Gülen

Gülen

Fethullah Gülen (* 27. April 1941 (nach anderen Angaben: * 10. November 1938, Atatürks Todestag[1]) im Dorf Korucuk im Landkreis Pasinler der Provinz Erzurum, ist ein islamischer Prediger aus der Türkei und der Führer der nach ihm benannten Bewegung. Seine Anhänger, die ihn Fethullah Hoca oder Hocaefendi nennen, sehen in ihm einen wichtigen islamischen Gelehrten mit liberalen Ideen und interreligiösen Dialogabsichten, während seine Kritiker ihm vorwerfen, die laizistische türkische Republik zu unterminieren und durch einen islamischen Staat ersetzen zu wollen. Außer Nationalismus wird seiner Bewegung auch Islamismus vorgeworfen.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Lehre und Predigerberuf

Fethullah Gülens genaues Geburtsdatum ist unbekannt. Nach dem Abbruch der Grundschule aufgrund eines Umzuges konzentrierte sich Gülen auf eine informelle islamische Ausbildung [2] und trat noch im Jugendalter der Nurculuk-Bewegung [3] Said Nursis bei. [4] 1959 erhielt er eine staatliche Predigerlizenz (in Edirne). 1966 wurde Gülen nach Izmir versetzt. Hier, und in Predigtreisen durch die Provinz, begann Gülen, seinen persönlichen Stil und seine Themen zu entwickeln, die ihn stets begleiten sollten. Seine Anhängerschaft wuchs stark, insbesondere unter Ober- und Hochschülern, die er inhaltlich verstärkt ansprach.

Gülens Predigten waren weitreichender als die anderer zeitgenössischer Prediger und umfassten Erziehung, Wissenschaft, Darwinismus, welchen er ablehnt, sowie wirtschaftliche und soziale Fragen. Gülen beschwor eine Gesellschaft aus gottergebenen Muslimen, die trotzdem technisch fortschrittlich sein sollte. Gülens Popularität liegt auch in der emotionalen Intensität seiner Predigten, auf deren Höhepunkt er seine Tränen häufig nicht mehr zurückhalten kann. Seine Predigten fanden weite Verbreitung durch Audio- und Videokassetten. [5] Gülens religiöse Ansichten bewegen sich nach eigener Aussage im sunnitischen Mainstream, tendieren aber zum Sufismus.

Bewegung und Aufstieg

Gülen beendete 1981 seine Predigertätigkeit im Staatsdienst, um sich ganz der neuen Bewegung zu widmen. Durch Öffentlichkeitsarbeit und gute Beziehungen zu der Regierung von Turgut Özal erreicht Gülen seit den späten 80er Jahren eine weite Öffentlichkeit. Insbesondere durch die Gründung von mehreren hundert Privatschulen und Studentenheimen, nicht zuletzt in den Turk-Staaten der ehemaligen UdSSR, tritt die Bewegung hervor. Auch in Deutschland existieren der Gülen-Bewegung zugerechnete Schulen. [6][7] Gülen trifft als Fahnenträger eines modernen Islam hochgestellte politische und religiöse Persönlichkeiten aus aller Welt, darunter auch zum Dialog der Religionen Papst Johannes Paul II. Bildung, Dialog, Toleranz, Gewaltfreiheit, Demokratie, Moral und Modernität werden zu zentralen Schlagworten Gülens. Die überaus finanzstarke [8] Bewegung gründet neben Privatschulen eigene Radio- und Fernsehsender, eine Nachrichtenagentur, eine Bank, Versicherungen, mehrere Verlage und Zeitungen (darunter die sehr erfolgreiche Zaman), gründet eigene Universitäten (darunter die Virginia International University in den USA), einen Unternehmerverband und Gewerkschaften. [9] In Deutschland ist Fethullah Gülen Ehrenvorsitzender des Vereins Forum für Interkulturellen Dialog e.V..[10]

Verbreitung

Die Gülen-Bewegung verfügt über hunderte von Unterorganisationen und Kongressen in etwa 50 Ländern. [9] Alle Einrichtungen sind formal voneinander unabhängig, auf der Beziehungsebene der Leiter miteinander aber zu einem Netzwerk verbunden. [11] Der Gülen-Bewegung werden hunderttausende Mitglieder zugerechnet, was sie zu einer der größten – wenn nicht sogar der größten – islamischen Bewegung in der Türkei macht. [12]

