Kalte dunkle Materie

Kalte dunkle Materie

Dunkle Materie bezeichnet in der physikalischen Kosmologie eine hypothetische Form von Materie, die zu wenig sichtbares Licht oder andere elektromagnetische Strahlung aussendet oder reflektiert, um direkt beobachtbar zu sein. Diese Eigenschaft teilt die Dunkle Materie mit der Dunklen Energie. Dunkle Materie macht sich durch gravitative Wechselwirkung mit sichtbarer Materie bemerkbar. Ihre Existenz würde das Problem der Dunklen Materie lösen, das sich unter anderem in zu schnellen Umlaufgeschwindigkeiten der Randbereiche von Galaxien äußert.

Dunkle Materie: Die Diskrepanz zwischen der gemessenen und der zu erwartenden Umlaufgeschwindigkeit der Sterne in unserer Galaxie lässt sich im Rahmen der bekannten Gravitationsgesetze nur mit der Annahme einer zusätzlichen, nicht sichtbaren „Dunklen Materie“ erklären.

Inhaltsverzeichnis

Existenz und Bedeutung

Nach dem Dritten Kepler'schen Gesetz und den Gravitationsgesetzen müsste die Rotationsgeschwindigkeit der äußeren Bereiche von Galaxien abnehmen. Sie bleibt jedoch konstant oder steigt sogar an. Dies legt die Vermutung nahe, dass es in der Galaxie Masse gibt, die nicht in Form von Sternen, Staub oder Gas sichtbar ist, eben Dunkle Materie.[1]

Ihre Existenz gilt bisher nicht als nachgewiesen, wird aber neben der Galaxienrotation noch durch eine Vielzahl von astronomischen Beobachtungen, wie der Dynamik von Galaxienhaufen und des Gravitationslinseneffekts, nahegelegt, die unter Zugrundelegung der anerkannten Gravitationsgesetze durch die sichtbare Materie allein nicht erklärbar sind. Dunkler Materie wird eine wichtige Rolle bei der Strukturbildung im Universum und bei der Galaxienbildung zugeschrieben. Messungen im Rahmen des Standardmodells der Kosmologie legen einen vier- bis fünffach so hohen Anteil der Dunklen Materie an der Gesamtmasse im Universum gegenüber der gewöhnlichen (sichtbaren) Materie nahe.

In der Teilchenphysik werden eine Reihe verschiedener Kandidaten für die Konstituenten der Dunklen Materie diskutiert. Ein direkter Nachweis im Labor ist bislang nicht geglückt, so dass die Zusammensetzung der Dunklen Materie als unbekannt gelten muss.

Beobachtungen, die die Existenz von Dunkler Materie nahelegen

Der niederländische Astronom Jan Hendrik Oort fand 1932 heraus, dass die Dicke der Scheibe der Milchstraße kleiner ist, als er aus der vorhandenen Masse und deren Schwerkraftwirkung erklären konnte.[2]

Ungefähr zeitgleich beobachtete Fritz Zwicky 1933, dass der Coma-Haufen (ein Galaxienhaufen, bestehend aus über 1000 Einzelgalaxien, mit großer Streuung der Einzelgeschwindigkeiten und einer mittleren Entfernungsgeschwindigkeit von 7.500 km/s) nicht durch die Gravitationswirkung seiner sichtbaren Bestandteile (im Wesentlichen der Sterne der Galaxien) allein zusammengehalten wird. Er stellte fest, dass das 400-fache der sichtbaren Masse notwendig ist, um den Haufen gravitativ zusammenzuhalten. Seine Hypothese, dass diese fehlende Masse in Form von Dunkler Materie vorliege, stieß in der Fachwelt auf breite Ablehnung.

Die Analyse der Umlaufgeschwindigkeiten von Sternen in Spiralgalaxien durch Vera Rubin seit 1960 zeigte erneut die Problematik auf: Die Umlaufgeschwindigkeit der Sterne müsste mit zunehmendem Abstand zum Galaxiezentrum viel niedriger sein, als sie tatsächlich ist. Seitdem wurde die Dunkle Materie ernstgenommen und aufgrund detaillierter Beobachtungen in fast allen großen astronomischen Systemen vermutet.

Mit der Durchführung von großräumigen Durchmusterungen von Galaxienhaufen und Galaxiensuperhaufen wurde zusätzlich deutlich, dass diese Konzentration an Materie nicht allein durch die sichtbare Materie bewerkstelligt werden konnte. Von der sichtbaren Materie ist einfach zu wenig vorhanden, um durch Gravitation die Dichtekontraste zu erzeugen.

