Kunst des Handelns

Kunst des Handelns

Michel de Certeau S.J. (* 17. Mai 1925 in Chambéry, Savoyen; † 9. Januar 1986 in Paris) war ein französischer Jesuit, Soziologe, Historiker und Kulturphilosoph.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Michel de Certeau wurde 1925 im französischen Chambéry geboren. Nach einem Studium der Altphilologie und der Philosophie an den Universitäten von Grenoble, Lyon und Paris ging er, nach einem Zwischenaufenthalt bei den Sulpizianern, ins Priesterseminar in Lyon, wo er 1950 in den Jesuitenorden eintrat - ursprünglich mit der Absicht missionarischer Tätigkeit in China - und 1956 die Weihen empfing. Im selben Jahr wurde er zum Mitgründer der Zeitschrift Christus, der er ein ganzes Leben lang verbunden blieb. 1960 promovierte er an der Pariser Sorbonne in der Theologie mit einer Dissertation über die Mystik des Pierre Favre, einem Landsmann aus Savoyen und einem der ersten Begleiter des Ignatius von Loyola. Stark von Sigmund Freud und Jacques Lacan beeindruckt, wurde er Gründungsmitglied der École Freudienne, einer losen Vereinigung französischer Psychoanalytiker. Hinzu trat eine intensive Auseinandersetzung mit Maurice Merleau-Ponty und Algirdas Julien Greimas. Zum ersten Mal ins Licht der Öffentlichkeit trat er mit einem Artikel über die Ereignisse des Pariser Mai '68 in der Zeitschrift Études ("En mai 68, on a pris la parole comme on a pris la Bastille en 1789.") Seine Forschungsarbeiten schlossen einstweilen mit der Herausgabe der Werke von Jean-Joseph Surin, einem anderen jesuitischen Mystiker des 19. Jahrhunderts.

Verschiedene Lehraufträge führten ihn, neben Paris, wo er am Institut catholique lehrte, nach Genf und San Diego. Während der 70er und 80er publizierte er vor allem über die Geschichte der Mystik, die Phänomenologie und die Psychoanalyse.

Werk

De Certeaus bekanntestes und einflussreichstes Werk ist die Kunst des Handelns, eine soziologische Theorie des Alltagslebens und des Verbraucherverhaltens. Nach Certeau unterscheidet sich der Alltag wesentlich von anderen Bereichen des Lebens, weil es fast gänzlich unbewusst und dabei vollkommen repetitiv abläuft. Zu einer zentralen Denkfigur wird dabei das 'aktive Konsumieren', "eine andere Produktion, die als Konsum bezeichnet wird" (de Certeau). Der Konsument ist nicht nur passiver Abnehmer von Produkten, sondern selbst auch Produzent: durch die Auswahl der Produkte, die er trifft, "bastelt" er an seiner Identität und Lebenswelt weiter.

De Certeau betreibt dabei kein Studium der 'Populärkultur', sondern der grundlegenden Techniken, "Tricks, Finten und Listen von Verbrauchern: Gehen, Reisen, Erzählen, Sprechen, Schreiben, Denken, Lesen, Machen u.a.", die eine solche Populärkultur erst etablieren. Obwohl das methodische Vorgehen an die Diskursanalyse Michel Foucaults angelehnt ist, interessiert sich de Certeau weniger für die machtsubversiven Möglichkeiten dieser Praktiken, sondern für ihren identitätspolitischen Gehalt. Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik: Strategie ist nach Certeau "eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt ... von einer 'Umgebung' abgelöst werden kann." Taktik ist demgegenüber "ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt." Strategie ist ein 'expansives' Kalkül, das auf die immer weiter fortschreitende Kontrolle von Raum und Zeit ausgerichtet ist. Währenddessen müssen Taktiken immer mit einer bereits vorgegebenen Raum- und Zeitordnung vorlieb nehmen und deren jeweilige Lücken, Unwägbarkeiten und Inkonsistenzen auszumünzen verstehen.

Das Schreiben der Geschichte, so der Titel eines Sammelbandes von Aufsätzen zur Geschichtsschreibung, versteht de Certeau als ein stellvertretendes Begräbnisritual. Die Toten bleiben zwar Tote in ihren Gräbern, werden aber durch die Geschichtsschreibung zu ihrer Ruhe geleitet und die Gesellschaft befreit sich durch diesen Akt vom Wahn der unbestatteten Toten. Er lehnt sich dabei an Jules Michelet an, der im 19. Jahrhundert über seine Tätigkeit als Geschichtsschreiber bemerkte, er ginge immer wieder und wieder wie ein unermüdlich Reisender zu den Toten. Dabei behandele er sie "gelehrig, nachsichtig und liebevoll".

