Irmensul

Irmensul
Die Irminsul als Weltenbaum mit neun Ästen. Zeichnung: Marianne Klement

Die Irminsul (die „emporgeschossene Säule“) oder auch Irmensäule oder Irmensul, war ein altsächsisches Hauptheiligtum und wird als eine große Holzsäule beschrieben.

Sie symbolisierte nach den Quellen den Weltenbaum der germanischen Mythologie und ist als mit der Weltesche Yggdrasil aus der Edda und dem immergrünen Kultbaum beim wikingerzeitlichen Tempel von Uppsala zusammenhängend zu betrachten.[1]

Inhaltsverzeichnis

Standort und Funktion

Ihr genauer Standort ist unbekannt, wahrscheinlich befand sie sich aber in der Nähe der Eresburg bei Obermarsberg, wie die Formulierungen in den Annales regni Francorum („Fränkische Reichsannalen“) zum Jahr 772 nahelegen. Als weitere mögliche Standorte gelten u. a. die Gertrudenkammer (Drudenhöhle) in den Teutoniaklippen bei der Karlsschanze im Eggegebirge zwischen Willebadessen und Borlinghausen, die Externsteine, der Desenberg bei Warburg, die Iburg bei Bad Driburg, der Tönsberg bei Oerlinghausen und die Velmerstot am Nordende des Eggegebirges. Die Irminsul wurde von den Franken auf Veranlassung Karls des Großen im Jahre 772 während der Sachsenkriege zerstört.

Der Mönch Rudolf von Fulda (gest. 865), dem wir die einzige ausführlichere Nachricht zur Irminsul verdanken, schreibt dazu in De miraculis sancti Alexandri (Kap. 3):

„Truncum quoque ligni non parvae magnitudinis in altum erectum sub divo colebant, patria eum lingua Irminsul appellantes, quod Latine dicitur universalis columna, quasi sustinens omnia.“
„Sie verehrten auch unter freiem Himmel einen senkrecht aufgerichteten Baumstamm von nicht geringer Größe, den sie in ihrer Muttersprache ,Irminsul‘ nannten, was auf lateinisch ,columna universalis‘ (dtsch. All-Säule) bedeutet, welche gewissermaßen das All trägt.“[2]

Geht man von der Funktion der Irminsul, das ganze All zu tragen, aus, so erweist sie sich als eine spezielle Form der sogenannten Weltsäule. Sie erhob sich vom Boden aus bis zum Himmel, den sie an der Stelle des Polarsterns erreichte. Bei den Lappen hat sich die Sitte, Weltsäulen aufzustellen bis ins 17. Jahrhundert erhalten und bei den Schamanen Nordasiens bis ins 20. Jahrhundert. Die lappischen Säulen waren als Gabelsäulen gebildet, das heißt, der Stamm teilte sich oben nach zwei Richtungen. Es wird allgemein angenommen, dass die Lappen die Sitte, Weltsäulen aufzurichten, von den südlicher lebenden Germanen übernommen hatten. Wenn diese Annahme stimmt, dürfte auch die germanische Weltsäule, die sächsische Irminsul, eine Gabelsäule gewesen sein. An mehreren Stellen spricht die Edda von der Weltensäule und ihrer Funktion. In den Eingangsstrophen der Völuspa gibt die Dichterin ihre Visitenkarte ab:

„Neun Welten kenn ich, neun Äste weiß ich,
am starken Stamm im Staub der Erde...“ (Übersetzung: Simrock)

Sie hat neun Welten kennengelernt auf neun Ästen des Stammes. Aus dieser Erfahrung leitet sie ihren Anspruch als Seherin anerkannt zu werden ab. Von derselben Erfahrung spricht auch Odins Runenlied:

„Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum,
neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem niemand ansieht,
Aus welcher Wurzel er spross.“ (Übersetzung: Simrock)

Damit wird der Weltenbaum, der Himmel und Erde trennt, zugleich der, der sie wieder verbindet.[3] Die an diesem Stamm in neun oder sieben oder zwölf Stufen Aufsteigenden erleben die verschiedenen Bereiche der Himmelswelt. Die Schamanen im Polargürtel der Kontinente rund um das Nordpolarmeer haben diese Initiationsverfahren bis ins 20. Jahrhundert ausgeführt. Demnach bezeichnet der Begriff Irminsul nicht nur einen einzelnen aufgerichteten Stamm, sondern eine Gattung von Säulen, die aufgerichtet waren, um den religiösen Weihezwecken zu dienen. Die Frage, wo „die“ Irminsul stand, relativiert sich damit zur Frage, wo die von Rudolf von Fulda erwähnte Irminsul stand. Es gab mehrere.