Kontroverse

Türkei

In der Türkei ist Fethullah Gülen umstritten. Für die einen ist er ein islamischer Gelehrter mit liberalen Vorstellungen Er stehe für den Dialog zwischen den Religionen. Die anderen kritisieren, dass er die Türkei durch eine neue Elite zu einem islamischen Staat machen will.[13]

1998, nach dem Verbot der Wohlfahrtspartei (RP) Erbakans, ereignet sich im Rahmen einer Untersuchung der angeblichen Unterwanderung des Militärs durch Islamisten [14] ein Skandal um eine zusammengeschnittene Rede Gülens, die – anscheinend mit versteckter Kamera gefilmt – 1999 im Fernsehkanal ATV ausgestrahlt wurde, und in der er Anhänger aufforderte, geduldig zu arbeiten, um die Kontrolle im Staat zu übernehmen: [15]

„Man muss die Stellen im Justiz- und Innenministerium, die man in seine Hand bekommen hat, erweitern. Diese Einheiten sind unsere Garantie für die Zukunft. Die Gemeindemitglieder sollten sich jedoch nicht mit Ämtern wie zum Beispiel denen der Richter oder Landräte begnügen, sondern versuchen, die oberen Organe des Staates zu erreichen. Ohne Euch bemerkbar zu machen, müsst Ihr immer weiter vorangehen und die entscheidenden Stellen des Systems entdecken. Ihr dürft in einem gewissen Grad mit den politischen Machthabern und mit denjenigen Menschen, die hundertprozentig gegen uns sind, nicht in einen offenen Dialog eintreten, aber ihr dürft sie auch nicht bekämpfen. Wenn sich unsere Freunde zu früh zu erkennen geben, wird die Welt ihre Köpfe zerquetschen und die Muslime werden dann Ähnliches wie in Algerien erleben. Die Welt hat große Angst vor der islamischen Entwicklung. Diejenigen von uns, die sich in diesem Dienst befinden, müssen sich so wie ein Diplomat verhalten, als ob sie die ganze Welt regieren würden, und zwar so lange, bis Ihr diese Macht erreicht habt, die Ihr dann auch in der Lage seid, mit eigenen Kräften auszufüllen, bis Ihr im Rahmen des türkischen Staatsaufbaus die Macht in sämtlichen Verfassungsorganen an Euch gerissen habt.“ [16]

Kurz vor der Fernsehausstrahlung reiste Gülen aus gesundheitlichen Gründen in die USA. Dies wurde so gedeutet, dass er sich einer Verhaftung und einem Gerichtsverfahren wegen sogenannten Republikverrats durch Abwesenheit entziehen wollte. [17] Umstürzlerische Absichten wies er von sich. [18] 2003 wurde der Prozess gegen Gülen ausgesetzt [19], 2006 erwirkte Gülen in Abwesenheit aufgrund geänderter Rechtsprechung seinen Freispruch. [20] Gülens Prozess und Exil hatten das Funktionieren seiner Bewegung nicht nachhaltig beeinträchtigt, möglicherweise aber deren Internationalisierung befördert. Gülen gilt als einer der reichsten Türken, seiner Bewegung wird großer Einfluss innerhalb der türkischen Regierungspartei AKP nachgesagt. [21]

