Kiefergelenksyndrom

Kiefergelenksyndrom

Kraniomandibuläre Dysfunktion (Craniomandibuläre Dysfunktion, CMD) ist ein Überbegriff für strukturelle, funktionelle, biochemische und psychische Fehlregulationen der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion. Diese Fehlregulationen können schmerzhaft sein, müssen es aber nicht. Im engeren Sinne handelt es sich dabei um Schmerzen der Kaumuskulatur („myofaszialer Schmerz“), Verlagerungen der Knorpelscheibe im Kiefergelenk („Diskusverlagerung“) und entzündliche oder degenerative Veränderungen des Kiefergelenks („Arthralgie, Arthritis, Arthrose“).

Inhaltsverzeichnis

Terminologie

In Deutschland hat sich der Begriff Kraniomandibuläre Dysfunktion eingebürgert, ein Sammelname für diverse muskuloskelettale Beschwerden im Craniomandibulärsystem (Kausystem), daneben auch Cranio-Vertebrale Dysfunktion (CVD). In der Schweiz wird der Begriff Myoarthropathie bevorzugt, im englischen Sprachraum Temporomandibular Disorders oder temporo-mandibular-Joint-Disease (TMDs, TMJ). Die alte Bezeichnung Costen-Syndrom ist überholt. Hauptansprechpartner bei diesem Beschwerdebild ist der Zahnarzt, betroffen sind aber viele medizinische Fachrichtungen.

Klassifikationssysteme

Es gibt verschiedene Klassifikationssysteme, wobei international die Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) aus dem Jahre 1992 die größte internationale Verbreitung gefunden haben. Demnach unterscheidet man folgende zwei Bereiche („Achsen“)

Achse I und Achse II; Patient A: starke somatische Beschwerden; Patient B: starke psychische Beschwerden bei geringen somatischen Beschwerden

ACHSE I: Somatische Diagnosen

Bereich I: Schmerzhafte Beschwerden im Bereich der Kaumuskulatur (vor allem Mundöffner- und Mundschließermuskeln)

  • Ia: Myofaszialer Schmerz
  • Ib: Myofaszialer Schmerz mit eingeschränkter Kieferöffnung

Bereich II: Anteriore Verlagerung des Discus articularis

  • IIa: Anteriore Diskusverlagerung mit Reposition bei Kieferöffnung
  • IIb: Anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition bei Kieferöffnung, mit eingeschränkter Kieferöffnung.
  • IIc: Anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition bei Kieferöffnung, ohne eingeschränkte Kieferöffnung.

Bereich III: Arthralgie, aktivierte Arthrose, Arthrose

  • IIIa: Arthralgie
  • IIIb: aktivierte Arthrose vom Kiefergelenk
  • IIIc: Arthrose des Kiefergelenks

ACHSE II: Schmerzbezogene psychosoziale Diagnostik

  • Schmerzbezogene Beeinträchtigungen täglicher Aktivitäten
  • Depressive Verstimmung
  • Unspezifische somatische Symptome

Epidemiologie

Die Häufigkeit der CMD liegt bei etwa 8 % der gesamten Bevölkerung, wobei nur rund 3 % wegen dieser Beschwerden behandlungsbedürftig sind. Im Kleinkindalter sind CMD-Symptome selten anzutreffen, die Häufigkeit steigt aber bis zur Pubertät an. Frauen im gebärfähigen Alter sind wie bei anderen Schmerzerkrankungen deutlich häufiger betroffen als Männer. Nach den Wechseljahren lassen die Beschwerden häufig nach und im Alter ist die CMD relativ selten.

Symptomatik

Eine Vielzahl von Symptomen kann die Diagnose schwierig machen. Häufig schmerzen die Kiefermuskulatur oder die Kiefergelenke beim Kauen. Andere Symptome können sein:

  • Eingeschränkte Kieferöffnung
  • Knacken oder Reiben der Kiefergelenke beim Öffnen oder Schließen der Kiefer
  • Ausstrahlende Schmerzen in Mund, Gesicht, Kopf-, Nacken, Schulter oder Rücken, Hals-Wirbelsäulen-Schulterprobleme, eingeschränkte Kopfdrehung, Kopfschmerzen
  • Plötzlich auftretende Probleme mit der Passung der Zähne aufeinander.
  • Es können aber auch unangenehme Ohrenschmerzen ein Symptom sein.

Pathogenese

Da in den meisten Fällen die Ursachen unklar sind, wird eine multifaktorielle Genese vermutet. Prädisponierende, auslösende und unterhaltende Faktoren umfassen biologische, psychische und soziale Elemente. Anbei sind einige davon aufgelistet, wobei sich immer neue Aspekte in Klinik und Forschung ergeben werden:

Diagnose

Zur Diagnose der CMD wird aktuell folgende Vorgehensweise empfohlen:

  1. Ein ausführliches Arztgespräch mit Einsatz standardisierter Fragebögen.
  2. Eine somatische Untersuchung von Kieferöffnung, Kaumuskulatur und Kiefergelenken (Funktionsstatus).
  3. Eine Röntgenaufnahme des gesamten Kiefers (Panoramaschichtaufnahme) zum Ausschluss zahnärztlicher und kieferchirurgischer Krankheitsursachen.
  4. Einer oder mehrere schmerzpsychologische Filterfragebogen zur Früherkennung von psychosozialen Beeinträchtigungen.