Würden sich Rudolf von Fuldas Aussagen allein auf eine Deutung des originär germanischen Wortes stützen, wäre sie durchaus anzweifelbar. Die neuere Sprachforschung legt für „irmin(-)“ eher eine Bedeutung wie „aufgeschossen“ – „aufgeschwungen (wie ein Adler)“ – oder „erhaben, groß, ragend“ nahe. Doch waren die Fuldaer Mönche am Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts im Raum östlich von Paderborn missionierend tätig. Mehrere Kilianskirchen (z.B. in Höxter) bezeugen das eindrücklich. Rudolf von Fulda kann also Mönche seines Klosters gekannt haben, die ihn aus erster Hand über die Irminsul unterrichten konnten.

Ein Rest einer Irminsäule soll sich laut einer seit dem 16. Jahrhundert dokumentierten Überlieferung[4] heute im Hildesheimer Dom unter einer Mariensäule im Boden befinden. Walther Matthes schreibt dazu: „Es heißt dort, daß bei der Anlage des Klosters Corvey (ab 822), die in der Zeit Ludwigs des Frommen erfolgte, im Erdboden eine alte Steinsäule gefunden worden und daß es die von Karl dem Großen eroberte Irminsul gewesen sei, die man nach der Zerstörung an diese Stelle gebracht und dort vergraben habe. Weiterhin wird geschildert wie man die freigelegte Heidensäule von diesem Fundort unter dramatischen Umständen nach Hildesheim schaffte, um sie dort im Dom als Kerzenträger aufzustellen[5] Matthes merkt an, dass die Erzählung die wachsende Bedeutung des Hildesheimer Bistums gegenüber dem Corveyer Kloster, das im 9. und 10. Jahrhundert dominant war, widerspiegelt. In der Nähe Hildesheims liegt übrigens auch ein Ort namens Irminseul/Irmenseul.

Ursprünglich war nicht die Irminsul selbst der Gegenstand der Verehrung, sondern sie stand als ein Symbol für einen höheren Wert.

Es ist vermutet worden, dass sie auch einen zentralen Thingplatz markiert habe. Man versammelte sich aber im Schatten des Heiligtums, weil man dort auf ein gesitteteres Verhalten und auf den Schutz der Götter rechnete. Die Irminsul war sowenig eine Markierung des Thingplatzes wie der mittelalterliche Kirchturm eine Markierung des Wochenmarktes.

Die Irminsul in der christlichen Symbolik

Als die germanische Bevölkerung Nord- und Mitteldeutschlands durch die irischen und römischen Missionare sowie die Zwangsmaßnahmen Karls des Großen sich im 8. und 9. Jahrhundert dem christlichen Leben näherte, waren die alten sächsischen Symbole noch lange allgegenwärtig.

Zentralsäule in der Krypta der Michaelskirche in Fulda. Um 820
Grundriss der Krypta der Michaelskirche in Fulda. Zentralsäule in der Mitte. Um 820

An dem Ort, dem wir die einzige Nachricht über die Irminsul verdanken, gibt es auch ein bauplastisches Zeugnis der Säule. In der Krypta der Michaelskirche bauten die Mönche gegen 820 eine kleine, stämmige, aber tragende Mittelsäule, auf die sie den Rundbau der Grabkapelle stützten. Die runde Säule geht nach oben in ein Kapitell über, das nach links und rechts Voluten aufweist, an eine ionische Säule erinnernd, aber eben auch an eine Gabelsäule. Es soll sich bei der Kapelle um den Versuch einer Nachbildung der Grabeskirche in Jerusalem gehandelt haben (die damals noch ganz anders aussah als heute). Candidus Bruun schrieb eine Biografie des Gründerabtes Eigil in Versen. Darin heißt es:

