Kracauer

Kracauer

Siegfried Kracauer (* 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main; † 26. November 1966 in New York) war ein deutscher Journalist, Publizist, Schriftsteller, Soziologe und Filmwissenschaftler, Begründer der Filmsoziologie.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kindheit und Jugend

Siegfried Kracauer entstammt einem kleinbürgerlichen jüdischen Elternhaus. Sein Vater, Adolf Kracauer (geb. 16. März 1849 in Sagan), hatte zu Gunsten seines jüngeren Bruders auf ein Studium verzichtet und einen praktischen Beruf ergriffen. Als Handlungsreisender war er für Textilfirmen unterwegs. Um den engen Verhältnissen daheim zu entkommen, verbringt Kracauer, der schüchtern war und unter seinem Stottern litt, seine Kindheit und Jugend im Haus seines Onkels Isidor und seiner Tante Hedwig Kracauer, geb. Oppenheim. Isidor war Geschichtslehrer am Philanthropin, der Realschule der Israelitischen Gemeinde Frankfurts und leitete mit seiner Frau seit 1885 auch die Julius und Amalie Flersheim'sche Stiftung, eine Anstalt zur Erziehung verwaister jüdischer Knaben. Isidor Kracauers zweibändige Geschichte der Juden in Frankfurt am Main 1150-1824 (Frankfurt a.M. 1925-27) ist noch heute ein Standardwerk. Im Hause der Kracauers herrschte ein reges soziales Leben, denn die Tante scharte einen Kreis von Freunden und Bekannten aus dem Frankfurter Bürgertum um sich.

Ausbildung und Frühwerk

Zwischen 1907 und 1913 studierte Kracauer in Darmstadt, Berlin und München Architektur, daneben besuchte er Vorlesungen über Philosophie und Soziologie. 1914 promovierte er zum Doktor der Ingenieurswissenschaften mit einer Arbeit über preußische Schmiedekunst und arbeitete als Architekt in Osnabrück, München und Berlin bis 1920.

Von 1922 bis 1933 arbeitete er als leitender Film- und Literaturredakteur in der Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung zunächst in Frankfurt, ab 1930 in Berlin, wo er u. a. mit Walter Benjamin und Ernst Bloch zusammenarbeitete. Zwischen 1923 und 1925 verfasste er einen Essay mit dem Titel Der Detektiv-Roman, in dem er sich mit einem Alltagsphänomen der modernen bürgerlichen Gesellschaft (Rosenberg 1992) beschäftigte.

Publizistische und journalistische Tätigkeit

In der Folgezeit beschäftigte sich Kracauer in Form von kleinen Abhandlungen intensiv mit den Oberflächenerscheinungen des modernen Alltagslebens wie Revue, Zirkus, Sportveranstaltungen, Rummelplätzen, Fotografien, Filmen, Werbung, Stadtlandschaften und Interieurs, Tourismus, Tanz usw. Den theoretischen Hintergrund seiner Methode formulierte Kracauer programmatisch in einem seiner Schlüsselwerke, dem Ornament der Masse (1927). Die Aufsätze zeigen eine starke Beschäftigung mit Max Weber und seinem Lehrer Georg Simmel.

Kracauer korrespondierte u.a. mit dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch und begann unter dessen Einfluss, sich ab etwa 1926 für die Schriften Karl Marx' zu interessieren, und auch seine eigenen Schriften spiegeln eine zunehmende Kapitalismuskritik.

1928 erscheint, vorerst anonym, sein Roman Ginster. Spätere Ausgaben z. B. im Suhrkamp Verlag 1972 werden unter seinem Namen veröffentlicht. In Ginster beschreibt Kracauer das Leben der gleichnamigen Hauptfigur zur Zeit des 1. Weltkriegs in Deutschland.

