- Hildebrandtslied
-
Das Hildebrandslied ist eines der frühesten poetischen Textzeugnisse in deutscher Sprache. Das unvollständig erhaltene heldenepische Stabreimgedicht (Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem) besteht aus 68 Langversen. Es erzählt in althochdeutscher Sprache eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern.
Inhaltsverzeichnis
Handschriftenbeschreibung
Der einzige erhaltene Textzeuge des Hildebrandsliedes wird in der Universitätsbibliothek Kassel unter der Signatur 2° Ms. theol. 54 aufbewahrt. Das Manuskript gehört zu den Altbeständen der Landesbibliothek Kassel.
Der Text des Hildebrandsliedes befindet sich auf den Seiten 1r und 76v einer frühmittelalterlichen Pergament-Handschrift, also auf der Vorderseite des Blattes 1 und der Rückseite des Blattes 76. Bei diesen Seiten handelt es sich um die ursprünglich leer gebliebenen Außenseiten des Kodex.
Der Hauptteil des Kodex wurde wahrscheinlich um 830 im Kloster Fulda geschrieben und enthält die biblischen Texte Sapientia Salomonis und Jesus Sirach in lateinischer Sprache. Das althochdeutsche Hildebrandslied ist offensichtlich ein nachträglicher Eintrag etwa des 4. Jahrzehnts des 9. Jahrhunderts. Die Aufzeichnung bricht ab, weil der Platz auf dem letzten Blatt nicht ausreichte. Oft dachte man in der Forschung an eine Schreibübung, weil die Zeilen auch sehr unterschiedlich ausgeschrieben sind. Der Anlass für die Niederschrift könnte in folgender Tatsache liegen: Das Kloster Fulda erhielt in den 40er Jahren des 9. Jahrhunderts Reliquien des heiligen Quirinus, die aus Ungarn nach Fulda kamen und geographisch wie auch lebenszeitlich an die Zeit der Völkerwanderung erinnerten und so vielleicht bei den Schreibern - es handelt sich wohl um zwei - diesen Text wachriefen. Allerdings wurde das Lied nicht aus dem Gedächtnis aufgezeichnet, sondern von einer älteren schriftlichen Vorlage - von der nichts erhalten ist - abgeschrieben.
Das Lied wurde von unbekannten Fuldaer Mönchen in althochdeutscher Sprache, jedoch in einer eigentümlichen altsächsisch-bairischen Mischsprache und mit angelsächsischen Schreibbesonderheiten (w-Rune), aufgezeichnet. Die eigentümliche Mischung aus hoch- und niederdeutschem Dialekt versucht man damit zu erklären, dass der niederdeutsche Schreiber jener Vorlage das hochdeutsche Lied nur ungeschickt wiedergeben konnte.
Eine erste wissenschaftliche Edition des Hildebrandliedes veröffentlichten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Jahre 1812.
Die Handschrift befand sich als Kriegsbeute nach 1945 zeitweilig in den USA, wo unkundige Antiquare eines der beiden Blätter abtrennten und die Handschrift für 1000 US-Dollar verkauft wurde. Es konnte erst 1972 wieder mit dem Codex vereinigt werden.
Inhalt
Das Hildebrandslied ist das einzige so früh aus dem süddeutschen Sprachraum überlieferte Heldenlied. Geschildert wird eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern. Hildebrand hat Frau und Kind verlassen und ist als Waffenmeister mit Dietrich gezogen. Nun kehrt er nach 30 Jahren heim. An der Grenze stellt sich ihm ein junger Krieger mit seinem Gefolge entgegen. Hildebrand fragt diesen, wer sin fater wari (wer sein Vater wäre). So erfährt Hildebrand, dass dieser Mann, Hadubrand, sein eigener Sohn ist. Hadubrand weist seine goldenen Armringe zurück und meint, er sei ein listiger alter Hunne, denn Seefahrer hätten ihm berichtet, dass sein Vater tot sei (tot is hiltibrant). Um seiner Ehre willen muss der Vater die Herausforderung des Sohnes zum Kampf annehmen - beide stehen zwischen ihren Heeren - und klagt so über sein furchtbares Schicksal.