Aegyl baute (daselbst) ein zirkelförmiges Kirchlein
(wahrlich sehr fromm!). Auf einer unterird'schen Kapelle,
Deren Umgangsgewölbe auf einen Pfeiler sich stützet,
Steigt dasselbe über der Erde prächtig zur Höhe.
Denn acht Säulen und Bogen tragen das kunstvolle Turmwerk.
Dessen Dachung mit einem großen Steine sich spitzet.
Aegyl dachte die Christen als Gottes lebendigen Tempel,
Dessen Größe auf einer Säule, die Christus ist, ruhet,
Und die als lebende Steine, meißelt und ordnet der Glaube;
Dieser, tätig durch Liebe, kittet und fugt sie an Christum;...[6]

Wie die weiteren Verse zeigen, wurden auch die acht Säulen des Rundbaus von Candidus Bruun wie der ganze Bau allegorisch verstanden: sie sollten die acht Seligpreisungen darstellen. - Die Fuldaer Mönche stellten unter ihre Kirche eine Zentralsäule, der sie die Form einer Gabelsäule gaben. Und sie identifizierten sie mit Christus selbst. Darauf weist auch der Grundriss, der zeigt, dass die Mauern die Form einer Kreuzaura ausfüllen. Ohne das Gedicht Candidus Bruuns könnte man vermuten, die Irminsul sei in den Keller verbannt worden um ihre Unterdrückung anschaulich zu machen. Jedoch versuchte man damals vielmehr die Bilder des Heidentums christlich umzudeuten, um den Heiden zu zeigen, dass in ihrem Glauben der Christusglaube keimhaft enthalten war, und ihnen so den Übergang vom Heidentum zum Christentum zu erleichtern. Das war kein Trick, sondern man war tatsächlich mit Augustinus der Überzeugung: Was man gegenwärtig die christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechtes, bis Christus im Fleische erschien, von wo an die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen erhielt.[7]

In diese Bemühungen der Fuldaer Mönche ordneten sich auch Rabanus Maurus wunderbare Figurengedichte in 'De laudibus Sanctae Crucis' ein. Rabanus, seit 822 Eigils Nachfolger in Fulda, ließ das Buch systematisch vervielfältigen und im Fränkischen Reich verteilen. An die Stelle des Weltenbaums (und der Weltensäule) musste aber eine neue Imagination treten, weil durch Christus neue Realitäten geschaffen worden waren. Im 9. Jahrhundert wurde so das Kreuz, das seinerseits das Heil der Welt getragen hatte, der unbestrittene Nachfolger der Irminsul.

Im frühen Christentum war das Kreuz in Südeuropa schon mit dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis in Verbindung gebracht worden. Nun übernahm das Kreuz auch die Aufgabe des im Norden verehrten Weltenbaums, der Irminsul. Die mittelalterliche christliche Dichtung legt von der Identifikation des Kreuzes mit einem Baum beredt Zeugnis ab. Venantius Fortunatus sprach um 575 das Kreuz an mit den Worten:

Hoher Baum, beug Deine Äste,
Lockre den gespannten Kern,
Und es löse sich die Härte,
Die der Ursprung Dir verlieh,
Daß des höchsten Königs Glieder
Du an weichem Stamme spannst! [8]

Auch andere damit verbundene Vorstellungen behielten die Christen gewordenen Germanen bei, z.B. diejenige, dass der Polarstern der Ort sei, an dem man von der Erde in den Himmel kommen konnte. Der Himmels-Pol war, als man noch keinen Begriff des Zeitlosen und Unwandelbaren hatte, im Bereich der Sinneswelt das einzig dauerhaft Ruhende im sichtbaren Universum: der Punkt, um den sich alles dreht. So konnte daran eine Vorstellung vom Ewigen gewonnen werden. Hildebert von Tours (1055-1134) spricht in einem Sinngedicht von der dreifachen Wohnung des Menschen, wobei er die letzte Wohnung am Pol lokalisiert, dem Ort, an dem die Weltensäule den Himmel erreicht und trägt:

Dreifach wohnet der Gute: zuerst im Bereich der Lüfte,
Unter der Erde sodann, über den Sternen zuletzt.
Erst in dem Haus, und sodann in dem Grab, und zuletzt an dem Pole,
Jenes verfällt, aufhört dieses, es bleibet der Pol.
Drei sind Meister des Baus: der Meister, der Gräber, der Heiland;
Dort giebts Steine, und hier Würmer, am Ende den Lohn.
Jenes stürzt leicht ein, dies liegt fest, ewig der Pol steht,
Dort ist Leiden, hier Asche, doch Freuden am Pol. ... [9]

