Karl A. Wittfogel

Karl A. Wittfogel

Karl August Wittfogel (* 6. September 1896 in Woltersdorf, Landkreis Lüchow-Dannenberg; † 25. Mai 1988 in New York, USA) war ein deutscher Soziologe und Sinologe.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Wittfogel besuchte das Johanneum Lüneburg in Lüneburg (Niedersachsen). Dort legte er 1914 das Abitur ab.

Schon während des Studiums betätigte sich Wittfogel aktiv in der kommunistischen Arbeiterbewegung und verfasste in dieser Zeit theoretische Schriften und politische Theaterstücke. Ab 1925 war er Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und promovierte 1930 mit einer sinologischen (chinakundlichen) Arbeit. Wittfogel gehörte der Frankfurter Schule an.

Im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule floh Wittfogel nicht vor den Nazis aus Deutschland, sondern blieb als einziger zurück. 1933 wurde er verhaftet und in das Emslandlager gebracht. 1934 emigrierte er schließlich in die USA. 1939 brach Wittfogel mit der KPD. Er unternahm mehrere Reisen nach Asien (1936 bis 1939 zum Beispiel in die Republik China), und war von 1947 bis 1966 Professor für chinesische Geschichte an der University of Washington in Seattle.

In der Zeit des Kalten Krieges war Wittfogel überzeugter Antikommunist. Im August 1951 denunzierte er vor dem Senats-Unterausschuss für Innere Sicherheit (McCarran-Ausschuss[1]) den kanadischen Uno-Chefdelegierten und Botschafter Egerton Herbert Norman. Norman beging auf Grund der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen 1957 in Kairo Selbstmord. „Der Selbstmord Normans“, kommentierte The New York Times seinerzeit, „hat die amerikanische Regierung und ihre Mitglieder mit Schande bedeckt.“ Wittfogel bereute sein Vorgehen später zutiefst.[2]

Werk

Mit seinen Arbeiten über die orientalischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse versuchte Wittfogel einerseits, die analytischen Ansätze von Karl Marx und Max Weber weiterzuführen und andererseits eine Grundlage zur Erklärung und Kritik der politischen Geschichte der Sowjetunion (Stalinismus) und der Volksrepublik Chinas darzustellen.

In dem Buch Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1924) will Wittfogel nicht nur die Entwicklung der Gesellschaft aufzeigen, sondern auch zeigen, dass die Gesellschaft sich zwangsläufig zu einem inneren Marxismus hinbewegen wird. Eigentlich war dieses Werk in drei Bänden geplant, der erste Band Urkommunismus und Feudalismus (1922), der eben Urkommunismus und Ausprägungen des Feudalismus behandelt, ist auch als kleine selbstständige Schrift auf dem Buchmarkt erschienen. Im zweiten Band wendet sich Wittfogel der politischen Ökonomie zu, die er grundsätzlich marxistisch analysiert. Eigentlich war auch ein dritter Band geplant, der den modernen Hochkapitalismus abhandelt, der aber nie erschienen ist.

In seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931) entwickelt Wittfogel die Theorie der hydraulischen Gesellschaft. Kurz gefasst besagt seine Theorie: Die Regulierung und Verteilung der ungünstig verteilten Wasservorkommen ist für die Menschen schon seit Jahrtausenden eine Herausforderung. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war China im Bau von Deichen, Transportkanälen und Bewässerungssystemen dem Westen weit überlegen. Diese Aufgaben erforderten die zentralstaatlich gelenkte Realisierung solcher Großprojekte und der Erhalt der Wasserbauten sowie die davon abhängige bürokratische Organisation mit massenhafter Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften.

Wittfogel setzte (in seiner post-marxistischen Schaffensphase) dem monolinearen, deterministischen Geschichtsmodell des Marxismus (das sich mit quasi naturgesetzlicher Notwendigkeit in eine bestimmte Richtung entwickelt) das Konzept einer mehrlinigen geschichtlichen Entwicklung entgegen, in dem das Freiheitsmoment und die Verantwortung des Individuums eine entscheidende Rolle spielen.

