- Heterotopie (Literatur)
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Heterotopie (aus gr. hetero (anders) und topos (Ort)) ist ein von Michel Foucault in einer sehr frühen Phase seiner Philosophie kurzzeitig verwendeter Begriff für Räume und ihre ordnungsystematische Bedeutung, der der Utopie und der Norm des Alltags entgegengestellt wird. Heterotopien sind Orte, die die zu einer Zeit vorgegebenen Normen zum Teil nicht völlig durchgesetzt haben oder die nach eigenen Regeln funktionieren und somit die Möglichkeit der Reflexion und Problematisierung gegebener Normen ermöglichen und bisweilen widersprechen.
Inhaltsverzeichnis
Bedeutung
Die grundlegende Annahme Foucaults ist, dass es Räume gibt, die in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren. Diese Räume sind entweder irreal, wie es bei Utopien oder auch Dystopien der Fall ist, die als Wunschvorstellungen oder albtraumhafte Visionen von gesellschaftlichen Zuständen vor allem in Romanen oder Filmen vertreten sind- demnach ist die Utopie ein unwirklicher, virtueller Raum, entweder Gegenentwurf oder Perfektionierung der realen gesellschaftlichen Verhältnisse. Oder aber es handelt sich um reale Orte, die tatsächlich existieren und – mehr oder weniger – körperlich zugänglich sind (Das Internet als virtueller Raum ist zwar nicht direkt körperlich zugänglich, dennoch kann man ihn mit Foucault als eine der bedeutendsten Heterotopien der Postmoderne ansehen, in dem alles gesellschaftliche Wissen gespeichert wird und das damit die Bibliothek abzulösen beginnt), sich aber als tatsächlich realisierte Utopien „außerhalb aller Orte“ befinden:
Heterotopien dagegen sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Foucault 1993: 39).
Diese Orte bezeichnet Foucault als Heterotopien und bezieht sich damit vor allem auf institutionelle Orte, die bestimmten Regeln unterworfen sind und deren „Partizipanten“ strenger Kontrolle unterliegen. Diese Form von Heterotopien bezeichnet Foucault auch als Krisen- oder, in unseren modernen Gesellschaften, als Abweichungsheterotopien und versteht sie als grundlegend für jede Gesellschaft, da sie diese strukturieren, ordnen und ihre Mitglieder kontrollieren, indem Abweichler bestraft bzw. ausgesondert werden und so das Fortbestehen der jeweiligen Gesellschaft gewährleistet wird. Die bekanntesten von Foucault behandelten Abweichungsheterotopien sind beispielsweise die Psychiatrie und das Gefängnis.
Darüber hinaus ist allen Heterotopien gemein, dass ihre jeweilige gesellschaftliche Bedeutung nicht statisch ist, sondern sich im Lauf ihres Fortbestehens verändern kann. Den Bedeutungswandel einer Heterotopie zu untersuchen heißt demzufolge, diskursanalytisch vorzugehen und die Heterotopie vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu begreifen.
Aber auch in ihrer Struktur unterscheiden sich Heterotopien von anderen Räumen. So sind sie in der Lage, mehrere Räume an einem einzigen Ort zu vereinen und zueinander in Beziehung zu setzen, die eigentlich nicht vereinbar sind. Dies ist beispielsweise beim traditionellen Garten der Perser der Fall, der als eigener Mikrokosmos die ganze Welt symbolhaft abbildet und verbindet, oder beim Kino, das Publikumssaal und Fenster zu anderen Welten zugleich ist.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die eigene, ihnen zugrunde liegende Zeitstruktur, die Foucault als Heterochronie bezeichnet und die die Heterotopien nach außen hin abgrenzt:
„Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“ (Foucault 1993: 43).
Foucault beschreibt an dieser Stelle zwei sehr extreme Formen der Heterotopien: jene, in denen die Zeit endlos angesammelt wird, sich stapelt und drängt in Büchern oder Bildern wie es in Bibliotheken und Museen der Fall ist, und solche, die zeitlich äußerst begrenzt sind und sich innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder auflösen wie dies bei Festen oder dem Jahrmarkt der Fall ist.