Man findet das Symbol der Weltsäule auch in der bildenden Kunst des Mittelalters, z.B. in Buchillustrationen, auf karolingischen Elfenbeinschnitzereien, romanischen Taufsteinen und Säulenkapitellen. In den karolingischen Handschriften sind es die Zierseiten am Anfang der Sakramentare, die den Wechsel besonders augenfällig dokumentieren. Die lateinische Messe beginnt mit den Worten „Te igitur“. Die Form des T steht dem Kreuz wie auch der Gabelsäule nahe und bot Gelegenheit, die beiden Symbole miteinander zu verbinden. So erhielt der Messkanon oft ein reich verziertes T-Initial. Schon früher war der Gedanke formuliert worden, dass das Kreuz seine Arme über die ganze Welt ausstrecke, den Himmel tragend, die Erde schützend. Monumental wirkende Buchmalereien entstanden, auf denen das T zum weltbeherrschenden Kreuz wurde. Im Drogo-Sakramentar [10] von 850 etwa füllt das purpurrote T eine ganze Seite aus, umrankt von goldenen Weinreben. In den Balken sind vier Szenen des Alten Testaments, Vorformen des Opfers Christi und des Messopfers darstellend. Dadurch dass Melchisedek, Abel und Abraham in das Kreuz hinein genommen sind, zeigt der Maler anschaulich die Raum und Zeit umspannende Macht des Kreuzes Da wird der Buchstabe zum Weinstock, zum goldumrankten Lebensbaum.[11], schreibt Wolfram von den Steinen. Ein Sakramentarfragment[12] von 870 zeigt den Gekreuzigten selbst an ein den Kosmos erfüllendes T geheftet. Um seinen Leib bis zum Querbalken hinauf deutet Blattwerk die Fülle der von ihm ausgehenden Lebenskräfte an. Mit seinem Haupt ragt er in den Bereich von Sonne und Mond, der von klaren Farben ohne Rankenwerk erfüllt ist.

I-Initial als Irminsul mit Kletterer. Reichenauer Lektionar. 10.Jahrhundert. Zeichnung: Marianne Klement.

Es gibt Hinweise darauf, dass die Bedeutung der Irminsul als des Mittels, um bildlich gesprochen in den Himmel hinaufzusteigen und wieder herabzukommen, im frühen Mittelalter wohlbekannt war. Besonders anschaulich zeigt das ein I-Initial in einem Reichenauer Lektionar. Das I ist oben und unten mit einer Gabelung versehen, wodurch es zur Gabelsäule wird. In der Öffnung zwischen den Gabelarmen ist eine Spitze eingefügt. Neun Astansätze sind abwechselnd rechts und links angebracht. Ein Mann - in Kleidung und Mimik sofort den Reichenauer Ursprung des Blattes verratend - klettert an der I-Säule hinauf. Er steht mit seinen Füssen auf dem dritten und vierten Astansatz und hält sich mit den Händen am Stamm zwischen dem sechsten und siebten Ast fest.

Christus auf der Weltsäule. Elfenbeinrelief bald nach 1000. Zeichnung: M.Klement

Ein kölnisches Elfenbeinrelief, bald nach 1000 entstanden, zeigt Christus auf einer Weltkugel, die von einer starken Säule getragen wird. Die Heiligen Gereon und Viktor, die durch ihre Palmenwedel sich als Märtyrer ausweisen, werden von ihm gesegnet. „Die Weltkugel, über der Christus sich erhebt, ruht auf der Himmelssäule (Hiob 26,11), die an die heidnisch-sächsische Irminsul mitdenken lässt“, kommentiert Wolfram von den Steinen.[13] Die von Engeln getragene Mandorla umgibt Christus mit Sternen und rückt ihn so hinauf in den Bereich oberhalb der Irminsul, den Bereich des Himmels-Pols.