Siehe auch


Werke

Schriften

  • La Prise de Parole, Paris 1968
  • La Possession de Loudun, Paris 1970 (eine Studie über einen historischen Fall von Besessenheit bei Nonnen)
  • L'Absent de L'Histoire, Paris 1973
  • La Culture au Pluriel, Paris 1974
  • Le Christianisme Eclaté (zusammen mit Jean-Marie Domenach), Paris 1974
  • L'Ecriture de l'Histoire, Paris 1975 (deutsch: Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt am Main u.a. 1991) - In der deutschen Übersetzung wurde der zweite Teil nicht übersetzt
  • Politica e Mistica. A Questioni die Storie Religiosa, Mailand 1975
  • Une Politique de la Langue: La Révolution Française et les Patois, l'enquête de Grégoire (mit Dominique Julia and Jacques Revel), Paris 1975
  • La Réveil Indien en Amérique Latine (mit Yves Materne), Paris 1977
  • L'Invention du Quotidien. Vol. 1, Arts de Faire, Paris 1980 (deutsch: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988, ISBN 3-88396-060-8)
  • Croire. Une pratique de la différence, Urbino 1981
  • L'ordinaire de la communication (mit Luce Giard), Paris 1983
  • La Fable Mystique. Vol. 1, XVIe-XVIIe Siecle, Paris 1982
  • La Faiblesse de Croire (hrsg. v. Luce Giard), Paris 1987
  • Histoire et Psychoanalyse entre Science et Fiction, Paris 1987 (deutsch: Theoretische Fiktionen, Turia & Kant, Wien 1997, 2. neu durchges. u. erw. Auflage Wien 2006)

Herausgebertätigkeit

  • Pierre Favre: Mémorial (übersetzt und kommentiert von de Certeau), Paris 1960
  • Jean-Joseph Surin: Guide spirituel pour la perfection, Paris 1963
  • Jean-Joseph Surin: Correspondance, Paris 1966

Literatur

(deutschsprachig)

  • Daniel Bogner: Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau. Mainz 2002
  • Daniel Bogner: Mystik als Krisenbarometer. Keine christliche Sonderwelt. Durchblicke auf Glauben und Welt nach Michel de Certeau, in: Christ in der Gegenwart 28/29 (2000), S. 229f., S. 237f.
  • Daniel Bogner: Zukunftsfähig oder ortlos? Der religiös-politische Bruch als Ausgangsbedingung für heutiges Christentum nach Michel de Certeau, in: Orientierung 64 (2000), S. 15-20
  • Michel Clévenot: Michel de Certeau 1925-1986, in: Ders.: Prophetie im Angesicht der Katastrophe. Geschichte des Christentums im XX. Jahrhundert. Luzern 1999, S.212-219
  • Georg Eickhoff: Geschichte und Mystik bei Michel de Certeau, in: Stimmen der Zeit, 219. Band, 126. Jahrgang, Heft 4, April 2001, S. 248-260
  • Marian Füssel: Geschichtsschreibung als Wissenschaft vom Anderen: Michel de Certeau S.J., in: Storia della Storiografia 39 (2001), S.17-38
  • Johannes Hoff: Erosion der Gottesrede und christlichen Spiritualität. Antworten von Michel Foucault und Michel de Certeau im Vergleich, in: Orientierung 63 (1999), S.116-119, S.130-132, S.135-137
  • Andreas Mayer: "Schreiben im Zwischenraum. Noch einmal zu Michel de Certeau", in: Historische Anthropologie 11, Heft 2 (2003), S. 271-276
  • Joachim Valentin: Schreiben aufgrund eines Mangels. Zu Leben und Werk von Michel de Certeau SJ, in: Orientierung 11 (1997), 123-129
  • Joachim Valentin: Artikel Certeau, Michel de, in: LThK3, Freiburg 1993ff. Bd. 11 (im Druck).
  • Daniel Weidner: Lesen im Land des Anderen. Schriften von Michel de Certeau, in: Weimarer Beiträge 45 (1999), S.112-120.

Weblinks


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