- Iustitium
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Justizium oder Justitium bedeutet nach heutiger Auffassung den Stillstand der Rechtspflege aufgrund von Krieg oder höherer Gewalt. Der Begriff geht auf das römische Rechtsinstitut des iustitium zurück. Das Wort selbst ist ein Kompositum aus lateinisch ius (Recht) und stitium (Stillstand). Die Schreibweise Justizium wegen Justiz seit der Rechtschreibreform 1999 wird daher kritisiert (Argument: Solstitium bleibt).
Im Königreich Sachsen war bis 1855 die Bezeichnung Justizium für einen Amtsbezirk üblich, da die untere Justiz- und die allgemeine Verwaltung einschließlich der kirchlichen Angelegenheiten noch nicht getrennt waren.
Inhaltsverzeichnis
Geschichtlicher Bedeutungswandel
Während die in Deutschland und Österreich gültigen Rechtsordnungen einen Stillstand der Rechtspflege bloß als denkmöglich in Betracht ziehen und an ihn bestimmte Rechtsfolgen knüpfen, bestand im Römischen Reich der republikanischen Zeit bei äußerer oder innerer Gefahr die Möglichkeit des zeitlich befristeten, formalisierten Ausnahmezustandes, der zur Einstellung der Tätigkeit von Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsorganen führte[1]. Der Römische Senat bediente sich des iustitiums auch als Mittel der machtpolitischen Auseinandersetzung. Der Versuch, einen unliebsamen Gesetzesantrag des Volkstribuns Publius Sulpicius Rufus auf diese Weise zu verhindern, blieb jedoch erfolglos.
In der römischen Kaiserzeit bedeutete iustitium edicere lediglich die Ausrufung der Staatstrauer, wenn ein Mitglied der kaiserlichen Familie gestorben war. Es durften ab dem Senatus Consultum bis einschließlich dem Tage des Begräbnisses weder Gericht gehalten noch Finanzgeschäfte abgewickelt noch Hochzeiten oder Verlobungen gefeiert werden. Auch Spiele sollten an diesem Tag nicht stattfinden und die Tempel geschlossen werden. Je mehr Mitglieder des Kaiserhauses starben, desto präsenter wurde die Dynastie paradoxerweise im öffentlichen Leben der Hauptstadt. Die Präsenz war so ausgedehnt, dass sich manche Ehrungen, wie etwa das iustitium am wiederkehrenden Jahrestag des Todes, zusehends als undurchführbar erwiesen.
Beim Tode des sehr beliebten, als Nachfolger des Kaisers Tiberius bestimmten Germanicus führt das Volk ohne amtliche Anordnung ein iustitium herbei [2], das erst zwei Monate nach dem Todestag vom Senat für Rom selbst und alle Städte römischen oder latinischen Rechtes beschlossen wurde [3].
Rechtsvorschriften
Deutschland
Ein Stillstand der Rechtspflege an einem Zivilgericht infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses unterbricht für die Dauer dieses Zustandes das Gerichtsverfahren (§ 245 ZPO). Das bedeutet, dass alle gerichtlichen Fristen und anberaumte Verhandlungs- oder Verkündungstermine ohne Nachteil für eine Verfahrenspartei verstreichen können. Erst bei Wiederaufnahme der Rechtspflege beginnt die volle Frist von neuem zu laufen (§ 249 ZPO). Die Tatsache eines Stillstandes der Rechtspflege entfaltet jedoch erst dann rechtliche Wirkung, wenn sich eine Verfahrenspartei bei seinen Prozesshandlungen darauf beruft und das zuständige oder im Instanzenzug übergeordnete Gericht dies rechtlich würdigt.