Romanisches Kapitell mit Gabelsäule. Paderborn, Abdinghofkirche. 1150-1160. Zeichnung: M.Klement

Ein Beispiel aus der Bauplastik ist die reliefierte Gabelsäule auf einem Kapitell in der Paderborner Abdinghofkirche, das in die Mitte des 12. Jahrhunderts datiert wird. Da die Abdinghofer Mönche manchmal als die Verantwortlichen für das Kreuzabnahmerelief an den Externsteinen angesehen werden, ist ein Vergleich zwischen den beiden Darstellungen der Gabelsäule interessant. Man kann die bloße Tatsache, dass in Abdinghof gerade in der Zeit 1130-50, die auch häufig als Entstehungszeit des Reliefs genannt wird, eine Gabelsäule abgebildet wurde, schon als eine Bestätigung dieses Zusammenhanges ansehen. Beachtet man aber die beträchtlichen Unterschiede, kann man zu dem gegenteiligen Urteil kommen.

Romanischer Taufstein. Rieseby bei Eckernförde. Um 1220. Zeichnung: M.Klement

Eine Darstellung, die für viele ähnliche steht, ist an dem romanischen Taufstein in Rieseby zu sehen. Die dortige Backsteinkirche wird um 1220 datiert. Der Fuß der Taufe zeigt auf einer Seite die drei Kreuze. An die Stelle des mittleren, größten Kreuzes ist eine Gabelsäule getreten. Das umgekehrte Motiv, ein Kreuz zwischen zwei Gabelsäulen findet sich z.B. auf einem romanischen Tympanon in Althadersleben (Nordschleswig).

Die Irminsul im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit

Die Irminsul nach Sebastian Münster. Holzschnitt aus Cosmographey, ca.1590

Schon früh begann man sich Gedanken darüber zu machen, was es mit dieser Säule wohl auf sich gehabt haben könnte. So schreibt Sebastian Münster gegen 1550 in seiner „Cosmographia“: Dann zu Merspurg auff dem Berg Eresberg hetten die Sachsen ein auffgerichte Abgöttische Seul / die man Irmenseul nannt / da Hermes ward geehrt: das ist / Mercurius/ oder wie die andern sagen Mars / und ward die Statt auch darvon Martinopolis un Merspurg genennt. Etliche sprechen Irmenseul sey darumb also genennet worden/ daß es gleich als jedermans Seul und eine gemeine Zuflucht sey gewesen.[14] Münster gibt auch ein Phantasiebild der Irminsul, das er allerdings in völlig gleicher Art auch für andere Säulen verwendet. Schwert und Waage gibt er ihm in die Rechte, eine Fahne mit der lippischen Rose in die Linke. Münster glaubte, dass Hermes (Mercurius) oder Mars an der Säule angebetet worden wäre.

Heinrich Meibom, Professor an der Universität Helmstedt, der seine Schrift über die Irminsul 1612 dem Hildesheimer Domkapitel gewidmet hat, veröffentlichte auf dem Abschlußblatt ein Ektypon Irminsulae, das wie ein großer Leuchter aussieht und wahrscheinlich die angeblich nach Hildesheim verbrachte Säule - nicht die Bernwards-Säule - zeigt. Meiboms Säule trägt keine Gestalt sondern nur einen spitzen Stachel, wie ihn Kerzenleuchter tragen. Der Schmuck der Säule entspricht ganz und gar der vergangenen Renaissance, spiegelt also sicher kein Gebilde der vorchristlichen Ära wieder.

Irminsul nach Heinrich Meibom. 1612.
Irmensula als Gott ohne Säule. Nach Schedius. De diis Germanis.1728

Elias Schedius bildet 1728 den bewaffneten Kriegsmann, der auf der Säule gestanden haben soll, schon ohne Säule ab. Die Personifikation tritt nun ganz in den Vordergrund. Bemerkenswert ist der Bär, den er oben auf dem Brustschild platziert. Hundertfünfzig Jahre nach Sebastian Münster hatten sich die vorsichtigen Erwägungen in vermeintlich sichere Erkenntnisse verwandelt. 1731 konnte ein Gelehrter schon schreiben: Die Sachsen hielten ungemein hoch die sogenannte Irmen oder Ermen-Saul. Man meinte, es habe dieser Götz angedeutet den Mercurium, welcher Hermes in griechischer Sprache genannt wird. Das Bild, das auf dieser Säule gestanden, soll ein bewaffneter Kriegs-Mann gewesen sein, der in der rechten Hand eine Kriegs-Fahne, worin eine Rose, gehalten. In der Linken hielt er eine Waage. Seine Brust war offen und bloß, mit einem Bären bezeichnet. Im Schild führte er einen Löwen, worüber eine Waage hing. Auf dem Helm stund ein Wetter-Hahn. Wenn man zu Felde ging, wurde der Götz von der Säule weggenommen und mit ins Feld geführt, woran sie nachgehends die Gefangenen banden und sie töteten, oder auch wohl die Ihrigen selbst, die sich nicht gut hielten, wie solches auch den Königen öfters widerfahren. Diese Säule stunde im Stift Paderborn, oder wie einige sagen, bei Merseburg in Meißen. Sie wurde nach der Bekehrung Sachsens nach Hildesheim gebracht, wo sie noch heutigen Tags in der Mitte vor dem Chor stehen soll und an Fest-Tagen anstatt eines Leuchters dient. Sie hat die Eigenschaft, daß sie bei den heißesten Sommer-Tagen kalt ist und beim Aufschlagen einen recht schönen Klang von sich gibt.[15]