Es handelt sich also um eine Zweikampfsituation zwischen Hildebrand und seinem Sohn Hadubrand. Da der Schluss des Textes verloren ist, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob das Ende tragisch gestaltet war. Man kann aber davon ausgehen. Sicher scheint auch, dass der Vater seinen Sohn erschlagen hat - Zeugnis davon gibt „Hildebrands Sterbelied“ in der nordischen Überlieferung der Edda. Auch im deutschen Jüngeren Hildebrandslied siegt der Vater, aber die beiden erkennen einander rechtzeitig. Insgesamt ist die Tragik sicher auch die größere, wenn der Vater seinen Sohn erschlagen hat - er löscht damit seine Familie aus. Eine spätere Variante (in Deutschland erst in Handschriften zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert erhalten) bietet allerdings eine versöhnliche Variante an: Mitten im Kampf wenden sich die Streitenden voneinander ab, der Sohn erkennt den Vater, und sie schließen sich in die Arme. Diese Version endet mit einem Kuss des Vaters auf die Stirn des Sohnes und den Worten: „Gott sei Dank, wir sind beide gesund.“ Schon im 13. Jahrhundert ist aber diese versöhnliche Variante aus Deutschland nach Skandinavien gedrungen und dort in der Thidrekssaga (älteste erhaltene Handschrift schon um 1280), einer Übersetzung deutscher Sagen aus dem Kreis um Dietrich von Bern, überliefert: nachdem sich Vater und Sohn erkannt haben, gehen sie mit Freuden zur Mutter.
Zeitlich dürfte die Handlung im 5. Jahrhundert einzuordnen sein, als Odoaker gegen den Ostgotenkönig Theoderich den Großen kämpfte. In der germanischen Sage wurde Theoderich dann Dietrich von Bern (d.i. Verona) genannt. Odoaker war Germane (Skire oder Rugier) und hatte im Jahre 476 den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus abgesetzt; daraufhin riefen ihn seine Truppen zum König Italiens (rex Italiae) aus.
Aufgrund der inhaltlichen Ähnlichkeit wird diese Tragödie oft mit dem Schāhnāme, dem iranischen Nationalepos, verglichen. Dieses Epos erreicht seinen Höhepunkt im Kampf zwischen Vater Rostam und Sohn Sohrab. Nachdem Rostam seinem Sohn bei seiner Geburt einen Armreif hinterlässt, um ihn daran erkennen zu können, bekommt er erst nach dem Mord an seinem Sohn dessen Armreif zu sehen. Entweder liegt dem Stoff eine indogermanische Ursage zugrunde, oder es kann eine direkte Beeinflussung angenommen werden.[1]
Textbeispiel
Althochdeutsch/Altsächsisch Neuhochdeutsch ahd. Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun ænon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem.
sunufatarungo iro saro rihtun.
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro suert ana,
helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.dt. Ich hörte das sagen,
dass sich Herausforderer einzeln abmühten:
Hildebrand und Hadubrand zwischen zwei Heeren.
Sohn und Vater bereiteten ihre Rüstung,
richteten ihre Kampfgewänder, gürteten sich ihre Schwerter um,
die Helden, über die Rüstung, als sie zu dem Kampf ritten.Literatur
Faksimile
- Hanns Fischer: Schrifttafeln zum althochdeutschen Lesebuch, Tübingen 1966 ISBN 3-484-10008-7
- Präsident der Universität Kassel (Hrsg.): Das Hildebrandlied – Faksimile der Kasseler Handschrift mit einer Einführung von Hartmut Broszinski. 3. überarb. Auflage, kassel university press, Kassel 2004, ISBN 3-89958-008-7
Ausgaben
- Elias von Steinmeyer: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1916
- Wilhelm Braune, Ernst A. Ebbinghaus: Althochdeutsches Lesebuch, 17. Auflage, Tübingen 1994 ISBN 3-484-10708-1
- Horst Dieter Schlosser: Althochdeutsche Literatur, 2. Auflage, Berlin 2004 ISBN 3-503-07903-3
Übersetzungen
- Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hrsg.): Bibliothek des Mittelalters. Band 1. Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 1991, ISBN 3-618-66015-4
- Siegfried Gutenbrunner: Von Hildebrand und Hadubrand. Lied, Sage, Mythos, Heidelberg 1976, ISBN 3-8253-2362-5
- Althochdeutsche poetische Texte. Althochdeutsch/Neuhochdeutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Karl A. Wipf (=Reclams Universal-Bibliothek Band 8709), Stuttgart 1992, ISBN 3-15-008709-0
Bibliographien
- Helmich van der Kolk: Das Hildebrandslied, Amsterdam 1967 (bis 1967)
- Verfasserlexikon. Die deutsche Literatur des Mittelalters, herausgegeben von Kurt Ruh et al., Berlin/New York 1981, Band 3, Seite 1240-1256, ISBN 3-11-008778-2
Einzelaspekte
- Siegfried Beyschlag: Hiltibrant enti hadubrant untar heriun tuem (Methodisches zu Textfolge und Interpretation), in: Festgabe für L.L. Hammerich aus Anlass seines 70. Geburtstags. Kopenhagen 1962. S. 13-28.
- Ernst S. Dick: Heroische Steigerung: Hildebrands tragisches Versagen, in: Wolfgang W. Moelleken, Dialectology, linguistics, literature. Fs. Caroll E. Reed. Göppingen 1984. S. 41-71.