Darüber hinaus sind Heterotopien immer an ein System von Öffnungen und Schließungen gebunden, das sie nicht ohne weiteres für jeden zugänglich macht, sondern deren Betreten und Verlassen an bestimmte Ein- und Ausgangsrituale geknüpft ist. Diese Rituale können in komplexen Reinigungsritualen bestehen wie bei japanischen Teehäusern, oder von relativ profaner Natur sein wie beim Entrichten eines Eintrittsgeldes im Kino. Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich diese Rituale sein können und wie stark der Grad der Öffnung beziehungsweise der Schließung nach außen hin variieren kann - in das Kino wird theoretisch jeder eingelassen, der das Eintrittsgeld bezahlt, beim japanischen Teehaus hingegen muss ich mir zuerst ein bestimmtes Wissen über die Zeremonien angeeignet haben, bevor ich den Ort betreten darf. Außerdem werden nicht alle Heterotopien freiwillig betreten und nicht immer wird an der Heterotopie partizipiert, wenn wir deren Raum betreten. So stellt das Betreten eines Gefängnisses als Häftling eine höchst unfreiwillige Form des Partizipierens dar; kommt man hingegen als Besucher zum Tag der offenen Tür, so betritt man zwar den Raum des Gefängnisses, bleibt aus seinen heterotopischen Strukturen jedoch weitestgehend ausgeschlossen, betritt den Raum also nicht wirklich.
Gemeinsam ist laut Foucault diesen "anderen Orten", dass sie gegenüber dem verbleibenden Raum eine bestimmte Funktion erfüllen, die sich zwischen den beiden extremen Polen des Illusionsraums und des Kompensationsraums entfaltet. Während der Illusionsraum eine Wirklichkeit erschafft, innerhalb deren der gesamte reale Raum als noch illusorischer erscheint als die Heterotopie selbst, kreiert der Kompensationsraum einen anderen "wirklichen" Raum, der vollkommener und wohlgeordneter erscheint als der Realraum. Als Beispiel für den Illusionsraum beschreibt Foucault die früheren Bordelle, die vielleicht gerade deshalb so berühmt waren, weil sie die perfekte Illusion einer "anderen" Wirklichkeit erschufen; als Kompensationsraum ließe sich – neben den von Foucault angeführten Jesuitenkolonien in Südamerika- auch das Kaufhaus begreifen, das mit seinen sterilen Verkaufsräumen voll geordneter und glänzender Waren eine Wirklichkeit erschafft, die vollkommener und harmonischer erscheint als die Welt außerhalb.
Als Beispiele für Heterotopien nennt Foucault Spiegel, Jugend-, Alten- und Erholungsheime, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, die Kollegs des 19. Jahrhunderts, Kasernen, Friedhöfe, Kinos und Theater, Gärten, Museen, Bibliotheken, Festwiesen, Feriendörfer, kultische und nicht-kultische Reinigungsstätten, Gästehäuser, Bordelle, Kolonien sowie das Schiff als Heterotopie schlechthin.
In seinem Radiovortrag "Die Heteropien" (France Culture, 7. Dezember 1966, siehe Foucault 2005) skizziert Foucault Grundsätze einer Wissenschaft der Heterotopien: der Heterotopologie. Bei den Heterotopien der heutigen Gesellschaft handele es sich vor allem um Abweichungsheterotopien, d.h. um Orte, an denen von der herrschenden Norm abweichendes Verhalten ritualisiert und lokalisiert wird. Sie befinden sich an den Rändern der Gesellschaft, "an den leeren Stränden, die sie umgeben" (Foucault 2005, 12)
Einfluss auf Kunst und Literatur
Der SF-Autor Samuel R. Delany bezog sich in seinem Roman Triton bewusst auf den Begriff der Heterotopie bei Foucault. So trägt der Roman den Untertitel: Ein heterotopischer Roman.
Literatur
- Foucault, Michel: Die Heterotopien/ Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt/M: Suhrkamp, 2005 (Rezensionen Perelentaucher)
- Chlada, Marvin: Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault. Alibri, Aschaffenburg, 2005
- Foucault, Michel: Andere Räume (1967). In: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig: Reclam, 1993.
- Urban, Urs: Der Raum des Anderen und Andere Räume. Würzburg (Königshausen und Neumann) 2007
Rezensionen
Rainer Becker: Silencio, please? Anderer Raum der Stimme. Rezension: Michel Foucault: Die Heterotopien/Der utopische. In: Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. [1]; Körper [2]
Siehe auch
Weblinks
- Volltext des Vortrags "Des Espaces Autres" von Foucault (Engl.)
- Marvin Chlada: "In Heterotopia. Postmoderne Träume von Abenteuer und Freibeuterei: Über die Möglichkeiten und Grenzen der so genannten anderen Orte nach Michel Foucault & Co." Jungle World 02/2006
- "Räume sind Träume. Marvin Chlada spaziert durch Foucaults andere Orte und rettet, was zu retten ist." Jungle World 02/2006
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