Alfred Rethel: Sturz der Irminsul (1839); Fresko im Krönungssaal des Aachener Rathauses

Von diesem Bild des Irmin konnten sich die künstlerische und die gelehrte Welt, die mit der Französischen Revolution in eine stärker weltlich orientierte Forschung überging, nur langsam lösen. Ein "Reallexikon der deutschen Altertümer" schrieb noch 1881: Irmin war ein germanischer, kriegerisch dargestellter Gott, hoch von Wuchs und auf jeden Fall ein lichtes Himmelswesen, der sich wahrscheinlich mit Thurnarr und Ziu berührte. Darstellungen von ihm waren die dem Gotte Hirmin geweihten Säulen zu Scheidungen in Thüringen, zu Eresburg in Sachsen, und die Irminsul, Hirminsul oder Ermensul im Waldgebirge Osning bei Detmold. Ein heiliger Hain und ein heiliges Gehege umgab dieses 'berühmte Idol', und reiche Gold- und Silberschätze waren dabei niedergelegt. Es war ein hoher Baumstumpf, unter freiem Himmel errichtet. Karl der Große begab sich nach der Eroberung von Eresburg zu diesem Heiligtum und zerstörte es. Der Name Irm, Irmin wird durch got. airman, ahd. irmin, ags. eormen, irmen erklärt, welches als verstärkender Vorsatz in der Bedeutung allgemein verwandt wird; Irmingod ist der allgemeine Gott, der Gott des ganzen Volkes. Mannhardt, Götter.[16]

Die Irminsul als völkisches und neuheidnisches Symbol

Irminsul als Emblem der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe

1929 hatte Wilhelm Teudt in seinem Buch Germanische Heiligtümer die These aufgestellt, das Kreuzabnahmerelief an den Externsteinen zeige mit dem gebogenen Gegenstand, auf dem die Figur eines Mannes steht, die – zum Zeichen für den Sieg des Christentums gebeugte – Kultsäule der Sachsen.[17] Dass Teudt für seine These keinen positiven Beweis antreten konnte, hinderte das erneute Populärwerden des alten Symbols im Volke nicht. Von der Fachwissenschaft wird seine Interpretation nicht geteilt. Teudt selber gründete in Detmold die Vereinigung der Freunde germanischer Vorgeschichte, welche eine – wieder aufgerichtete – „Irminsul“ als Abzeichen führte.

Dem Zug der Zeit folgend wurde die Irminsul auch von anderen Gruppen wie der Nordischen Glaubensgemeinschaft und der Nordisch-Religiösen Arbeitsgemeinschaft verwendet. Die Irminsul spielte eine bedeutende Rolle als Symbol neuheidnischer Gruppen innerhalb und außerhalb des Nationalsozialismus.

Als 1936 die Vereinigung Teudts in die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe übernommen wurde, bemächtigte man sich dort auch des Emblems der Gemeinschaft. Im Vordergrund stand dort die Vorstellung, mit der Irminsul ein Gegensymbol zum christlichen Kreuz und einen sinnfälligen Ausdruck für die Idee des Ahnenerbes zu haben.