Somit gibt es übereinstimmende Indizien auf drei verschiedenen Größenskalen, die die Existenz der Dunklen Materie nahelegen (Galaxiensuperhaufen, Galaxienhaufen und Galaxien). Der Bereich dazwischen, insbesondere die kosmische Nachbarschaft der Milchstraße, wurde bisher jedoch erst wenig auf Dunkle Materie untersucht. Diese Lokale Gruppe, beziehungsweise die nächstgrößere Einheit, ein Gebiet mit einem Radius von 30 Millionen Lichtjahren, driftet mit einer Geschwindigkeit von 600 km/s durch den Raum, weil sie u. a. vom Virgo-Haufen angezogen wird. Im Gegensatz dazu sind die Relativbewegungen der einzelnen Sternsysteme zueinander erstaunlich gering (im Mittel nur 75 km/s). Herkömmlichen Berechnungen zufolge müsste diese Relativgeschwindigkeit jedoch etwa 500 km/s betragen. Eine Erklärung dafür könnten ausgedehnte Ansammlungen Dunkler Materie sein, die die Gravitationskräfte abschwächen. Dagegen spricht jedoch, dass sich auch Dunkle Materie zusammenballen müsste und es daher keine großräumigen Vorkommen mehr geben dürfte. Daher gehen andere Wissenschaftler davon aus, dass die Abschwächung der Relativbewegung von entgegengerichteten Gravitationskräften verschiedener Galaxienhaufen kommt. Sie betrachten sie also nicht als einen Beweis für die Existenz Dunkler Materie.

Das Standardmodell der Kosmologie, das Lambda-CDM-Modell ergibt in der Zusammenfassung verschiedener Ergebnisse der beobachtenden Kosmologie folgende Zusammensetzung des Universums: Etwa 73 Prozent Dunkler Energie, 23 Prozent Dunkler Materie, rund 4 Prozent „gewöhnlicher Materie“ (z. B. Atome) und 0,3 Prozent Neutrinos. Die „gewöhnliche Materie“ unterteilt sich dabei in selbstleuchtende (wie Sonnen) und nicht selbstleuchtende Komponenten (wie Planeten). Der Anteil der selbstleuchtenden Komponenten nimmt dabei nur etwa 1/10 der „gewöhnlichen Materie“ ein.

Vergleichende Beobachtungen des Gravitationslinseneffekts, der Galaxienverteilung und der Röntgenemission im Bullet-Cluster im Jahr 2006 stellen den bislang stärksten Hinweis auf die Existenz Dunkler Materie dar.[3]

Mögliche Formen von Dunkler Materie

Baryonische Dunkle Materie

Da heißes Gas immer Strahlung emittiert, bleibt als erste Möglichkeit für Dunkle Materie nur kaltes Gas übrig. Gegen diese Hypothese spricht die Tatsache, dass sich kaltes Gas (unter bestimmten Umständen) durchaus erwärmen kann und selbst riesige Gasmengen nicht die benötigte Masse aufbringen könnten.

Eine ähnliche Lösung stellt die mögliche Existenz kalter Staubwolken dar, die auf Grund ihrer niedrigen Temperatur nicht strahlen und somit unsichtbar wären. Allerdings würden sie das Licht von Sternen reemittieren und somit im Infrarotbereich sichtbar sein. Außerdem wären so große Mengen an Staub nötig, dass sie die Entstehung der Sterne maßgeblich beeinflusst hätten.

Ernstzunehmende Kandidaten waren Braune Zwerge, die auch MACHOs (Massive Astrophysical Compact Halo Objects, dt. Massive astrophysische kompakte Halo-Objekte) genannt werden. Es handelt sich dabei um einen Typ von Himmelskörpern, in denen der Druck so gering ist, dass keine Kernfusionen stattfinden können und die somit unsichtbar sind. Steht ein MACHO allerdings genau vor einem Stern, so verstärkt er als Gravitationslinse dessen Strahlung. In der Tat wurde dies zwischen Erde und der Großen Magellanschen Wolke vereinzelt beobachtet. Man geht heute jedoch davon aus, dass MACHOs nur einen kleinen Teil der Dunklen Materie ausmachen.

Alle diese Möglichkeiten baryonischer Dunkler Materie stehen im Widerspruch zur Theorie der primordialen Nukleosynthese. Bei der Alternative nicht-baryonischer Dunkler Materie unterscheidet man die folgenden beiden Gruppen.

