- Juden in der Schweiz
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In der Schweiz leben heute etwa 18.000 Juden, das entspricht etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung (Stand 2007), fast die Hälfte lebt im Grossraum Zürich, circa 80 Prozent dieser Juden und Jüdinnen sind Schweizer Staatsbürger. In der Alten Eidgenossenschaft lebten die Juden seit dem frühen 17. Jahrhundert in der Gemeinen Herrschaft Baden unter einem „teuren“ Sonderstatut, letztmals beschlossen von der Tagsatzung 1776. Der Wohnsitz der Juden war auf die beiden Dörfer Endingen und Lengnau beschränkt. Die Helvetik trieb zwar die Idee der Emanzipation voran, setzte sie aber nicht durch.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Vereinzelte archäologische Funde (Fingerring mit Menora[1]) aus dem 4. Jahrhundert, die in Augusta Raurica gemacht wurden, könnten darauf hindeuten, dass erste Juden mit den Römern in das Gebiet der heutigen Schweiz kamen. Die spärlichen Funde beantworten jedoch nicht die Frage, ob es sich bei dem Ring um den verlorenen Besitz eines durchreisenden jüdischen Händlers oder um ein Souvenir eines Römers handelte oder ob es in Augusta Raurica ansässige jüdische Familien oder gar eine Kultusgemeinde gab.[2] Zwar wurden Juden auch in der nach 500 redigierten Lex Burgundionum erwähnt, eine jüdische Siedlertätigkeit ist jedoch erst seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts in Genf bekundet.
Im Jahre 1213 ist auch die Anwesenheit von Juden in Basel bezeugt, als der dortige Bischof die Rückgabe eines Pfandes anordnete, das er bei einem jüdischen Geldverleiher hinterlegt hatte. Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurden jüdische Gemeinden in Luzern (1252), Bern (1262), St. Gallen (1268), Winterthur (vor 1270), Zürich (1273), Schaffhausen (1278), Zofingen und Bischofszell (1288), Rheinfelden (1290), Genf (1281), Montreux und Lausanne gegründet; die bedeutendsten befanden sich in Bern, Zürich und Luzern.[3] In dieser Zeit waren sie zunehmenden Verfolgungen, oft nach dem Muster der Ritualmordlegende, ausgesetzt. So wurde 1294 in Bern unter dem Vorwand, Juden hätten einen Knaben ermordet, ein Teil der jüdischen Bevölkerung gerädert und der überlebende Rest aus der Stadt vertrieben. Der Knabe wurde später unter dem Namen Rudolf von Bern als Märtyrer verehrt.
Als 1348 in ganz Europa Pestepidemien ausbrachen, wurden die Juden beschuldigt, sie hätten Brunnen vergiftet und vielerorts auf dem Scheiterhaufen verbrannt, u.a. in Bern, Solothurn, Basel und Zürich. Die überlebende jüdische Bevölkerung wurde des Landes verwiesen, und so gab es in der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert fast keine Juden.
Eine Ausnahme waren die beiden aargauischen Dörfer Endingen und Lengnau, wo Juden seit dem 17. Jahrhundert als fremde Schutzgenossen Wohnsitz nehmen durften und wo deshalb mit 553 Personen Ende des 18. Jahrhunderts fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Schweiz lebte. Die meisten Kenntnisse über das Schweizer Judentum der damaligen Zeit verdanken wir dem reformierten Zürcher Pfarrer Johann Caspar Ulrich und seiner 1768 in Basel herausgegebenen Sammlung Jüdischer Geschichten, welche sich mit diesem Volk in dem XIII. und folgenden Jahrhunderten bis auf MDCCLX. in der Schweiz von Zeit zu Zeit zugetragen.
Die Französische Revolution, der Einmarsch der Franzosen im Jahre 1798 und die Helvetik leiteten für die Schweizer Juden die Wende zur Emanzipation ein. In der Bundesverfassung von 1848 wurden die Juden aber immer noch diskriminiert, denn die Niederlassungs- und Kultusfreiheit sowie Gleichheit im Gerichtsverfahren galt darin nur für christliche Schweizer.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Situation der Schweizer Juden zunehmend paradox, da sich insbesondere die Regierung Frankreichs für die Wahrnehmung der Rechte ihrer jüdischen Mitbürger einsetzte, die in der Schweiz noch zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Erst mit der Teilrevision der Bundesverfassung von 1866 wurde den Juden in der Schweiz die Niederlassungsfreiheit und die volle Ausübung der Bürgerrechte gewährt. Diese Gleichberechtigung trat in sämtlichen Kantonen in Kraft, mit Ausnahme des Kantons Aargau, wo sie erst am 1. Januar 1879 angenommen wurde. Breite Kreise in der Schweiz blieben antijüdisch gesinnt, was sich zum Beispiel 1893 in der Annahme einer Volksinitiative für ein Verbot des Schächtens zeigte. 1894 begann im Nachbarstaat Frankreich die Dreyfus-Affäre, die Theodor Herzl zu seinem 1896 veröffentlichten Buch Der Judenstaat bewegte, in dem er einen eigenen Staat für die Juden forderte und den Zionismus begründete. Unter Herzl fand dann bereits 1897 in Basel der erste Zionistische Weltkongress statt.