1930 veröffentlichte Kracauer sein zweites größeres Werk, den Essay Die Angestellten; er übernimmt die Feuilleton-Redaktion in Berlin und heiratet Lili Ehrenreich. Aufgrund seiner zunehmend kritischen Haltung nehmen die Differenzen mit der Chefredaktion der Frankfurter Zeitung zu. In dieser Zeit nehmen Filmkritiken immer größeren Raum im Schaffen Kracauers ein.

Pariser "Exil"

Nachdem Kracauer am 2. März 1933 einen Artikel über den Reichstagsbrand veröffentlicht hatte, wurde er von der Leitung der Frankfurter Zeitung in der 'Voraussicht', dass man sich durch ihn kompromittieren könnte, als Vertretung des Korrespondenten Friedrich Sieburg nach Paris abgeschoben. Kracauer schrieb dort noch ein paar Artikel über Film und Literatur, bevor man ihm dann endgültig den Laufpass gab. Bevor er sich als Journalist in anderen Zeitungen etablieren konnte, begann er 1934 mit der Arbeit an seiner Offenbach-Biographie. Ab 1936 arbeitete er jedoch wieder mehr für Zeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung und die Basler National Zeitung. 1937 erschien Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Kracauer bemühte sich während seines Parisaufenthalts um ein Immigrationsvisum für die USA, wofür er eine dortige Einkommensquelle nachzuweisen hatte. Die Wirtschaftskrise in den USA torpedierte die Festanstellung im Rahmen eines Projektes über die Geschichte des Films. 1939 wurde Kracauer in Frankreich interniert, ein Jahr später gelang es ihm jedoch, über Marseille und Lissabon in die USA auszureisen.

Tätigkeit als Soziologe und Filmwissenschaftler in den USA

Von 1941 bis 1943 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum of Modern Art in New York. Gleichzeitig arbeitete er, unterstützt durch Stipendien der Rockefeller- und der Guggenheim-Stiftung, an seiner Geschichte des deutschen Films.

Im amerikanischen Exil arbeitete Kracauer bis 1959, basierend auf seinen Erfahrungen mit dem Film der 20er und 30er Jahre, an From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film (1947 erschienen) und an seiner Filmtheorie (Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, 1960).

In den letzten Jahren seines Lebens arbeitete Kracauer überwiegend als Sozialwissenschaftler für verschiedene Institute, darunter in New York als Forschungsdirektor für Angewandte Sozialwissenschaften an der Columbia University. Er starb 1966 in New York an den Folgen einer Lungenentzündung.

Werk und Bedeutung

Kracauer analysierte und kritisierte die Phänomene der modernen Massenkultur. Er verwendete dafür die von ihm entwickelte Methode der Aufrichtung des Allgemeinen, welches wirklich im Raum des Konkreten vorkommt. Dieser Ansatz ist von der Idee her induktiv und enthält phänomenologische Elemente.

Obenflächenerscheinungen sind für Kracauer all die Beobachtungen, die er im Alltagsleben seiner Mitmenschen anstellen und in Form literarischer Miniaturen festhalten kann; sie unterscheiden sich von den Angaben der Epoche über sich selbst wie Statistiken, Kommentare oder politische Debatten, vor allem dadurch, dass sie weniger kontrolliert, weniger organisiert, weniger intendiert (Mülder 1985) sind.

Sein spezielles Interesse galt insbesondere bis dahin wenig beachteten kulturellen Bereichen wie dem Kino, dem Sport, der Operette, dem Zirkus und dem Großstadtleben. Berühmt wurde er durch seine Filmkritiken und seine Filmtheorie; für Kracauer stellt der Film einen Spiegel gesellschaftlicher Zustände und Wunschvorstellungen dar. Problematisch ist es, wie er in From Caligari to Hitler die Geschichte des frühen deutschen Films ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der späteren Machtergreifung Hitlers betrachtet. So vergleicht er die Schüler, die den lächerlich gewordenen Lehrer in Der blaue Engel (1930) malträtieren, mit der späteren Hitler-Jugend.

