Kerbstock

Kerbstock
Ishango-Knochen

Ein Kerbholz, (auch Kerbstock, Zählholz Zählstab) ist eine frühzeitliche und mittelalterliche Zählliste; es dient meist dazu, bilaterale Schuldverhältnisse fälschungssicher zu dokumentieren.

Ein geeignetes längliches Brettchen oder ein Stock wird mit Symbolen markiert. Anschließend wird der Stock so längs gespalten, dass Schuldner und Gläubiger je die Hälfte der eingeritzten Markierung auf ihrer Stockhälfte dokumentiert finden. Meist erhielt der Gläubiger die längere Hälfte des Stockes. Wieder zusammengefügt zeigt sich zweifelsfrei, ob die beiden Hälften zusammengehören und ob eine Hälfte nachträglich manipuliert wurde. Auch andere Materialien als Holz z. B. Knochen wurden wohl schon in der Altsteinzeit verwendet.

An einem bestimmten Termin (Zahltag) wurde das Kerbholz präsentiert, mit dem Gegenstück verglichen und zur Zahlung aufgefordert.

Inhaltsverzeichnis

Kulturgeschichte

Von dieser Zähl- und Buchhaltungstechnik leitet sich die noch heute gebräuchliche Redewendung „etwas auf dem Kerbholz haben“ her. Sie bedeutet im eigentlichen Sinne „Schulden haben“ und übertragen soviel wie „sich schuldig gemacht haben“.

Im Mittelalter war der Kerbstock ab dem 10.12. Jahrhundert in einem weitgehend schreibunkundigen und münzarmen Europa gebräuchlich. Der Kerbstock galt bei mittelalterlichen Gerichten als Beweismittel. Noch der Code Napoleon, (1804), erwähnt den Kerbstock als Schuldurkunde in Art. 1333. In den Alpenländern wurde der Kerbstock noch im 20. Jahrhundert – besonders in der Alm- bzw. Alpwirtschaft – verwendet.

Die Herkunft dieser mnemonischen Technik bleibt dunkel. Prähistorische Artefakte, die dem Kerbstock ähneln, waren über 20.000 Jahre vor der Entwicklung von Schrift und Zahl in Gebrauch [1]. Herodot berichtet bereits von geknoteten Schnüren (eine ähnliche Technik, heute noch im Rosenkranz erhalten) und wurde von den Inkas vermutlich (auch) als Buchhaltungssystem verwendet; Plinius der Ältere beschreibt das am besten geeignete Holz für Kerbstöcke, und Marco Polo erwähnt den Gebrauch des Kerbstockes im Kaiserreich China. So genannte Botenstöcke waren in diversen Kulturkreisen bekannt. Einige Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass der gespaltene Kerbstock aus dem Donauraum nach Zentraleuropa kam.

Nicht nur Geldschulden wurden mittels des Kerbstockes festgehalten. In der Land- und Viehwirtschaft diente der Kerbstock dazu, geschuldete Sachleistungen zu dokumentieren (zum Beispiel wieviel Stück Vieh einem Hirten anvertraut wurden); Händlern diente der Kerbstock als Lagerdokument; Grundherren und Gemeinden verwalteten mit Hilfe des Kerbstockes ihre Steuerforderungen; für dörfliche Pflichten wie nächtliche Feuerwachen oder die Kontrolle besonderer Nutzungsrechte (Wasserrechte) wurde der Kerbstock genutzt. Im England des 17. Jahrhunderts zirkulierten die königlichen Kerbstöcke (die Forderungen an die Krone) als „Wertpapiere“ – zum Teil mit deutlichem Abschlag vom Nominalwert.

Bei der Gründung der Bank von England 1696 konnten Kerbstöcke (tallies) des Königs zum Teil als Kapital eingelegt werden. Die Bank von England hat bis 1826 mit Kerbhölzern gearbeitet.

In England war es bis in das 19. Jahrhundert üblich, Steuerquittungen in Form von Kerbhölzern (exchequer tallies) auszustellen. Im Jahr 1834 wurde dieses altertümliche Verfahren durch eine Steuerreform schließlich abgeschafft. Eine gewaltige Zahl von Kerbhölzern war nun überflüssig geworden, und am 16. Oktober 1834 entschloss man sich fahrlässigerweise, diese im Hof des Parlamentsgebäudes Palace of Westminster zu verbrennen, welches daraufhin selbst von den Flammen des Feuers erfasst wurde und größtenteils abbrannte.

Traditionelle Verwendung

  • Rechnungen
  • Schulden aus einem Handel
  • Steuerquittungen ("exchequer tallies")
  • Fangmenge (z. B. Hering) der Fischer-Gemeinschaften (z. B. auf Hiddensee)
  • getrunkene Biere im Gasthaus
  • gewonnene oder verlorene Geldstücke beim Kartenspiel
  • gekaufte Brote beim Bäcker

Im Bergbau wurde in früheren Zeiten die tägliche Förderung eines Bergwerkes und der Verkauf der gewonnenen Bodenschätze mit einem Kerbstock dokumentiert.

Einzelnachweise

  1. http://www.naturalsciences.be/museum/evolution/ishango Ishango Bone]

Siehe auch

Weblinks

Literaturhinweise

  • Michael Chatfield: 'Tally Stick', in: The History of Accounting. An International Encyclopedia, hrsgg. v. Michael Chatfield, Richard Vangermeersch, New York u. London 1996 (Garland reference library of the humanities 1573), S. 575.
  • Thomas Frenz: Kerbholz. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. Aufl., IV 201
  • Axel Grandell: Karvstocken. En förbisedd kulturbärare, with an Engl. summary, Ekenäs 1982.
  • weiterführende Literatur in der Hilfswissenschaftlichen bibliographischen Datensammlung
  • K. Brunner: Kerbhölzer und Kaveln. In: Zeitschrift für Volkskunde. 22.1912, S.337-352.
  • L. Carlen: Zum rechtlichen Gebrauch von Kerbhölzern im 17. Jahrhundert. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde. 13.1991, S.173-177.
  • Richard von Ely: Schatzmeister Heinrichs II, Dialog über das Schatzamt, Lateinisch und Deutsch. eingeleitet, übersetzt und erläutert von Marianne Siegrist. Zürich u. Stuttgart 1963.
  • A. Friedmann: Über Papiergeld und Kerbhözer der Chinesen. In: Numismatische Zeitschrift. Wien 62.1929, S. 69ff.
  • Max Gmür: Schweizerische Bauernmarken und Holzurkunden. Abhandlungen zum schweizerischen Recht. Hrsg. v. Max Gmür. Bern 1917,77.
  • Hilary Jenkinson: Medieval Tallies, Public and Private, Archaeologica or Miscellaneous Tracts. Society of Antiquaries of London, London 74.1924, S.289–351.
  • H. Jenkinson: Exchequer Tallies. in: Archaeologia. Bd 62. Oxford 1911, S.367-380.
  • Ludolf Kuchenbuch. Kerbhölzer in Alteuropa - Zwischen Dorfschmiede und Schatzamt. In: B. Nagy, M. Sebök: ...The Man of Many Devices, Who Wandered Fully Many Ways. Festschrift f. J. Bak. Budapest 1999, S.303-325.
  • A. Wacke, C. Baldus: Kerbhölzer als zivilprozessuale Beweismittel im Usus modernus. Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde. 15.1993, S.369-389.
  • K. Weule: Vom Kerbstock zum Alphabet, Urformen der Schrift. Stuttgart 1915.

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