Lesewut

Lesewut

Unter dem Schlagwort der Lesesucht wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert die Debatte um falsche Lektüre und gefährliche Literatur geführt.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Der Begriff Lesesucht wird zum ersten Mal in Rudolf Heinrich Zobels Briefen über die Erziehung der Frauenzimmer (1773) erwähnt. Als ein Jahr später mit dem Erscheinen des BriefromansDie Leiden des jungen Werthers“ das Wertherfieber losbrach, setzte eine heftige Debatte um den Nutzen und Schaden von Literatur, insbesondere „schöner Literatur“ im Verdacht des Trivialen ein. Es prallten die Ansprüche der Aufklärung auf die Rezeptionshaltung der Empfindsamkeit. 1794 erklärte Johann Gottfried Hoche in seiner Schrift Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und über den Einfluss derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks, die Lesesucht sei „so ansteckend wie das gelbe Fieber“.

Historische Problematik

Ein Anfang des Phänomens ist so schwer bestimmbar wie ein Anfang seiner Kritik. Cervantes trieb mit seinem Roman Don Quijote (1605/13) ein satirisches Spiel mit der Romanversessenheit und Lesesucht des Helden, der über dem Lesen von Ritterromanen allen Kontakt zur Realität verloren hat. Die Preziosität im 17. Jahrhundert, eine Art Lesesucht, die sich noch auf das wohlhabende Bürgertum beschränkte, wurde etwa von Molière als lächerliches Gebaren bloßgestellt. Johann Friedrich Riederers Satyra von den Liebes-Romanen (Nürnberg 1718) erlaubte es, über die mittlerweile in allen Bevölkerungsschichten verbreitete Romanverliebtheit und Lesesucht zu lachen: Kaufmannslehrlinge versteckten Romane zwischen dem Arbeitszeug und lasen, sobald der Lehrer wegsah, das Hauspersonal fand schnell einen in der Runde, der vorlesen konnte, und lauschte, statt zu arbeiten.

Im Zusammenhang mit der Aufwertung des Lesens und der säkularen Bildung im 18. Jahrhundert wandelte sich die Kritik am Lesen von den traditionellen Warnungen vor Vanitas zu einer modernen Medienkritik. Der Müßiggang war nicht mehr grundsätzlich zu verurteilen, daher musste zwischen „Kultur und Bildung“ und einer trivialen Unterhaltung unterschieden werden. Der Tendenz nach wurde nun weniger ein Autoritätsverlust (von Kirche oder weltlicher Herrschaft) beklagt als ein Wirklichkeitsverlust, und das einstige sittlich-religiöse Fehlverhalten wurde zu einem gleichsam medizinischen Phänomen gemacht.

Hauptangriffspunkt der Kritiker des Lesens war die „Vielleserei“ oder „Lesewut“. Im Rahmen der neuen Möglichkeiten eines expandierenden Buchmarkts würde der Leser nach immer mehr Lesematerial verlangen. Das Gelesene werde nicht reflektiert, sondern nur verschlungen und bleibe „unverdaut“ im Geiste des Rezipienten hängen. Es wurde also das Vokabular der Diätetik herangezogen. Resultat sei geistige Schlaffheit, Unfähigkeit zu logischem Denken und Unwille zum Gebrauch des Verstandes. Nur noch Unterhaltung, nicht Nutzen, interessiere den Leser. Der süchtige Leser „blümele“, das heißt er neige zu Stellenlektüre und nehme einen Text nicht als Ganzes wahr. Er verstärke so seine Vorurteile und öffne sich nicht neuen Gedankenfeldern. Durch das Einfühlen in fremde/fiktionale Welten verliere der empfindsame Leser den Sinn für die Realität, welche ihm fad, langweilig, anstrengend vorkäme. Er vernachlässige und vergesse seine Pflichten und werde unfähig zur Sicherung seiner ökonomischen Existenz und der seiner Angehörigen.

Im deutschen Sprachgebiet hatte die Problematik auch eine nationalistische Komponente, weil der Hauptteil der populären Literatur aus Übersetzungen vor allem aus dem Französischen bestand, und sich die deutsche Literatur in jener Zeit zu emanzipieren bemühte. Goethes Werther dehnte den Bannspruch des Trivialen auch auf deutschsprachige Erzeugnisse aus, was in manchen Augen ein Skandalon war.

„Risikogruppen“

Als von der Lesesucht bedroht wurden vor allem Frauen und Jugendliche angesehen, die wankelmütiger seien als die beruflich integrierten Männer. Während Männer eher zu informativer Lektüre griffen wie Zeitungen und Zeitschriften, neigten Frauen und Jugendliche zu „schöner Literatur“ (Belletristik). Gleichzeitig seien diese von ihrem Gemüt her prädestiniert, sich in wahnhaften, unwirklichen Welten zu verlieren.

Zitate

  • Lesesucht, die Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nötiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“
  • „Die Lesesucht unserer Weiber.“
  • „Den höchsten Grad dieser Begierde bezeichnet man durch Lesewut.“
Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 3. Braunschweig, 1809

Literatur

  • Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1988. S. 57–66. (Reichhaltige Quellenangaben)
  • Reinhard Wittmann (Hrsg.): Die Leserevolution. Quellen zur Geschichte des Buchwesens, 10, München 1981. ISBN 3-601-00043-1
  • Günther Erning: Das Lesen und die Lesewut. Bad Heilbrunn 1974.
  • Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. In: Herbert G. Göpfert (Hg.): Buch und Leser. Hamburg 1977, S. 89–112.
  • Reinhard Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts? In: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main 1999, S. 419-454.
  • Joel Weinsheimer: The Fear of Books. In: Alain Morvan (Hg.): La Peur. Lille 1985, S. 153–164.
  • Hasso Spode: Fernseh-Sucht. Ein Beitrag zur Geschichte der Medienkritik, in: E. Barlösius u. a. (Hg.): Distanzierte Verstrickungen, Berlin 1997, S. 29–315.

Siehe auch

Weblinks


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