Im Jahre 1957, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, veröffentlichte Karl August Wittfogel, ein Experte für Bewässerungszivilisationen, sein Hauptwerk Oriental Despotism (dt. „Die Orientalische Despotie - Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht“, Köln, Berlin 1962). Wittfogel, der durch Aufenthalte in deutschen Konzentrationslagern die brutale Gewalt der totalitären Diktatur am eigenen Leib erlebt hatte, war auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigriert, wo er sein magnum opus verfasste, das er als wissenschaftlichen Beitrag im ideologischen Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus verstand. Im Bolschewismus der Sowjetunion sah Wittfogel den modernen Nachfolger der zaristischen Despotie. Russland sei durch die Jahrhunderte lange Mongolenherrschaft asiatisiert worden und habe die in Ostasien entstandenen despotischen Strukturen adaptiert.

In seinem monumentalen Hauptwerk postuliert Wittfogel, dass die alten orientalischen Autokratien, die sich auf der Basis künstlicher Bewässerungssysteme an den großen Strömen des Euphrat, Jangtse, Indus und Nil entwickelten und heute als die zivilisatorischen Wiegen der Menschheit gelten, zu ein- und demselben Gesellschafts- und Herrschaftstypus gehören, der hydraulischen Gesellschaft (beziehungsweise orientalischen Despotie), die sich durch Transfer ihrer Strukturelemente auch in nicht-aride Regionen (Gebiete ohne künstliche Bewässerung) wie zum Beispiel Russland ausbreitete. Die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen dieses Systems hatten nach Wittfogel in den Kulturen des Orients über Jahrtausende hin fast unverändert Bestand und waren seit den Anfängen der Zivilisationen in Asien und im Vorderen Orient bis in die Neuzeit anzutreffen.

Er beschreibt den Typus der Orientalischen Despotie als eine zentralistische Staatsform, deren wirtschaftliche Basis groß dimensionierte, von den Herrschern errichtete und kontrollierte Bewässerungssysteme sind. Je intensiver auf der Seite des Bewässerungsbaus der Arbeitsprozess wird, umso mehr schrumpft die zur Reproduktion der unmittelbaren Produzenten notwendige Bodenfläche zusammen und umso unrentabler wird die Anwendung von Arbeitstieren und entwickelten Arbeitsgeräten.“ Diese Intensivierung erklärt, warum in Bewässerungsgebieten ein sehr ertragreicher Ackerbau möglich ist. Jedoch können diese hohen Erträge nur durch den Bau großer Bewässerungssysteme erreicht werden. Der Bau der zum Teil gigantischen Bewässerungsanlagen und Staudämme erfordert laut Wittfogel die Organisationskraft eines zentralistisch strukturierten Staates mit einem Alleinherrscher an der Spitze, der über die Macht und Ressourcen verfügt, große Arbeiterheere zu dirigieren. Wittfogel, der diesen Herrschaftstypus am Beispiel Chinas konzipierte (in der Tradition Max Webers, der in seiner Herrschaftstypologie den Typus sultanistische Herrschaft ebenfalls am chinesischen Kaiserreich definiert hatte), beschreibt die Orientalische Despotie als ein autokratisches System, in welchem der Despot, gestützt auf eine willfährige, hierarchisch organisierte Bürokratie seine totale Herrschaft ausübt, wobei er systematisch Repression und Terror als Herrschaftsinstrumente einsetzt. In diesem Regime gibt es keine wirksamen konstitutionellen Schranken oder gesellschaftlichen Gegengewichte (zum Beispiel eine Feudalaristokratie), welche die Macht des Alleinherrschers begrenzt. Der Despot verstärkt und zementiert seine Machtposition, indem er sich die Symbole der Religion aneignet und die religiöse mit der staatlichen Autorität verbindet. Diese systemische Machtzusammenballung impliziert jedoch stets die Gefahr der Entartung zur Tyrannis.