- Uwe Ebel: Historizität und Kodifizierung. Überlegungen zu einem zentralen Aspekt des germanischen Heldenlieds, in: Rolf Bergmann, Althochdeutsch, Bd. 1: Grammatik. Glossen und Texte. Heidelberg 1987. S. 685-714.
- Hans Fromm: Das Heldenzeitlied des dt. Hochmittelalters, in: Neuphilologische Mitteilungen 62 (1961). S. 94-118.
- Carola L. Gottzmann: Warum muss Hildebrand vor Otachres nid fliehen? Überlegungen zum >Hildebrandslied<, in: ZfdPH 122 [2003]. S. 1-19.
- Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter [ca. 700 – 1050/60]. 2. Auflage Königsstein/Ts. 1995 [=Joachim Heinzle [Hg.], Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 1: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Tl. 1]. S. 103-135.
- Walter Haug: Literaturhistoriker untar herium tuem, in: Winder McDonnell, in hôhem prîse. Fs. Ernst S. Dick. Göppingen 1989. S. 129-144.
- Joachim Heinzle: Rabenschlacht und Burgundenuntergang im Hildebrandslied? Zu einer neuen Theorie über die Entstehung der Sage von Dietrichs Flucht, in: Rolf Bergmann, Althochdeutsch, Bd. 1: Grammatik. Glossen und Texte. Heidelberg 1987. S. 677-684.
- Herbert Kolb: Hildebrands Sohn, in: Rudolf Schützeichel, Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Bonn 1979. S. 51-75.
- Hugo Kuhn: Hildebrand, Dietrich von Bern und die Nibelungen, in: Ders., Text und Theorie, Kleinere Schriften, Bd. 2. Stuttgart 1969. S. 126-140.
- Hugo Kuhn: Stoffgeschichte, Tragik und formaler Aufbau im Hildebrandslied, in: Ders., Text und Theorie, Kleinere Schriften, Bd. 2. Stuttgart 1969. S. 113-125.
- Matthias Meyer: Auf der Suche nach Vätern und Söhnen im „Hildebrandslied“, in: Johannes Keller, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer: Das Abenteuer der Genealogie: Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter. Göttingen 2006. S. 61-85.
- Maria Vittoria Molinari: Hildebrandslied: neue Perspektiven in der textgeschichtlichen Forschung, in: ABäG 50 (1998). S. 21-45.
- Derk Ohlenroth: Hildebrands Flucht. Zum Verhältnis von Hildebrandslied und Exilsage, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 127 (2005). S. 377-413.
- Ulrich Pretzel: Zum Hildebrandslied, in: PBB 95 [1973]. S. 272-288.
- Ingo Reiffenstein: Zu Stil und Aufbau des Hildebrandsliedes, in: Sprachkunst als Weltgestaltung. Fs. Herbert Seidler, hg. v. Adolf Haslinger, Salzburg, München 1966. S. 229-254.
- Hellmut Rosenfeld: Das Hildebrandslied, die indogermanischen Vater-Sohn-Kampf-Dichtungen und das Problem ihrer Verwandtschaft, in: DVjS 26 [1952]. S. 413-432.
- Karl Schneider: Zum Hildebrandslied 37/38 und 49, in: Rolf Bergmann, Althochdeutsch, Bd. 1: Grammatik. Glossen und Texte. Heidelberg 1987. S. 655-669.
- Meinolf Schumacher: Wortkampf der Generationen. Zum Dialog zwischen Vater und Sohn im „Hildebrandslied“, in: Eva Neuland (Hrsg.): Jugendsprache – Jugendliteratur – Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, S. 183-190 (2. Auflage 2007), ISBN 978-3-631-55689-4
- Rudolf Schützeichel: Hildebrandslied A. wewurt skihit, in: Ders., Textgebundenheit. Kleinere Schriften zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Tübingen 1981. S. 1-15.
- Rudolf Schützeichel: Hildebrandslied B. sunufatarungo, in: Ders., Textgebundenheit. Kleinere Schriften zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Tübingen 1981. S. 16-28.
- Norbert Wagner: Einiges zum Hildebrandslied, in: Sprachwissenschaft 22 (1997). S. 309-327.
- Norbert Wagner: Ich armer Dietrich. Die Wandlung von Theoderichs Eroberung zu Dietrichs Flucht, in: ZfdA 109 (1980). S. 209-228.
- Roswitha Wisniewski: Hadubrands Rache. Eine Interpretation des Hildebrandsliedes, in: ABäG 9/10 1975/76. S. 1-12.
Schicksal der Handschrift nach 1945
- Opritsa D. Popa: Bibliophiles and bibliothieves: the search for the Hildebrandslied and the Willehalm Codex. Berlin 2003. ISBN 3-11-017730-7 Buchbesprechung von K. Graf
Einzelnachweise
- ↑ Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage. Franke, Bern – München 1961. S. 68ff.
Weblinks
Wikimedia Foundation.