Heiße Dunkle Materie (HDM)

Neutrinos galten lange Zeit als naheliegende Kandidaten für heiße Dunkle Materie. Allerdings ist ihre maximale Masse nicht ausreichend, um das Phänomen zu erklären. Bestünde die Dunkle Materie aber zum Großteil aus schnellen leichten Teilchen, d. h. heißer Dunkler Materie, hätte dies für den Strukturierungsprozess im Universum ein Top-Down-Szenario zur Folge. Dichteschwankungen wären zuerst auf großen Skalen kollabiert, es hätten sich erst Galaxienhaufen, dann Galaxien, Sterne usw. gebildet. Beobachtungen lehren jedoch das Gegenteil. Die Altersbestimmungen von Galaxien haben ergeben, dass sie vorwiegend alt sind, während manche Galaxienhaufen sich gerade im Entstehungsprozess befinden. Ein Bottom-Up-Szenario, eine hierarchische Strukturentstehung, gilt als erwiesen. Daher kann heiße Dunkle Materie allenfalls einen kleinen Teil der gesamten Dunklen Materie ausmachen.

Kalte Dunkle Materie (CDM)

Diese Variante umfasst noch unbeobachtete Elementarteilchen, die nur der Gravitation und der schwachen Wechselwirkung unterliegen, die sogenannten WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles, dt. Schwach wechselwirkende massive Teilchen). WIMPs lassen sich mit einer hierarchischen Entstehung des Universums vereinbaren. Dabei ist derzeit ein Teilchen aus der Theorie der Supersymmetrie, das LSP (Lightest supersymmetric particle), im Gespräch. Je nach Masse des LSP wird es vielleicht möglich sein, es im neuen Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) des CERN, der im September 2008 in Betrieb genommen wurde, zu erzeugen und nachzuweisen.

Axionen

Hauptartikel: Axion

In der Physik bezeichnet Axion ein hypothetisches Elementarteilchen, auf dessen mögliche Existenz man durch das Problem der elektrischen Neutralität des Neutrons der Quantenchromodynamik gestoßen ist.

Alternative Erklärungsversuche der Beobachtungen

Alle obigen Erklärungsansätze nehmen implizit an, dass die Gravitation dem Newtonschen Gravitationsgesetz bzw. der allgemeinen Relativitätstheorie gehorcht. Von einer Minderheit von Astronomen wird die MOND-Hypothese (Modifizierte Newtonsche Dynamik) als Alternative zur Dunklen Materie vorgeschlagen. In ihr wird postuliert, dass die Äquivalenz von träger und schwerer Masse bei extrem kleinen Beschleunigungen nicht mehr gelte. Aus der MOND-Hypothese wiederum geht auch die Tensor-Vektor-Skalar-Gravitationstheorie hervor.

Einzelnachweise

  1. Klaas S. de Boer. Dunkle Materie. Weshalb? Wieviel? Wo?. www.astro.uni-bonn.de. Abgerufen am 15. April 2009.
  2. J.H. Oort, Bull. Astr. Inst. Neth. VI, (1932) 249.
  3. D. Clowe u. a.: A Direct Empirical Proof of the Existence of Dark Matter. In: The Astrophysical Journal. 648, 2006, S. L109-L113 (doi:10.1086/508162).  ISSN 0004-637x

Siehe auch

Literatur

  • David B. Cline: Die Suche nach Dunkler Materie. In: Spektrum der Wissenschaft. Heidelberg 10,2003,5 (Okt.), S.44–51. ISSN 0170-2971
  • Wolfgang Rau: Auf der Suche nach der Dunklen Materie. in: Sterne und Weltraum. Heidelberg 44.2005,1, S.32–42. ISSN 0039-1263
  • James Trefil: Fünf Gründe, warum es die Welt nicht geben kann. Rowohlt, Reinbek 1997. ISBN 3-499-19313-2
  • Dan Hooper: Dunkle Materie – die kosmische Energielücke. Spektrum Akad. Verl., Heidelberg 2009. ISBN 3-8274-2030-X
  • Ken Freeman, Geoff McNamara: In search of dark matter. Springer, Berlin 2006. ISBN 0-387-27616-5
  • Hans V. Klapdor-Kleingrothaus u.a.: Dark matter in astro- and particle physics. Springer, Berlin 2005. ISBN 3-540-26372-1
  • David B.Cline: Sources and detection of dark matter and dark energy in the universe. Springer, Berlin 2001. ISBN 3-540-41216-6

Weblinks


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