Siehe auch

Literatur

  • Heinrich Meibom: Irminsula Saxonica, hoc est ejus Nominis Idoli, sive Numinis tutelaris, apud antiquissimos Saxones paganos culti,... Helmstädt. 1612.
  • Richard Karutz: Aber von dem Baum der Erkenntnis... Sinn und Bild der Paradiesesbäume. Orient-Occident-Verlag. Stuttgart [u.a.] 1930.
  • Harald Schweizer (Hg.): ...Bäume braucht man doch. Das Symbol des Baumes zwischen Hoffnung und Zerstörung. Thorbecke Verlag. Sigmaringen 1984.
  • Johannes Bödger: Marsberg Eresburg und Irminsul. Druckerei Joh. Schulte. Marsberg 1990. ISBN 3-9802152-4-5
  • Uta Halle: Die Externsteine sind bis auf weiteres germanisch! Prähistorische Archäologie im Dritten Reich. Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe Bd. 68. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2002.
  • Rolf Speckner und Christian Stamm: Das Geheimnis der Externsteine. Bilder einer Mysterienstätte. Urachhaus. Stuttgart 2002. ISBN 3-8251-7402-6.

Einzelnachweise

  1. F. R. Schröder: Ingunar-Freyr, S. 1–15, Tübingen 1941
  2. F. R. Schröder: Quellenbuch zur germanischen Religionsgeschichte. Berlin/Leipzig 1933, § 63, S. 103
  3. s. a. Manfred Lurker: Symbol, Mythos und Legende in der Kunst, Baden-Baden 1984, S. 41 sowie Rolf Speckner/Christian Stamm: Das Geheimnis der Externsteine, Stuttgart 2002, S. 133–136
  4. Johannes Letzner. Corbeische Chronik. Hamburg 1590
  5. Walther Matthes. Corvey und die Externsteine. Schicksal eines vorchristlichen Heiligtums in karolingischer Zeit. Stuttgart 1982. S.13 ISBN 3-87838-369-X
  6. Candidus Bruun. Übersetzt 1827 von Isidor Schleichert. Zitiert nach: Josef Schalkenbach. Die Michaelskirche zu Fulda. Fulda 2. Auflage. 1950. Sprachlich geglättet von R.Speckner
  7. Augustinus. Retractationes I,12,§ 3.
  8. Auszug aus Venantius Fortunatus: pange, lingua, gloriosi.... Übersetzt von Karl Langosch. Zit. nach Walther Matthes / Rolf Speckner: Das Relief an den Externsteinen. Ostfildern. 1997. S.164. Für das Gedicht des Venantius Fortunatus siehe auch: Karl Langosch. Profile des lateinischen Mittelalters. Darmstadt 1965. S.67 f.
  9. Trina domus justo est: Gesänge christlicher Vorzeit. Auswahl des Vorzüglichsten, aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt von C.Fortlage. Berlin 1844. S.263.
  10. Paris. Bibl.Nationale, Ms.Lat.9428, entstanden in Metz ca. 850-55. Florentine Mütherich und Joachim E. Gaehde. Karolingische Buchmalerei. München 1976. S.92.
  11. Wolfram von den Steinen. Homo Caelestis. Das Wort der Kunst im Mittelalter. Textband. Bern und München 1964.Nr.206 und S.166.
  12. Paris. Bibl. Nationale, Lat. 1141. Aus der Hofschule Karls des Kahlen.
  13. Köln. Museum Schnütgen. Nr. B 98. Wolfram von den Steinen. Homo caelestis. Das Wort der Kunst im Mittelalter. Textband. Bern und München 1964. S.259
  14. Sebastian Münster. Cosmographey. Kap. Von dem Teutschen Landt, darin Abschnitt CCCCVVVI Wie die Sachsen des Glaubens halb bestritten sind worden/durch die König von Franckreich. Ca.1590 S.dccccxciii
  15. Güldener Denck-Ring Göttlicher Allmacht und menschlicher Thaten von 1731, Elfter Teil, 6. Jahrhundert, aus dem Jahre 504 n.d.Ztw.
  16. Dr.Ernst Götzinger. Reallexikon der deutschen Altertümer. Ein Hand= und Nachschlagebuch für studierende und Laien. Leipzig 1881. S.325-6 Art. Irmin.
  17. Wilhelm Teudt: Germanische Heiligtümer. Beiträge zur Aufdeckung der Vorgeschichte, ausgehend von den Externsteinen, den Lippequellen und der Teutoburg. 1. Auflage. Eugen Diederichs Verlag, Jena 1929, S. 27-28.

Weblinks


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