In einem Gerichtsprozess, der zwischen 1933 und 1935 in Bern stattfand, wurden die antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion zur Schundliteratur erklärt und deren Herausgeber zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Urteil vom Mai 1935 wurde jedoch im November 1937 aus formaljuristischen Gründen kassiert. Als Gerichtssachverständiger war am damaligen Prozess Carl Albert Loosli beteiligt, der den Antisemitismus bereits 1927 in der Schrift Die schlimmen Juden! bekämpft hatte.
Im Zweiten Weltkrieg wurden an den Schweizer Grenzen mindestens 30'000 Personen abgewiesen, darunter auch viele Juden. Auf Veranlassung der Schweiz wurden im nationalsozialistischen Deutschland ab 1939 die Pässe von Juden mit einem "J"-Stempel markiert.
Heute konzentriert sich die jüdische Bevölkerung auf die Städte, wo es sowohl orthodoxe, konservative als auch liberale Gemeinden gibt. Die politische Organisation der Schweizer Juden ist der 1904 gegründete Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG).
Orte mit jüdischen Gemeinden
- Baden
- Basel
- Israelitische Gemeinde Basel
- Israelitische Religionsgesellschaft Basel
- Bern
- Biel/Bienne
- Bremgarten
- La Chaux-de-Fonds
- Endingen
- Freiburg
- Genf
- Communauté Israélite Genève
- Communauté Israélite Libérale Genève
- Kreuzlingen
- Langenthal
- Lausanne
- Lugano
- Luzern
- St. Gallen
- Solothurn
- Vevey und Montreux
- Winterthur
- Zürich
- Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ)
- Israelitische Religionsgesellschaft Zürich (IRGZ)
- Jüdische Gemeinde Agudas Achim Zürich
- Jüdische Liberale Gemeinde Or Chadasch Zürich
Die Gemeinden von Pruntrut, Yverdon, Avenches, Davos und Delsberg haben sich infolge Mitgliedermangels aufgelöst.
Synagogen
Friedhöfe
Prominente Schweizer Juden
- Camille Bloch (1891–1970), Schokoladenfabrikant
- Ernest Bloch (1880–1959), Komponist
- Felix Bloch (1905–1983), Physiker und Nobelpreisträger
- Rosa Bloch-Bollag (1880–1922), Vorkämpferin der Arbeiterbewegung
- Max G. Bollag (1913–2005), Kunsthändler und Original
- Albert Cohen (1895–1981), Schriftsteller
- Arthur Cohn, Filmproduzent
- Ruth Dreifuss, erste Bundespräsidentin
- Albert Einstein, Physiker mit Schweizer Pass
- David Farbstein (1868–1953), erster jüdischer Nationalrat
- Sigi Feigel (1921–2004), Rechtsanwalt und Kämpfer gegen den Rassismus
- Konrad Feilchenfeldt, Literaturwissenschaftler
- Victor Fenigstein, Komponist und Klavierpädagoge
- Edmond Fleg (1874–1963), französischer Schriftsteller schweizerischer Herkunft
- Kurt Guggenheim (1896–1983), Schriftsteller
- Willy Guggenheim, genannt Varlin (1900–1977), Maler
- Jeanne Hersch (1910–2000), Philosophin
- Kurt Hirschfeld (1902-1964), Regisseur und Dramaturg
- André Kaminski (1923–1991), Schriftsteller
- Dani Levy, Schauspieler und Regisseur
- Ernst Levy (1895–1981), Komponist
- Ralph Lewin, Regierungsrat im Kanton Basel-Stadt
- Charles Lewinsky, Schriftsteller, Autor u. a. der schweizerisch-jüdischen Familiensaga Melnitz und des Films Ein ganz gewöhnlicher Jude
- Rolf Liebermann (1910–1999), Komponist
- Leopold Lindtberg (1902-1984), Regisseur
- François Loeb, Unternehmer (Loeb) und Nationalrat
- Ernest und Henro Maus, "Maus-Frères", Unternehmer
- Léon Nordmann, Unternehmer
- Edith Oppenheim-Jonas (1907-2001), Kinderbuchautorin (Papa Moll) und Künstlerin
- Tadeus Reichstein (1897–1996), Chemiker und Nobelpreisträger
- Alfred Stern (1846–1936), Historiker an der ETH Zürich
- Fritz Strich (1882–1963), Literaturwissenschaftler
- Leopold Szondi (1893-1986), Psychiater, Begründer der "Schicksalsanalyse"
- Anatole Taubman (*1971), Schweizer Schauspieler