Die Rechtspflege steht nicht erst dann „still“, wenn alle Gerichte ihre Tore schließen, wie es bei Kriegsende nach dem Einmarsch alliierter Truppen bis zur schrittweisen Wiedereröffnung zunächst der Amts- und Landesgerichte im Mai 1945 der Fall war[4]. Vielmehr ist jeder Zustand gemeint, in dem die Justiz nicht mehr ordnungsgemäß arbeiten kann, wie einige Amtsgerichte während des Elbehochwassers 2002[5]. In Breslau wurden am 21. März 1933 aus dem Land- und Amtsgericht jüdische Richter, Staatsanwälte und Verteidiger aus den laufenden Verhandlungen gewaltsam entfernt. Solche Aktionen fanden auch an zahlreichen anderen Gerichten statt[6]. Viele bei diesen Gerichten anhängige Verfahren konnten lange Zeit nicht fortgeführt werden, da die betroffenen Juristen in Schutzhaft genommen und schließlich aus ihren Ämtern entfernt wurden.
Außerdem kannte das BGB vor dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes (SMG) im alten § 203 Abs. 1 eine Hemmung der Verjährung durch Stillstand der Rechtspflege. Bei der Reform wurde diese Regelung - laut Motivenbericht [7] - aus sprachlichen Gründen mit dem 2. Absatz im § 206 BGB verbunden, da sich der Stillstand der Rechtspflege „zwanglos als Unterfall der höheren Gewalt auffassen“ lässt. Demnach ist die Verjährung gehemmt, solange der Gläubiger (sonstige Berechtigte) innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist durch höhere Gewalt an der Rechtsverfolgung gehindert ist.
Österreich
Durch einen gänzlichen Stillstand der Rechtspflege, etwa bei höherer Gewalt oder in Kriegszeiten, wird sowohl der Anfang als auch auf Dauer des Hindernisses die Fortsetzung der Ersitzung oder Verjährung gehemmt. Gleiches gilt, wenn die Person wegen Zivil- oder Kriegsdienst abwesend ist. (§ 1496 ABGB)
Die Österreichische Zivilprozessordnung verwendet anstelle von „Stillstand der Rechtspflege“ den gleichbedeutenden Terminus „Einstellung der Amtstätigkeit des Gerichtes“ (§ 161 ZPO). Demnach wird das Verfahren in allen bei einem Zivilgericht anhängigen Rechtssachen für die Dauer des Zustandes unterbrochen, in dem die Tätigkeit des Gerichtes infolge eines Krieges oder anderen Ereignisses aufgehört hat. Nach Wegfall des Hindernisses kann jede der beiden Parteien die Aufnahme des Verfahrens erwirken.
Eine weitere Bestimmung stellt auf die Verhinderung einer Partei wegen Militärdienst in Kriegszeiten oder sonstigen Gründen ab, mit dem Gericht zu verkehren, bei dem die Rechtssache anhängig ist. Besteht zugleich die Besorgnis, dass diese Umstände die Prozessführung zu Ungunsten der abwesenden Partei beeinflussen können, kann auf Antrag oder von amtswegen die Unterbrechung des Verfahrens bis zur Beseitigung des Hindernisses angeordnet werden (§ 162 ZPO Zufällige Verhinderung einer Partei).
Judikatur der Höchstgerichte
Deutschland
Beschluss des BVerfG
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass bei der Berufung ehemaliger DDR-Richter in den Richterdienst der neuen Bundesländer … die amtierenden Richter vorläufig zur Ausübung der Rechtsprechung ermächtigt blieben, um einen Stillstand der Rechtspflege zu vermeiden, [8]...
Urteil des BSG
„Höhere Gewalt“ im Sinne des § 203 BGB (alte Fassung bis 31. Dezember 2001), deren Unterfall der "Stillstand der Rechtspflege" sei, könne nur angenommen werden, wenn der Anspruchsteller darlege und gegebenenfalls beweise, dass es auch am geringsten Verschulden auf seiner Seite fehle[9].