Deutschland

In Deutschland - so Islamwissenschaftler Bekim Agai von der Universität Bonn - ist die Bewegung mit Nachhilfezentren "in nahezu jeder größeren Stadt aktiv und bemüht sich, private Schulen zu eröffnen, ohne dabei eine offizielle Zentrale zu besitzen, was jedoch nicht bedeutet, dass die Aktivitäten im Netzwerk nicht koordiniert werden". Obwohl seriöse Journalisten wie Rainer Hermann von der FAZ von Fethullah Gülen ohne Weiteres als "Stimme der Vernunft" [22] sprechen, wird auch in Deutschland die Gülen-Bewegung von manchen kritisch gesehen. So hält der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban von der Evangelischen Fachhochschule in Berlin sie für gefährlich, weil sie "unfassbar" sei. "Unter dem pseudo-modernistischen Lack steckt eine islamistische Auffassung". Ghadban weist weiter auf eine Passage aus Gülens Buch "Fragen an den Islam" hin. Darin werde der Koran als Verfassung und Grundlage dargestellt, auf die sich das individuelle und gesellschaftliche Leben gründen solle. Alle Islamisten kämen aus dieser Tradition.[23] Die Islamismus-Kennerin Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur in Berlin möchte, dass der Frage nachgegangen wird, ob die Gülen-Bewegung eine islamistische Agenda hat oder nicht. Gülen sieht sie nicht als einen Reformer, der den Islam mit der Moderne zu verbinden strebe, sondern zunächst als einen "orthodoxen" Gelehrten, der Defizite im Bildungssystem angehen wolle und Muslime für die Globalisisierung fit machen wolle. Für eine religiöse Unterwanderung gebe es zu wenig Belege. Nach solchen solle man weniger in den Schulen suchen, sondern im Netzwerk.[24]

USA

Im Juni 2008 befand der U.S. District Court for the Eastern District of Pennsylvania, Gülens Wohnort, über eine Klage Gülens gegen die Nichtgewährung seines Greencard-Antrages mit Abweisung. Im Zuge der Offenlegung von Gülens Finanzen (er erhält jährlich Millionenbeträge) befand das Gericht, dass Gülens Visumsantrag als Akademiker abzuweisen sei, da er zwecks Gewinnung von akademischem Prestige Akademiker dafür bezahle, positiv über ihn und seine Bewegung zu schreiben.[25]. Gülen hatte Widerspruch eingelegt, woraufhin das Verfahren wieder aufgenommen worden war.[26] Mit Wirkung vom 10. Oktober 2008 hat Gülen die Green Card erhalten. [27]

Online-Umfrage von Foreign Policy und Prospect

Im Mai/Juni 2008 führte die Amerikanische Zeitschrift Foreign Policy und das Britischen Magazin Prospect eine Online-Umfrage über die wichtigsten noch lebenden Intellektuellen auf der Welt durch, es wurden über 500.000 Stimmen abgegeben. Unter den 100 Kandidaten - darunter auch Namen wie Noam Chomsky oder Jürgen Habermas - erlangte Fethullah Gülen den ersten Platz, unter den zehn Höchstplatzierten waren ausschließlich Muslime. [28] Vermutungen, dass die Umfrage nicht aussagekräftig und durch Online-Aufrufe manipuliert worden sei,[29] bestätigten sich, als die Redaktion kurz nach der Wahl bekannt gab, dass die Stimmen, die Gülen den Sieg sicherten, binnen Stunden eingingen, nachdem Anfang Mai 2008 die Gülen nahestehende türkische Tageszeitung Zaman über die Wahl berichtete und zu einer Beteiligung aufrief.[28][30][31] Die Süddeutsche Zeitung resümiert: "Rankings sind eine besonders absurde Blüte des elektronischen Müßiggangs [...] Es stellte sich heraus, dass vielmehr eine überaus wirkungsvolle Kampagne in der Türkei stattgefunden hatte, angeführt von der größten türkischen Zeitung Zaman, die dazu aufgerufen hatte, sich an dieser Umfrage zu beteiligen." Nach einem Textbeispiel heißt es: "Kein Intellektueller bei uns würde wagen, solche Sprache im Mund zu führen, und es gar unter Tränen zu tun, brächte ihn um allen Kredit."[32]

Werke

Gülen hat über 60 Bücher [33] zu religiösen, sozialen und politischen Themen veröffentlicht, sowie eine Vielzahl von Essays und Gedichten. Viele sind in mehrere Sprachen, darunter auch ins Deutsche, übersetzt. Hunderte von Reden Gülens sind als Audio- und Videokassetten erhältlich. Gülen schreibt regelmäßig Artikel in seiner Bewegung nahestehenden Zeitungen und Magazinen.