- Lazar Wechsler (1896-1981), Filmproduzent
- Jossi Wieler, Theaterregisseur
- Bea Wyler, erste Rabbinerin Deutschlands der Nachkriegszeit
- Veit Wyler (1908-2002) Rechtsanwalt und zionistischer Politiker
- Ralph Zloczower (1933), Zentralpräsident des Schweizerischen Fussballverbands
Schweizerische "Gerechte unter den Völkern"
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bezeichnung Gerechter unter den Völkern verwendet, um nichtjüdische Personen zu bezeichnen, die ihr Leben dafür einsetzten, um Juden vor dem Holocaust zu retten. In der Schweiz gehörten u.a folgende Personen zu diesen "Gerechten":
Siehe auch: Gerechter unter den Völkern#Schweizer Träger der Ehrung (Auswahl)
Bevölkerungsentwicklung 1860–2000
Nach den seit 1860 durchgeführten Volkszählungen hat sich die Anzahl der Personen, die sich zum jüdischen Glauben bekannten (1860 und 1870 wurden "Israeliten und andere Nichtchristen" gezählt und 1870 und 1880 nur die ortsanwesende Bevölkerung), im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wie folgt entwickelt:
Jahr Personen % 1850 3 145 0,1 1860 4 216 0,2 1870 6 996 0,3 1880 7 373 0,3 1888 8 069 0,3 1900 12 264 0,4 1910 18 462 0,5 1920 20 979 0,5 1930 17 973 0,4 1941 19 429 0,4 1950 19 048 0,4 1960 19 984 0,4 1970 20 744 0,3 1980 18 330 0,3 1990 17 577 0,2 2000 17 914 0,2 Literatur
- Ludwig Berger: Der Menora-Ring von Kaiseraugst. Jüdische Zeugnisse römischer Zeit zwischen Britannien und Pannonien. Verlag Römermuseum Augst, Augst 2005, ISBN 978-3-7151-0036-4.
- Augusta Weldler-Steinberg: Geschichte der Juden in der Schweiz vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation. Bearbeitet und ergänzt von Florence Guggenheim-Grünberg, zwei Bände, Zürich 1966 und 1970.
- Robert Uri Kaufmann (Hrsg.): Bibliographie zur Geschichte der Juden in der Schweiz. München 1993
- Claude Kupfer / Ralph Weingarten: Zwischen Ausgrenzung und Integration. Geschichte und Gegenwart der Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Zürich 1999.
- Heinz-Peter Katlewski: Juden im Aufbruch. Von der neuen Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Berlin 2002, ISBN 978-3-934658-38-7.
- Anna Rapp Buri: Jüdisches Kulturgut in und aus Endingen und Lengau. verlag regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2008, ISBN 978-3-89735-493-7.
- Ron Epstein-Mil, Die Synagogen der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, Fotografien von Michael Richter. Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Band 13. Schriftenreihe des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Chronos-Verlag, Zürich 2008
Filme
- Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel, Regie Franz Rickenbach, Kamera Pio Corradi, Produktion CH 1999, Dauer 139 Min.
- Matchmaker – Auf der Suche nach dem koscheren Mann, Regie Gabrielle Antosiewicz, Kamera Michael Spindler, Produktion CH 2005, Dauer 70 Min.
Siehe auch
- Tachles (schweizerisch-jüdische Wochenzeitung)
- Aufbau (schweizerisch-jüdische Monatszeitung)
- Jüdisches Museum der Schweiz
Einzelnachweise
- ↑ Fingerring mit Menora
- ↑ «Ein Fingerring erhellt die Jüdische Geschichte – Der Menora-Ring aus Kaiseraugst.» Augusta Raurica 05/2
- ↑ Encyclopedia Judaica, Band 15, S. 554
Weblinks
- Artikel Judentum im Historischen Lexikon der Schweiz
- Artikel Ausnahmeartikel im Historischen Lexikon der Schweiz
- Artikel Schächtverbot im Historischen Lexikon der Schweiz
- Artikel Jiddisch im Historischen Lexikon der Schweiz
- Artikel Hebräisch im Historischen Lexikon der Schweiz
- Artikel Switzerland in der Jewish Encyclopedia (englisch)
- Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum
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