Urteil des BAG
Höhere Gewalt in diesem Sinne ist ein außergewöhnliches Ereignis, dessen Eintritt nicht vorauszusehen und auch bei äußerster Sorgfalt nicht mit üblichen Mitteln abzuwenden ist; schon das geringste Verschulden schließt höhere Gewalt aus. Danach können auch durch Gesetzgebung oder Verwaltung veranlaßte objektive Zahlungshindernisse zu einer Fristhemmung führen. Dies wurde von der Rechtsprechung z.B. für eine Vermögenssperre nach dem Militärregierungsgesetz Nr. 52 (vgl. BGHZ 10, 310) und hinsichtlich der Schließung Berliner Banken im April 1945 (vgl. BGH BB 1955, 880) bejaht[10].
Österreich
Erkenntnisse des OGH
Unter Stillstand der Rechtspflege ist etwa eine Verhinderung des zuständigen Gerichtes an der Ausübung seiner Tätigkeit oder die Unmöglichkeit des Verkehrs mit dem zuständigen Gericht zu verstehen. Die Einrichtung eines Journaldienstes kann aber in der Wirkung einem gänzlichen Stillstand der Rechtspflege nicht gleichgestellt werden [11].
Auch infolge des Krieges eingetretener Stillstand der Rechtspflege kann nur im Rahmen des FristenG[12] berücksichtigt werden[13].
Erkenntnis des VwGH
Von einem gänzlichen Stillstand der Rechtspflege iSd § 1496 ABGB kann nicht die Rede sein, wenn es dem Fiskus und seinem Rechtsvorgänger - objektiv gesehen - unbenommen geblieben wäre, die Eigentumsklage zu erheben, und er es somit in der Hand gehabt hätte, die Ersitzung des Ersitzungsbesitzers bzw seines Rechtsvorgängers zu unterbrechen [14].
Quellen
- ↑ W. Kunkel, 225-228
- ↑ Tacitus (ann. 2,82)
- ↑ Andreas Hartmann, Germanicus und Lady Di: zur öffentlichen Verarbeitung zweier Todesfälle, S 31
- ↑ Gesetzliches Unrecht vor Gericht
- ↑ Beispielsweise das Elbehochwasser in Pirna
- ↑ Thora und Antisemitismus (9 Antisemitismus im 3. Reich)
- ↑ zu § 206 BGB Neufassung - Begründung des Entwurfs
- ↑ BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 1998 - 2 BvR 2555/ 96 (Lexetius.com/1998,669 (2002/4/15189)
- ↑ BSG, Urteil vom 11. Mai 2000 - B 13 RJ 85/ 98 R (Lexetius.com/2000,1244 (000/10/980)
- ↑ BAG, Urteil vom 7. November 2002 - 2 AZR 297/ 01 (Lexetius.com/2002,3302 (2003/6/201))
- ↑ OGH Erkenntnis 1976/02/04 Geschäftszahl 8Ob13/76
- ↑ Bundesgesetz vom 2. Juli 1947 über die Zulässigkeit der gerichtlichen Geltendmachung verjährter Rechte. (BGBl. Nr. 193/1947)
- ↑ OGH Erkenntnis 1954/05/19 Geschäftszahl 3Ob220/54
- ↑ VwGH Erkenntnis 24. April 1990 Geschäftszahl 86/07/0241
Literatur
- Adolf Nissen, Das Iustitium: eine Studie aus der Römischen Rechtsgeschichte, Leipzig 1877
- W. Kunkel, Staatsordnung und Staatspraxis in der römischen Republik, München 1995. ISBN 3-406-33827-5
Weblinks
Deutsches Recht
- § 203 BGB a.F., gültig bis 31. Dezember 2001
Österreichisches Recht
- RIS - Judikaturdokumentation der Justiz
- RIS - Judikaturdokumentation des Verwaltungsgerichtshofes
- RIS - Bundesgesetzblätter von 1945 bis 2003
Online Publikationen
- Hintergründe der Rechtschreibreform (PDF 2 MB)
- Zur Verwaltungsgliederung Sachsens im 19. und 20. Jahrhundert (PDF 9 MB)
- Ein Anonymus der frühen Kaiserzeit Zu Lucan. 9,167-185 und Tac. ann. 3,1-2 (PDF 136 KB)
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