo ins KZ Mauthausen deportiert. Nach seiner Entlassung im Juli 1944 lebte er zunächst bei einer seiner Töchter in Sulz bei Wien, dann in Budapest.

Ab 1925 gab er das ungarische Wirtschafts-Jahrbuch heraus, das über die Lage der ungarischen Wirtschaft informierte, aber auch geschichtliche und politische Beiträge brachte. Es erschien ab 1939 in gekürzter Form auch in englischer Sprache (The Hungarian Economic Year Book). In drei Bänden erschien sein großes Geschichtswerk 1934-35, in denen er die – vor allem politische – Geschichte des Dualismus und der Revolutionen 1918-1920 bearbeitete. Der vierte Band, der sich mit der Zwischenkriegszeit befasst, ist erst im Jahre 2001 veröffentlicht worden. Als Anerkennung seiner publizistischen Tätigkeit und Geschichtsschreibung wählte ihn 1941 die Ungarische Akademie der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitglied.

Werke

  • Nemzetközi jog (Völkerrecht). Budapest, 1899.
  • Alkotmánypolitika (Verfassungspolitik). Budapest-Pozsony, 1900.
  • Az általános választójog és Tisza István gróf. (Das allgemeine Wahlrecht und Graf Stefan Tisza). Budapest, 1905.
  • Általános választójog és nemzeti politika (Allgemeines Wahlrecht und nationale Politik). Budapest, 1905.
  • Az általános választójog szociológiai szempontból (Das allgemeine Wahlrecht in soziologischer Hinsicht). Budapest, 1906.
  • A bolsevizmus Magyarországon (Der Bolschewismus in Ungarn). (Hrsg. und Einf. von Gustav Gratz). Budapest, 1921.
  • Politikai és gazdasági liberalizmus (Politischer und wirtschaftlicher Liberalismus) Budapest, 1922.
  • Die Äussere Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns. Mitteleuropäische Pläne. (zusammen mit Richard Schüller). Wien – New Haven, 1925.
  • Európai külpolitika (Europäische Außenpolitik). Budapest, 1929.
  • Der wirtschaftliche Zusammenbruch Österreich-Ungarns. Die Tragödie der Erschöpfung (zusammen mit Richard Schüller). Wien - New Haven 1930.
  • Zur Frage der Deutsch-Österreichischen Zollunion. Budapest, 1931.
  • A dualizmus kora. Magyarország története 1867-1918 I-II. (Die Zeit des Dualismus I.-II. Geschichte Ungarns 1967-1918). Budapest 1934.
  • A forradalmak kora. Magyarország története 1918-1920 (Die Zeit der Revolutionen. Geschichte Ungarns 1918-1920). Budapest 1935.
  • Deutschungarische Probleme. Budapest 1938.
  • Magyarország a két háború között (Ungarn zwischen den beiden Kriegen). Budapest 2001.
  • Augenzeuge dreier Epochen. Die Memoiren des ungarischen Außenministers Gustav Gratz 1875-1945. Herausgegeben von Vince Paál und Gerhard Seewann. (Südosteuropäische Arbeiten 137) München 2009, Verlag Oldenbourg.

Literatur

  • Günter Schödl: Trianon-Ungarn und die deutsche Minderheitenpolitik. Zu den „Lebenserinnerungen” von Gustav Gratz. In: Südostdeutsches Archiv XXVI./XXVII. Band 139-151.
  • Günter Schödl: Ungarische Politik jenseits von Nationalstaat und Nationalismus: Gustav Gratz (1875-1946). In: Günter Schödl: Formen und Grenzen des Nationalen. Beiträge zu internationaler Integration und Nationalismus im östlichen Europa. Erlangen 1990, 137-188.
  • György Gyarmati: Gratz Gusztáv a Monarchia felosztásának következményeiről (Gustav Gratz über die Folgen der Aufteilung der Monarchie) In: Történelmi Szemle, 1995/1. 83-115.
  • Vince Paál: Utoszó [Nachwort] In: Gratz Gusztáv: Magyarország a két háború között (Ungarn zwischen den beiden Kriegen). Budapest 2001, 355-389.
  • Vince Paál: Gustav Gratz und die Geschichtsschreibung. In: Hin zu neuen Zielen. 2000 Begegnungen. (Herausgegeben von Ferenc Glatz) Budapest 2001, 289-299.
  • Vince Paál: Nationale Identität und Minderheitenpolitik: Gustav Gratz. In: "das gueth von alten Lern" Jugend–Festschrift für Karl Manherz zum 60. Geburtstag. (Herausgegeben von Ulrich Langanke.) Budapest 2002, 259-272.
  • Vince Paál: Gustav Gratz: Ein kaum bekannter Ungarndeutscher. In: Deutscher Kalender 2003. Jahrbuch der Ungarndeutschen. Budapest 2002, 216–220.
  • Vince Paál: Kontrahenten oder Weggefährten? Jakob Bleyer und Gustav Gratz an der Spitze des Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins. In: Jakob Bleyer als Volkstumspolitiker. Akten der Jakob-Bleyer-Gesellschaft-Tagung vom 5. Dezember 2003. Budapest 2004, 39-58.
  • Einleitung. In: Augenzeuge dreier Epochen. Die Memoiren des ungarischen Außenministers Gustav Gratz 1875-1945. Herausgegeben von Vince Paál und Gerhard Seewann. (Südosteuropäische Arbeiten 137) München 2009, R. Oldenbourg Verlag. 1-18.

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