Bei komplexen Krankheitsbildern können aufwändige apparative, radiologische oder psychologische Verfahren in Diagnostik und Therapie Anwendung finden sowie andere Fachrichtungen hinzugezogen werden.

Differentialdiagnostik

Aufgrund einer Vielzahl von Schmerzursachen im Kopfbereich ist bei unklarer Diagnose eine fachübergreifende Diagnostik sinnvoll. Auszuschließen sind Erkrankungen aus den verschiedensten medizinischen Fachgebieten und eine intensive konsiliarische Beurteilung ist dann unerlässlich.

Therapie

Grundgedanke bei der Behandlung von CMD ist eine schonende und reversible Vorgehensweise. Dabei werden wissenschaftlich anerkannte Therapiekonzepte je nach Schweregrad eingesetzt und individuell auf den Patienten abgestimmt.

  1. Eine Aufklärung des Patienten über die Krankheitszusammenhänge und eine korrekte Diagnosestellung ist der erste und wichtigste Schritt für eine positive Beeinflussung des Krankheitsgeschehens. Kiefergelenkknacken führte im Untersuchungszeitraum nach einer Studie mit 454 Patienten nicht zu Schmerzen im Kiefergelenk.[2].
  2. Hinweise zur Selbstbehandlung, wie weiche Nahrung, Dehnübungen, Wärme- oder Kälteanwendungen, Entspannungsübungen oder Stressmanagement, können helfen.
  3. Eine Okklusionsschiene (Aufbissbehelf) wird vom Zahnarzt häufig eingesetzt und kann zu einer Entspannung der Kau- und Kopfmuskulatur sowie zu einer Entlastung der Kiefergelenke führen. Allerdings ist der Nutzen der Okklusionsschiene bei einer CMD-Behandlung wissenschaftlich nicht belegt. Je nach Studie wird die Wirksamkeit belegt oder widerlegt[3].
  4. Physiotherapie können muskuläre Verspannungen reduzieren.
  5. Manchmal sind schmerzlindernde, entzündungshemmende, muskelrelaxierende oder schlaffördernde Medikamente notwendig um eine Chronifizierung des Schmerzgeschehens Einhalt zu gebieten und die Lebensqualität zu verbessern.
  6. Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) können durch eine Entspannung der Muskulatur und eine Reduktion der Schmerzen helfen.
  7. Es wird diskutiert ob Triggerpunkt-Infiltrationen der Muskulatur mit verschiedenen Substanzen sinnvoll sind und dauerhaft Linderung bringen können.
  8. Umfangreiche Zahnsanierungen, kieferorthopädische oder chirurgische Maßnahmen sollten nur bei strengster Indikation Anwendung finden.

Literatur

  • Kares H, Schindler H, Schöttl R: Der etwas andere Kopf- und Gesichtsschmerz. Craniomandibuläre Dysfunktionen CMD., Schlütersche Verlag 2006, ISBN 3-87706-665-8 / 3-87706-887-1
  • Okeson J: Bell´s Orofacial Pains – Clinical Management of Orofacial Pain, Quintessenz Verlag 2005. ISBN 0-86715-439-X
  • Hugger A, Göbel H, Schilgen M (Hrsg.): Gesichts- und Kopfschmerzen aus interdisziplinärer Sicht. Evidenz zur Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie., Springer, Berlin 2006. IX, 277 S. mit 28 Abb. ISBN 3-540-23052-1
  • Dapprich J: Funktionstherapie in der zahnärztlichen Praxis., Quintessenz-Verlag Berlin 2004 ISBN 3-87652-348-6
  • Strub J R, Türp J, Witkowski S, Hürzeler M, Kern M: Curriculum Prothetik, 3. Auflage, Quintessenz Verlag 2005, S. 297ff, ISBN 3-87652-499-7

Quellen

  1. The Journal of the American Dental Association Vol 137, No 11, 1547-1554: RESEARCH Third-molar extraction as a risk factor for temporomandibular disorder (online)
  2. Schmerz, Volume 21, Number 2, Pages 131-138: Reissmann DR, John MT: Ist Kiefergelenkknacken ein Risikofaktor für Schmerzen im Kiefergelenk? (online)
  3. Pain, Volume 83, Issue 3, Pages 549-560: Forssell H, Kalso E, Koskela P, Vehmanen R, Puukka P, Alanen P.: Occlusal treatments in temporomandibular disorders: a qualitative systematic review of randomized controlled trials. (online)

Siehe auch

Weblinks

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