Theodor W. Adorno, seit seiner Jugend mit Kracauer befreundet, sah in ihm einen der wichtigsten Anreger für seine eigenen kulturphilosophischen Arbeiten.

Auch Kurt Tucholsky schätzte Kracauers Schriften als erstklassiges wissenschaftliches Erzeugnis: Statt dessen lest lieber die gerade aufsehenerregende Serie Kracauers in der "Frankfurter Zeitung": "Die Angestellten", ein breit angelegter Versuch einer wahrhaft modernen Soziologie. Ein Schritt in unbebautes Neuland, von bestem Instinkt geleitet (Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch).

Kracauers Schriften wurden zu einem wichtigen Bezugspunkt für die 1957 gegründete Filmzeitschrift Filmkritik.

Schriften

Die Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag ist noch nicht abgeschlossen.

Einzelausgaben

  • Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland zuerst 1930, wieder suhrkamp TB 13, Neuausgabe Frankfurt 2004
  • Das Ornament der Masse. Essays Nachwort Karsten Witte, ebd. Nr. 371, Frankfurt 1977
  • Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat Suhrkamp, Frankfurt ISBN 3-518-27897-5
  • Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films Übers. Ruth Baumgarten & Karsten Witte. Suhrkamp TB (Reihe: Wissenschaft, 479) Frankfurt 1974 & 2005 ISBN 3-518-28079-1 häufige Auflagen (zuerst: Rowohlt, Reinbek 1958; Übers. Friedrich Walter)
  • Theorie des Films - Die Errettung der äusseren Wirklichkeit Suhrkamp, Frankfurt 1964 ISBN 3-518-28146-1
  • Geschichte - vor den letzten Dingen ISBN 3-518-57247-4
  • Über die Freundschaft ISBN 3-518-01302-5

Briefwechsel

  • In steter Freundschaft. Briefwechsel Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer 1922-1966 Einleitung von Martin Jay, Hg. Jansen, Peter E. & Schmidt, Christian. Zu Klampen, Springe 2003 ISBN 3-934920-27-6
  • Siegfried Kracauer & Erwin Panofsky: Briefwechsel 1941-1966 Mit einem Anhang: S. K.: Under the spell of the living Warburg tradition Hg. Volker Breidecker. Akademie, Berlin ISBN 3-05-002765-7

Literatur

  • Gertrud Koch, Kracauer zur Einführung, Hamburg: Junius 1996
  • jour fixe initiative berlin (Hg.): Fluchtlinien des Exils, ISBN 3-89771-431-0
  • Christoph Brecht, Ines Steiner, Im Reich der Schatten: Siegfried Kracauers "From Caligari to Hitler", ISBN 3-933679-93-1.
  • Dokumentarfilm SFB 1986, Mit dem Blick für das Sichtbare - Siegfried Kracauer. Von Rainer K.G. Ott; Mitarbeit Ralf-J. Egert.
  • Momme Brodersen, Siegfried Kracauer, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2004, ISBN 3-499-50510-X
  • Schmige, Hartmann (1977) Eisenstein, Bazin, Kracauer. Zur Theorie der Filmmontage. Hamburg: Medienladen
  • Heide Schlüpmann, "Ein Detektiv des Kinos: Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie". Basel/ Frankfurt a.M: Stroemfeld 1998
  • Errichiello/Zschiesche, "Die Angestellten im 21. Jahrhundert", Moderne Heimat Verlag, Hamburg 2005
  • Martin Ludwig Hofmann/Tobias F. Korta: Siegfried Kracauer - Fragmente einer Archäologie der Moderne, Baden-Baden: Pro Universitate 1997, ISBN 3-932490-16-9
  • Levin, Thomas Y.: Siegfried Kracauer - Eine Bibliographie seiner Schriften. Marbach/Neckar, Deutsche Schillergesellschaft 1989

Weblinks


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