Literatur

  • Bekim Agai: "Zwischen Netzwerk und Diskurs - Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938). Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts", Schenefeld: EB-Verlag 2004, ISBN 3-936912-10-6.
  • M. Hakan Yavuz, John L. Esposito (Hg.): Turkish Islam and the Secular State: The Gülen Movement, Syracuse University Press 2003, ISBN 0-8156-3040-9
  • Wendy Kristianasen: New Faces of Islam, Le Monde Diplomatique, Juli 1997
  • Kemal Balcı: Fethullah Gülen's Missionaries, The Turkish Probe, Juni 1998
  • Ünal Bilir: Der Türkische Islam als politisches und religiöses Weltbild in seinem historischen Kontext von der II. Meşrûtiyyet-Periode bis zur Gegenwart, Dissertation Universität Hamburg, 2004 PDF

Weblinks

Quellen

  1. fguelen.de, (archive.org mirror)
  2. Zaman, Fethullah Gülen Hocaefendi'nin Dilinden İlkokul Yılları ve Belma Öğretmen, 2006
  3. Sabah, Said Nursi'den Fethullah Gülen'e Nur Cemaati
  4. DEVLET CARKLARININ ARASINDA ISLAMCILIK, NTV MAG, 2000 (via archive.org)
  5. DEVLET CARKLARININ ARASINDA ISLAMCILIK, NTV MAG, 2000 (via archive.org)
  6. FAZ, Die türkischen Bildungsbürger, 19. Februar 2008
  7. *Türkisches Gymnasium: Senat fragte Verfassungsschutz nicht, Der Tagesspiegel 21. Oktober 2004
  8. The Anadolu Agency, Turkey Press-scan, 22. Juni 1999
  9. a b Ahmet T. Kuru, Political Science Quarterly Volume 120 Number 2 2005, Globalization and Diversification of Islamic Movements: Three Turkish Cases
  10. http://www.dialog-berlin.de
  11. Bekim, Agai, Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker?, qantara.de 28. Dezember 2004
  12. Turkey accuses popular Islamist of plot against state, The Guardian 1. September 2000
  13. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 2008, in: http://blickpunkt-zdk-berlin.blog.de/?tag=claudia-dantschke
  14. Army chief demands Islamist purge, BBC 31. August 2000
  15. Turkish investigation into Islamic sect expanded, BBC 21. Juni 1999
  16. Ozan Ceyhun (MdEP), Hg. Politik im Namen Allahs, S. 69 (pdf)
  17. Turkey accuses popular Islamist of plot against state, The Guardian 1. September 2000
  18. en.fgulen.com, Interview
  19. Gülen acquitted of trying to overthrow secular government, AP 6. Mai 2006
  20. Gülen acquitted of trying to overthrow secular government, AP 6. Mai 2006
  21. The AKP's Political Power Base, R. Krespin, MEMRI Turkish Media Project 19. Juli 2007
  22. Frankfurter Allgemein Zeitung, Rainer Hermann: "Stimme der Vernunft", 27.03.2004, in: http://fazarchiv.faz.net/webcgi?START=A20&DOKM=993245_FAZ_0&WID=18573-1800308-11507_3
  23. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 2008, in: http://blickpunkt-zdk-berlin.blog.de/?tag=claudia-dantschke
  24. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Februar 2008, in: http://blickpunkt-zdk-berlin.blog.de/?tag=claudia-dantschke
  25. Hürriyet (Englisch) 26. Juni 2008, in: http://www.turkishdailynews.com.tr/article.php?enewsid=108281
  26. Gerichtsbeschluß der Revisionsinstanz (pdf): http://www.bibdaily.com/pdfs/Gulen%2036%207-16-08.pdf
  27. Green card coming to prominent Turkish leader, International Herald Tribune: http://www.iht.com/articles/ap/2008/10/17/america/NA-US-Turkey-Scholar.php
  28. a b The World’s Top 20 Public Intellectuals, Foreign Policy, Ausgabe Juli/August 2008
  29. Islamic scholar voted world's No 1 thinker, The Guardian, Monday June 23, 2008
  30. Bericht in der Zaman, 02.05.2008
  31. Engel und Dämon, SPIEGEL special 6/2008 vom 30.09.2008, Seite 26
  32. Die Macht der "Fethullaci", sueddeutsche.de 01.07.2008
  33. tr.fgulen.com kitap baski tablosu

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