Wittfogels Theorie der hydraulischen Despotie wurde bald heftig kritisiert, so vom Historiker Arnold Toynbee, der Wittfogel vorwarf, er habe den von den alten Griechen erfundenen Propagandamythos vom „guten Europa“ und „bösen Asien“ wiederbelebt. Die Schwäche von Wittfogel liege vor allem darin, dass ihm nicht gelinge, alle orientalischen Großreiche der Vergangenheit angemessen zu beschreiben. Wenn auch manche seiner Thesen der Kritik standhielten, so wurden einige seiner Hauptthesen durch die Forschung widerlegt, zum Beispiel die These von der Monokausalität des hydraulischen Faktors für zentralistische Staatsformierung, die These von Terror und Gewaltherrschaft als konstitutive Elemente „hydraulischer“ Regime, die These von der Instrumentalisierung der Religion durch die Herrscher, sowie die These vom „konsumtiven Optimum“ orientalische Herrscher und der Ausbeutung des Volkes.

Wittfogels Fehlperzeptionen beruhten auf der Verabsolutierung struktureller (systemisch-institutioneller) Faktoren bei gleichzeitiger Ignorierung kultureller Determinanten als politisch relevante Elemente, wodurch ihm zum Beispiel die machtbeschränkende Wirksamkeit religiös-ethischer Normen in orientalischen Gesellschaften entging (zum Beispiel die konfuzianischen Vorstellungen von gerechter Herrschaft, „harmonischer Gesellschaft“ und dem „Mandat des Himmels“). Ebenso übersah er die aus der Tradition erwachsenden machtbegrenzenden Faktoren wie das politisch einflussreiche Vorbild exemplarischer Könige der Vergangenheit, die zum Beispiel in Sri Lanka einen von buddhistischer Ethik geprägten Wohlfahrtsstaat errichteten. So erwies sich Wittfogels utilitaristischer Ansatz mit der ausschließlichen Verwendung zweckrationaler Analysekategorien insbesondere für die adäquate Beschreibung theravadha-buddhistischer Monarchien in Südostasien als unzureichend.

Auch wenn große Teile seiner Theorie heute als widerlegt gelten, so war Wittfogels Einfluss in Zeiten des Kalten Krieges außerordentlich. Konzipiert als ideologisches Gegengewicht zur Theorie des Marxismus-Leninismus erschien seine Theorie von der „Orientalischen Despotie“ als geistiges Bollwerk gegen den Totalitarismus sowjetisch-bolschewistischer Prägung. Eine ganze Nachkriegs-Forschergeneration wurde von ihm maßgeblich geprägt, so zum Beispiel auch Samuel Huntington, der sich in seinem Werk Kampf der Kulturen ausdrücklich auf Wittfogel beruft.

Literatur

  • Die hydraulische Gesellschaft und das Gespenst der asiatischen Restauration. Gespräch mit K. A. Wittfogel. In: Mathias Greffrath: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Campus, Frankfurt am Main 1989, S. 263–310. 
  • Literaturvergleich und Kritik zu Wittfogels These einer „hydraulischen Despotie“, wonach die frühen orientalischen Imperien ihre Macht primär auf der Wasserregulierungstechnik gründeten. In: Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie. Campus, Frankfurt am Main 1991, S. 110f. 
  • G. L. Ulmen (Hrsg.): Society and History, Essays in Honor of Karl August Wittfogel. The Hague 1978. 
  • G. L. Ulmen (Hrsg.): The Science of Society, Toward an Understanding of the Life and Work of Karl August Wittfogel. The Hague 1978. 
  • Rolf Mainz: Die Thiniten: Eine altägyptische Eroberungszeit und Karl August Wittfogels Theorie der orientalischen Despotie. Münster/Hamburg 1993. 
  • Reinhart Kössler: Karl August Wittfogel (1896-1988). Orientalische Despotie und mehrlinige Entwicklung. In: Zeitschrift für Entwicklungspolitik. Nr. 21, 2005. 
  • Udo Witzens: Kritik der Thesen Karl A. Wittfogels über den Orientalischen Despotismus. Karlsruhe 2000.  Als online-Ressource: http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/1937/ (Heidelberg 2002)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. W. van Reijen/G. Schmid Noerr, Hgg.: Grand Hotel Abgrund, Hamburg: Junius, 1990; S. 152
  2. Udo Witzens: Kritik der Thesen Karl A. Wittfogels über den hydraulischen Despotismus mit besonderer Berücksichtigung des historischen singhalesischen Theravāda-Buddhismus. Dissertation, Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg, 2000. Seite 27 pdf



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