Kontrafaktisch

Kontrafaktisch

Der Begriff Kontrafaktizität (gegen die Fakten) ist ein in der Philosophie und Wissenschaftstheorie verwendeter Begriff zur Kennzeichnung des Gegensatzes zwischen Behauptungen oder Gedankenmodellen und der Realität. Kontrafaktische Aussagen, d.h. solche, die der Wirklichkeit widersprechen, können unter bestimmten Bedingungen auch einfach als „falsch“ klassifiziert werden. Beispielsweise kann die Behauptung, dass mit der Verkleinerung des Ozonlochs die Problematik der Luftverschmutzung gelöst sei, als „kontrafaktisch“ bezeichnet werden.

Kontrafaktische Modelle ignorieren u. U. bewusst einzelne Phänomene der Realität, um strukturelle Aussagen machen zu können.

Kontrafaktische Annahmen werden oft benutzt, um Hypothesen über mögliche Ereignisabläufe aufzustellen. Es wird dabei ein so nicht eingetretenes Ereignis postuliert und die möglichen Folgen diskutiert.

Beispiel: Wie wäre die deutsche Geschichte verlaufen, wenn Kaiser Friedrich nicht schon 1888 an Kehlkopfkrebs gestorben wäre?

Diese Methode der Geschichtsbetrachtung gilt allerdings in der Wissenschaft als nicht seriös.

Als Kontrafaktische Konditionale werden in der Erkenntnistheorie dispositionale Zustände bezeichnet, die als kausale Zusammenhänge in Theorien verwendet werden, z.B. dass Wasser unter sonst gleichen Bedingungen nicht gekocht hätte, wenn es nicht erhitzt worden wäre (Lit.: Baumann, S. 242).

Als kontrafaktisch gilt die Begründung des Sittengesetzes bei Immanuel Kant. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er gezeigt, dass eine Ethik durch Naturgesetze nicht begründet werden kann. Dennoch ging er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten davon aus, dass der Mensch die Freiheit zu ethischen Entscheidungen besitzt. Dieses Postulat ist eine kontrafaktische Voraussetzung seiner Ethik.

Kontrafaktisch ist auch die Begründung von Ludwig Wittgenstein für sein Privatspracheargument. Er vertrat die Auffassung, dass die Bedeutung der Sprache nur durch ihren Gebrauch, das heißt intersubjektiv, entsteht. Eine von einer isolierten Einzelperson, die über keinen kommunikativen Zugang zu anderen Personen verfügt, entwickelte Privatsprache hielt er nicht für möglich, weil Sprache auf Regeln beruht, die nur intersubjektiv entstehen können.

Ein Beispiel für Kontrafaktizität ist auch die „ideale Sprechsituation“ in der Diskurstheorie der Wahrheit von Jürgen Habermas (Lit.: Mittelstraß, Bd. 2, S. 461), die auch in dessen Theorie des kommunikativen Handelns eine zentrale Rolle spielt.

Ein weiterer Zusammenhang für die Verwendung von Kontrafaktizität ist die Definition dispositioneller Eigenschaften. So diskutierte Gilbert Ryle den Begriff der Wahrheit in Bezug auf dispositionale Eigenschaften, die sich in (möglicherweise) kontrafaktischen Konditionalsätzen darstellen. Dass die Realität solcher Eigenschaften, z.B. der Wasserlöslichkeit des Zuckers, sich erst bei ihrem Eintreten ergibt, wurde schon bei Aristoteles thematisiert.

Literatur

  • Ludwik Fleck: Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
  • Peter Baumann: Erkenntnistheorie. Metzler, Stuttgart/Weimar 2006. ISBN 3-476-02134-3
  • Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Metzler/Pöschel, Stuttgart 2005. ISBN 3-476-02108-4

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